Summary

This document provides an introduction to cell biology, covering topics such as the characteristics of living organisms, the structure of animal cells, including organelles like mitochondria and the cell membrane. It includes a discussion about membrane structure and function, specifically focusing on the fluid mosaic model and the roles of proteins within the membrane.

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 1 1 Zellbiologie 1.1 Was ist Leben? Die Biologie ist die Lehre von den Lebewesen. Doch was kennzeichnet ein Lebe- wesen, was unterscheidet es von der unbelebten Umwelt? Die Unterschiede bestehen darin...

 1 1 Zellbiologie 1.1 Was ist Leben? Die Biologie ist die Lehre von den Lebewesen. Doch was kennzeichnet ein Lebe- wesen, was unterscheidet es von der unbelebten Umwelt? Die Unterschiede bestehen darin, dass Lebewesen wachsen und sich entwickeln, indem sie körperfremde in körpereigene Substanzen umbauen. Sie können also Energie und Stoffe umsetzen und somit die Voraussetzung für alle Lebensvorgänge schaffen. Zu diesen Lebensvorgängen gehört, dass Lebewesen sich fortpflanzen und auf ihre Umwelt reagieren, also reizbar sind. Weiterhin halten sie ihr inneres Milieu auch bei wechselnden Umweltbedingungen weitgehend konstant. Typisch ist außerdem, dass alle Organismen aus Zellen aufgebaut sind. Die Zelle ist die kleinste lebende Einheit. Diese Zellen gehen immer aus Zellen hervor, so wie Lebewesen nur aus Lebewesen entstehen. 1.2 Die Zelle Da die Zelle die kleinste Funktionseinheit darstellt, gibt es auch Lebewesen, die nur aus einer Zelle bestehen (Einzeller). Andere Organismen setzen sich dagegen aus einer Vielzahl von Zellen zusammen (Mehrzeller); dabei können Zellen spezi- elle Aufgaben übernehmen und sich zu Geweben zusammenschließen. Derart spe- zialisierte Zellen unterscheiden sich oftmals in ihrem Aussehen, dennoch ist ihre Grundausstattung prinzipiell gleich. Im menschlichen Körper findet man etwa 200 verschiedene Zelltypen, von der Keimzelle über die Muskelzelle, die Blutzellen, die Drüsenzellen bis hin zu den Nervenzellen und vielen, vielen mehr. Unterscheiden muss man zwischen Prokaryonten (Bakterien und Archaebakte- rien) und Eukaryonten (Pflanzen, Tiere, Pilze, auch Einzeller). Die prokaryonti- schen Zellen haben im Gegensatz zu den eukaryontischen Zellen keinen Zellkern, keine membranumgebenen Organellen und kein Cytoskelett. Sowohl Prokaryonten als auch Eukaryonten besitzen Ribosomen ( Kap. 1.3.2), allerdings kommen bei Prokaryonten 70S-Ribosomen vor, während es sich bei den Eukaryonten um 80S-Ribosomen handelt. 1.3 Aufbau der tierischen Zelle Tierische Zellen haben zwar einen einheitlichen Grundaufbau, unterscheiden sich aber stark in Form und Gestalt, je nach Vorkommen und Aufgabe, die sie zu erfül- len haben. Lichtmikroskopisch erkennt man den Zellkern, das Kernkörperchen und die Zellmembran, weitere Strukturen wie Mitochondrien, endoplasmatisches Reti- kulum (ER) usw. erschließen sich nur im elektronenmikroskopischen Bild. (Abbil- dung 1.1 gibt eine Übersicht über die Zellstrukturen. Charakteristisch für eukaryontische Zellen ist ihre Kompartimentierung, d. h. die Abgrenzung von verschiedenen Räumen. Diese Kompartimentierung führt zur Ab­­ 2 1 Zellbiologie Ribosomen Kernpore Kernmembran “ glattes” (smooth) Lipidtropfen Mitochondrium Kern Nucleolus endoplasmatisches Retikulum Dictyosom “ raues” (rough) Lysosomen Peroxisomen Plasmamembran Dictyosom Endoplasmatisches Lysosomen Retikulum ( Abb. 1.1: Schema einer tierischen Zelle. trennung von Reaktionsräumen. Auf diese Art und Weise können verschiedene Reat- kionen, die unterschiedliche Bedingungen benötigen, nebeneinander ablaufen. Beispielsweise können Enzyme arbeiten, die saure oder basische pH-Werte benöti- gen. Somit werden in der Zelle Räume mit optimalen Reaktionsbedingungen für einzelne Reaktionen geschaffen, nicht anders als es auch im Chemielabor geschieht. 1.3.1 Die Biomembran Biomembranen bilden eine Abgrenzung der Zelle nach außen und unterteilen sie in ihrem Inneren. Die nur 7–10 nm dicke Zellmembran steuert den Stoffaustausch mit der Umgebung, während die inneren Membranen für eine Kompartimentierung sorgen und so Reaktionsräume schaffen und die innere Oberfläche vergrößern. Im Lichtmikroskop kann man die Zellmembran nur als dünnes unstrukturiertes Häutchen erkennen. Das Elektronenmikroskop offenbart drei Lagen, zwei dunkle, die durch eine hellere Lage getrennt sind. Bestandteile der Membran sind Lipide (Fette) und Proteine (Eiweiße). Kohlenhydrate kommen in deutlich geringerem Umfang vor, sind aber ebenfalls wichtig, insbesondere für die Zell-Zell-Erkennung ( Kap. 8.1). Die Lipide (vor allem handelt es sich um Phospholipide) haben einen hydrophilen (Wasser liebenden) Kopf und einen hydrophoben (Wasser abweisen- den) Schwanz. Die Kopfteile ordnen sich in der Biomembran nebeneinander an und ragen in die wässrige Umgebung. Die Schwanzteile werden vom Wasser abge- schirmt, indem sie sich zueinander wenden. So entsteht eine Lipid-Doppel- 1.3 Aufbau der tierischen Zelle 3 schicht, bei der die hydrophilen Kopfteile die Grenze nach innen und außen dar- stellen ((Abb. 1.2). In diese Lipid-Doppelschicht sind die Proteine eingelagert. Sie durchspannen die gesamte Membran oder ragen nur ein Stück in sie hinein. Andere Proteine sitzen der Membran auf. Kohlenhydrate befinden sich lediglich auf der Außenseite. Biomembranen werden durch hydrophobe Wechselwirkungen zusammengehal- ten; solche Wechselwirkungen sind nur relativ schwach, sodass die Membran kein starres Gebilde ist. Die Lipide und Proteine in ihr können sich um ihre Längsachse und seitwärts bewegen. Relativ selten kommt es auch zu einem Wechsel von der Innen- zur Außenseite und umgekehrt (Flip-Flop-Bewegung). Diese Vorstellung vom Aufbau einer Membran wurde von Singer und Nicolson entwickelt und wird als Flüssig-Mosaik-Modell bezeichnet, da ein Mosaik aus Proteinen sich schwim- mend in einer zähflüssigen Lipid-Doppelschicht bewegt. Grundsätzlich sind alle Biomembranen wie hier beschrieben aufgebaut; sie unterscheiden sich allerdings hinsichtlich des Proteinanteils in ihrer Zusammensetzung. Die Funktionen der Membranproteine sind vielfältig, so sind einige von ihnen für den Stofftransport zuständig, andere besitzen Enzymaktivität. Wieder andere dienen als Rezeptoren und übertragen Signale in die Zelle. Manche Proteine schaf- fen Verbindungen zu benachbarten Zellen. 1.3.2 Zellorganellen Zellorganellen sind funktionelle Untereinheiten der Zelle, die z. T. von einer Mem- bran umschlossen sind und spezielle Funktionen besitzen. Sie sind im Cytoplasma eingebettet, das zu ca. 70 % aus Wasser besteht, zu 15–20 % aus Proteinen und zu 2–3 % aus Lipiden. Außerdem befinden sich im Cytoplasma Mineralsalze, Kohlen- hydrate und Nukleinsäuren. Zellkern Der Zellkern ist in der Regel von runder bis linsenförmiger Gestalt und nimmt etwa 1/10 des Zellvolumens ein. Er ist die Steuer- und Informationszentrale der Zelle. In ihm wird die genetische Information, die DNA, als Original aufbewahrt; nur die Kopie, die RNA, verlässt den Zellkern. Außerdem wird die Proteinsynthese vom Kern aus gesteuert. Der Kern ist von einer doppelten Kernhülle umgeben. Diese beiden Lipid-Dop- pelschichten sind durch einen 20–40 nm breiten Spalt voneinander getrennt. Die äußere Kernmembran geht in die Kanäle des endoplasmatischen Retikulums (siehe unten) über. Um den Austausch von Stoffen zwischen Cytoplasma und Kern- plasma zu gewährleisten, hat die Kernhülle bestimmte Pforten, die Kernporen, die den selektiven Transport von höhermolekularen Stoffen (Nukleinsäuren, Prote- ine) sicherstellen. Diese Kernporen haben eine Weite von 70–100 nm. Kernporen bestehen aus Proteinen, die die äußere und innere Kernmembran durchspannen und in der Mitte eine Öffnung lassen. Kernporen sind allerdings nicht einfach Löcher in der Membran, die wahllos alles hindurchlassen; auch durch sie können nur bestimmte Stoffe in den Kern hinein bzw. aus ihm heraus. Sie sind also selek- tiv durchlässig. 4 1 Zellbiologie außen Kohlenhydratkette hydrophil hydrophob Phospholipid hydrophil innen peripheres integrales Transmembran- Protein Protein protein ( Abb. 1.2: Flüssig-Mosaik-Modell der Biomembran. Das Innere des Kerns ist nicht weiter untergliedert. Seine Form wird jedoch durch Strukturproteine aufrechterhalten. So ist die Kerninnenseite von einer netzförmigen Anordnung von Proteinfasern, der Kernlamina, bedeckt. Die Struk- turproteine sorgen auch dafür, dass die DNA nicht ungeordnet im Kern liegt. Die DNA mit ihren Proteinen befindet sich als Chromatin im Kern. Die langen Chro- matinfäden sind durch ihren DNA-Anteil färbbar und erhielten daher ihren Namen (gr. Chróma = Farbe). Sichtbar wird die Erbsubstanz in Form von Chro- mosomen erst kurz vor der Zellteilung ( Kap. 1.6), wenn das Chromatin sich verdichtet. Außer der DNA findet man im Kern noch die Kernkörperchen (Nucleoli, Sing.: Nucleolus). Meistens besitzt jeder Kern ein Kernkörperchen, manchmal kommen aber auch zwei oder mehrere Nucleoli vor. Dies ist abhängig von der Tier- bzw. Pflanzenart und dem Entwicklungsstadium der Zelle. Kernkörperchen produzieren die Untereinheiten von Ribosomen (siehe unten); diese werden dann aus dem Kern ausgeschleust und im Cytoplasma zu funktionsfähigen Ribosomen zusam- mengesetzt. Die Nucleoli schrumpfen zu Beginn der Mitose ( Kap. 1.6.1) und ver- schwinden dann ganz, um sich nach der Teilung in den neuen Tochterzellen wieder zu bilden. Ribosomen Ribosomen sind die Organellen der Proteinsynthese. Es handelt sich bei den Ribo- somen um kleine Körperchen von 15–30 nm Größe, die aus RNA (40 %) und Prote- inen (60 %) bestehen. Sie besitzen keine Membran. Ribosomen bestehen aus zwei Untereinheiten, einer großen und einer kleinen. Sie besitzen die Fähigkeit zum Selbstaufbau (self-assembly), d. h. wenn die Untereinheiten zusammenkommen, ob in der Zelle oder in einem Reagenzglas, formieren sie sich selbstständig zu Ribosomen. Bei den Eukaryonten findet man 80S-Ribosomen (S steht für das Sedimentationsverhalten in der Ultrazentrifuge, sogenannte Svedberg-Einheit), 1.3 Aufbau der tierischen Zelle 5 die sich aus der größeren 60S-Untereinheit und der kleineren 40S-Untereinheit zusammensetzen. Man unterscheidet freie Ribosomen, die im Cytoplasma verstreut sind und mem- brangebundene Ribosomen, die an der Außenseite des endoplasmatischen Retiku- lums liegen. Die an den membrangebundenen Ribosomen produzierten Proteine werden in Vesikel verpackt an das endoplasmatische Retikulum (siehe unten) wei- tergeleitet. Mitochondrien Mitochondrien werden häufig als die „Kraftwerke“ der Zelle bezeichnet. Allerdings erzeugen sie keine Energie, sondern wandeln die durch die Nahrung aufgenomme- nen energiereichen Verbindungen in eine für die Zelle verwertbare Form, das ATP (Adenosintriphosphat), um. ATP ist sozusagen der Kraftstoff der Zelle wie Ben- zin für den Ottomotor – hier würde man nicht versuchen mit Erdöl zu fahren ( Kap. 2.1). Man findet Mitochondrien in fast allen Eukaryontenzellen. Ihre Anzahl kann allerdings stark variieren. Manche Zellen haben nur ein großes Mito- chondrium, andere haben Hunderte oder gar Tausende dieser „Mini-Kraftwerke“. Besonders viele Mitochondrien findet man in sehr stoffwechselaktiven Zellen, so z. B. in Leber-, Nieren- und Herzmuskelzellen. Oftmals sind die Mitochondrien innerhalb der Zelle direkt am Ort des hohen Energieverbrauchs in besonders großer Zahl versammelt. Ein Beispiel dafür ist das Spermium, bei dem die Mitochondrien um Teile der Geißel gewickelt sind. Daraus ergibt sich auch schon, dass Mitochon- drien nicht einheitlich in der Form sind; meist sind sie aber kugelige bis stäbchen- förmige Organellen mit einer Länge von 1–10 μm. Wie der Zellkern ist auch das Mitochondrium von zwei Membranen umgeben. Jede von ihnen ist eine Lipid-Doppelschicht mit den dort eingelagerten Proteinen. Die äußere dieser Membranen ist glatt, während die innere zahlreiche Einbuchtun- gen besitzt. Diese nach innen gerichteten Falten werden Cristae genannt und vergrößern die innere Oberfläche des Mitochondriums enorm ((Abb. 1.3). Der zwi- schen den beiden Membranen liegende Raum wird als Intermembranraum be­­­ Cristae Matrix Innenmembran Außenmembran Intermembranraum Innenmembran ( Abb. 1.3: Schematische Darstellung eines Mitochondriums. 6 1 Zellbiologie zeichnet und beinhaltet an der Innenmembran die Proteine der Atmungskette ( Kap. 2.3.3), die ATP-Synthase und Transportproteine. Dementsprechend sind die Cristae der Ort der Atmungskette und der ATP-Synthese. Der als Matrix be­­zeichnete Innenraum des Mitochondriums enthält die Enzyme des Kohlenhydrat- und Lipid- stoffwechsels sowie die Mitochondrien-DNA und mitochondriale Ribosomen. Hier findet der Zitronensäurezyklus ( Kap. 2.3.2) statt. Bei den Ribosomen handelt es sich um 70S-Ribosomen, wie sie bei Prokaryonten vorkommen. Das Besondere an Mitochondrien ist, dass sie eine eigene DNA besitzen und sich durch Querteilung vermehren. Sie werden bei der Zellteilung ( Kap. 1.6) zufällig auf die Tochterzellen verteilt. Die Zelle ist nicht in der Lage, Mitochondrien zu bilden. Endoplasmatisches Retikulum (ER) Das endoplasmatische Retikulum (ER) ist ein umfangreiches Membrannetz, das sich labyrinthartig im Cytoplasma ausdehnt. Das ER ist eine Fabrik zur Produktion von Protein- und Lipidbestandteilen; außerdem handelt es sich beim ER um ein „Straßennetz“ für den Transport von neu synthetisierten Proteinen, die ausge- schieden werden sollen, sowie für Proteine innerhalb der Zelle. Das ER ist ein Geflecht von Membranröhren und Säcken, die sich zu Hohlräumen (den Zisternen) erweitern. Durch die ER-Membranen wird das Innere des ER, das ER-Lumen, vom Cytoplasma getrennt. Es entsteht also wiederum ein abgeschlos- senes Kompartiment. Da das ER wie bereits erwähnt in die äußere Kernmembran übergeht, besteht eine Verbindung zwischen dem ER und dem Zwischenraum der beiden Kernmembranen. Man kann zwischen glattem und rauem ER unterscheiden. Das glatte ER ist auf der cytoplasmatischen Seite frei von Ribosomen, während die dem Cytoplasma zugewandte Seite beim rauen ER mit Ribosomen besetzt ist. Funktionell bestehen Unterschiede zwischen den beiden ER-Sorten. Das glatte ER spielt eine Rolle beim Kohlenhydratstoffwechsel und bei der Beseitigung von Giften und Medikamenten. Dabei werden wasserunlösliche Stoffe derart umgebaut, dass sie wasserlöslich werden. Dadurch können sie dann über die Nieren ausgeschieden werden. Weiterhin werden am glatten ER Fettsäuren, Stero- idhormone und Lipide synthetisiert. Viele Zellen enthalten nur wenig glattes ER. Einige spezialisierte Zellen sind allerdings reich an glattem ER. Dabei handelt es sich z. B. um Zellen der Keimdrüsen, die Steroidhormone herstellen, oder um bestimmte Leberzellen. Am rauen ER werden insbesondere Proteine hergestellt. Dazu gehören sowohl Enzyme und Strukturproteine (wie Kollagen) als auch Peptidhormone wie das Insulin. Daher sind sekretorisch sehr aktive Zellen auch reich an rauem ER. Weiterhin dient das raue ER dem Transport von Proteinen innerhalb der Zelle und aus der Zelle heraus. Proteine, die aus der Zelle ausgeschleust werden sollen, werden dazu in Bläschen (sogenannte Vesikel) verpackt, die sich aus dem ER abschnüren. 1.3 Aufbau der tierischen Zelle 7 Dictyosomen und Golgi-Apparat Dictyosomen sind flache, durch Membranen abgegrenzte Hohlräume (Zisternen), die wie Suppenteller übereinander gestapelt sind. Die Gesamtheit aller Dictyoso- men einer Zelle bezeichnet man als Golgi-Apparat. Vier bis zehn solcher Zisternen liegen übereinander, an ihren Seiten bilden sie eine Wulst. Umgeben ist ein Dic- tyosom von zahlreichen Membranbläschen (Vesikel). Dictyosomen findet man besonders in der Nähe des Zellkerns; sehr zahlreich sind sie in Zellen, die Sekrete abgeben, so z. B. in den Zellen der Darmschleimhaut. Man kann bei den Zisternen zwei Pole erkennen, es wird zwischen der cis-Seite (konvexer Teil) und der trans-Seite (konkaver Teil) unterschieden. Die beiden Seiten unterscheiden sich in ihrer Struktur und in ihrer Funktion. Die dünnere Membran der cis-Seite ist dem ER und dem Zellkern zugewandt und nimmt Stoffe auf. Die etwas dickere Membran der trans-Seite zeigt in Richtung Plasmamembran und gibt Stoffe ab. Der Transport von Substanzen vom ER zum Golgi-Apparat erfolgt in Vesikeln. Diese von einer Membran umgebenen Bläschen verschmelzen auf der cis-Seite mit der Membran der Dictyosomen und geben ihren Inhalt in die Zisterne ab. Innerhalb der Zisterne kommt es nun zu einer Modifikation der im ER vorprodu- zierten Stoffe. Die Substanzen durchlaufen die einzelnen Zisternen und werden dabei verändert. Dazu werden die Stoffe immer wieder an den Seiten in Vesikel verpackt, diese schnüren sich ab und gelangen zur Membran der nächsten Zis- terne, mit der sie wiederum verschmelzen, ihr Inhalt wird in die Zisterne ent- leert. Am Ende werden die fertiggestellten Stoffe auf der trans-Seite wiederum in Vesikel verpackt, abgeschnürt und entweder aus der Zelle ausgeschleust (Sekretion) oder innerhalb der Zelle zum internen Verbrauch transportiert. Der bei diesen Vorgängen erlittene Verlust an Membranen wird durch das ER wieder ausgeglichen und außerdem werden Vesikelbestandteile aus der Plasmamembran wieder aufgenommen. Der Golgi-Apparat ist also der zentrale Umschlagplatz für im ER produzierte Substanzen. Hier werden die dort vorproduzierten Stoffe fertiggestellt, gelagert, sortiert und schließlich an ihren Bestimmungsort verschickt. Lysosomen und Peroxisomen Lysosomen sind von einer Membran umgebene Bläschen (Vesikel), die der kont- rollierten Verdauung innerhalb der Zelle dienen. In den Lysosomen ist eine Reihe von verschiedenen Enzymen vorhanden, mit denen Makromoleküle abgebaut wer- den können. Die Enzyme und die Membran der Lysosomen werden vom rauen ER gebildet und in den Golgi-Apparat (siehe oben) geschleust. Auf der trans-Seite der Dictyosomen entstehen dann die sogenannten primären Lysosomen. Durch eine Fusion mit zellfremdem oder zelleigenem Material bilden sich die sekundären Lysosomen. Charakteristisch für Lysosomen ist der niedrige pH-Wert in ihrem Inneren (er liegt bei pH 5), während im Cytoplasma ein pH-Wert von 7,2 herrscht. Erzeugt wird dieser pH-Wert durch Protonenpumpen in der Lysosomenmembran. Das saure Milieu stellt ein Optimum für die Funktion der in den Lysosomen ent- haltenen Enzyme dar. Wird ein Lysosom zerstört, so sind die Enzyme im Cyto- 8 1 Zellbiologie plasma nur wenig aktiv. Erst wenn eine große Zahl von Lysosomen zugrunde geht, kommt es zu einer Selbstverdauung der Zelle. Die Membran der Lysosomen ist durch eine spezielle Zusammensetzung vor der Verdauung durch die Enzyme geschützt. Wenn Lysosomen mit zelleigenem Material verschmelzen, spricht man von Auto- phagosomen. Zelleigenes Material wird verdaut und die Verdauungsprodukte wer- den einer Wiederverwertung in der Zelle zugeführt. Dazu besitzt die Membran der Lysosomen Transportproteine, durch die die Abbauprodukte ins Cytoplasma gelan- gen. Auf diese Art und Weise werden Zellorganellen, wie z. B. überalterte Mitochon- drien recycelt. Unverdauliche Reste verbleiben in den Lysosomen und bilden Resi- dualkörper oder Telolysosomen. Diese können mit der Zellmembran verschmelzen und ihren Inhalt nach außen entleeren. Beim Verschmelzen der Lysosomen mit zellfremdem Material entstehen Hetero- lysosomen. Der Einschluss zellfremden Materials dient zum einen dazu, Nährstoffe in kleinere Bausteine zu spalten und diese der Zelle zur Verfügung zu stellen. Zum anderen werden unverdauliche Fremdkörper von den Lysosomen aufgenommen und so aus dem Verkehr gezogen. Dazu können Schwermetalle gehören, aber auch Viren und Bakterien. Aus diesem Grund sind Leukozyten und Makrophagen reich an Ly­­ sosomen. Lysosomen sind also einerseits Verdauungsorgane der Zelle, andererseits aber auch Recyclingstation und Abfallbeseitiger. Peroxisomen sind spezialisierte Lysosomen. Sie werden auch Microbodies ge­­ nannt. Sie sind ebenfalls von einer einfachen Membran umhüllt und enthalten Oxidasen und Katalasen. Sie können durch β-Oxidation langkettige Fettsäuren zu kleineren Molekülen abbauen. Dazu wird Wasserstoff abgespalten und auf moleku- laren Sauerstoff übertragen. Das bei dieser Reaktion entstehende extrem giftige Wasserstoffperoxid (H2O2) wird von den Peroxisomen selbst wieder vernichtet. Die zur Enzymausstattung der Peroxisomen gehörende Katalase spaltet Wasserstoff- peroxid in Wasser und Sauerstoff. Außerdem sind Peroxisomen u. a. für die Entgif- tung von Phenolen und Ethanol zuständig. Besonders zahlreich sind Peroxisomen in Leber- und Nierenzellen. Lysosomen und Peroxisomen sind weitere Beispiele dafür, wie durch eine Kom- partimentierung Reaktionsräume geschaffen werden, in denen Reaktionen, die für dieZelle als Ganzes schädlich wären, abgeschirmt ablaufen können. Cytoskelett Die bisher genannten Bestandteile einer Zelle schwimmen nicht ungeordnet in dieser herum. Bei ausreichend starker elektronenmikroskopischer Vergrößerung erkennt man ein Netzwerk aus Fasern und Strängen, die aus Proteinen bestehen. Dieses Proteinnetz bildet ein Cytoskelett, das der Zelle ihre äußere Form verleiht und auch im Inneren für Ordnung sorgt. Das Cytoskelett macht die Zelle aber kei- neswegs zu einem statischen Gebilde, in dem es keine Veränderungen gibt. Es ist ein dynamisches System, in dem die an ihm assoziierten Zellorganellen „wandern“ können. Wie auf einem Schienennetz gelangen z. B. Vesikel zu ihrem Bestim- mungsort, beispielsweise vom Golgi-Apparat zur Plasmamembran, um dort nach 1.3 Aufbau der tierischen Zelle 9 außen entleert zu werden. Die Dynamik dieses Systems ist gegeben, weil es rasch auf- und wieder abgebaut werden kann. Dadurch sind Formveränderungen und sogar Bewegungen möglich. Im Wesentlichen besteht das Cytoskelett aus drei verschiedenen Elementen; dies sind die großen Mikrotubuli, die mittelgroßen Intermediärfilamente und die kleinen Mikrofilamente. Mikrotubuli sind Röhren mit einem Durchmesser von ca. 25 nm und einer Länge von 200 nm bis 25 µm. Die Rohrwände bestehen aus dem Protein Tubulin, das aus den Dimeren α- und β-Tubulin besteht. Dieses Dimer ist ein hantelförmiges Mole- kül, das sich in schraubenartigen Windungen aneinanderlegt und so den Mikrotu- bulus bildet. Organellen können an Mikrotubuli entlanggleiten. Außerdem spielen Mikrotubuli bei der Zellteilung ( Kap. 1.6) eine wichtige Rolle. Mikrotubuli gehen in vielen Zellen von einem kernnah gelegenen Centrosom aus, das in tierischen Zellen ein paar Centriolen enthält, die wiederum wichtig für die Zellteilung sind. Cilien und Geißeln ( Kap. 1.3.3) bestehen ebenfalls aus Mikrotubuli. Mikrotubuli nehmen vor allem auf die Zelle einwirkende Druckkräfte auf. Sie werden durch das Gift der Herbstzeitlosen zerstört. Bei Einwirkung dieses Giftes (Colchicin) nimmt die Zelle Kugelform an. Intermediärfilamente sind Faserproteine in Spiralform mit einem Durchmesser von 8–12 nm. Sie werden aus verschiedenen Proteinen gebildet; dazu gehören auch die Keratine. Sie dienen der Formgebung und sorgen für eine Reißfestigkeit der Zelle. Außerdem sind bestimmte Organellen an ihnen befestigt. Die kleinste Struktur des Cytoskeletts stellen die Mikrofilamente mit einem Durchmesser von 5–7 nm dar. Zu ihnen gehören Aktin- und Myosinfilamente, die wichtig für die Muskelkontraktion ( Kap. 4) sind. Außerdem sind sie bei der Be­­ wegung der Amöben unverzichtbar. Zellen, die für den Transport von Substanzen zuständig sind, wie z. B. die Darmschleimhaut, besitzen eine Reihe von Mem­bran­ ausstülpungen, die mit Mikrofilamenten verstärkt sind. Dies ist der Mikrovillisaum, der die Oberfläche der Zelle stark vergrößert. Aktinmoleküle sind globuläre Proteine, die Stränge formen. Jeweils zwei dieser Stränge sind umeinander gewunden. Oftmals befindet sich unterhalb der Plasma- membran ein dreidimensionales Geflecht von Mikrofilamenten, die die Zelle gegen- über Zugkräften stabilisieren. 1.3.3 Cilien und Geißeln Cilien und Geißeln sind von Plasmamembran überzogen und werden im Inneren durch Mikrotubuli gestützt, die in charakteristischer Form angeordnet sind ((Abb. 1.4). Diese Anordnung im sogenannten 9+2-Muster verleiht ihnen ihre Be­­ weglichkeit. Dabei sind zwei in der Mitte liegende Mikrotubuli von neun Doppel- mikrotubuli, die am Rand liegen, umgeben. Diese Dupletts bestehen aus einem A- und einem B-Tubulus. Die beiden zentralen Tubuli sind von einer Scheide umge- ben, mit der die peripheren Tubuli über Radialspeichen in Verbindung stehen. Die neun Doppeltubuli sind über das Protein Dynein mit ihren benachbarten Tubuli verbunden. Zum Erzeugen von Bewegung treten diese sogenannten Dyneinarme an den Nachbartubulus heran und gleiten an ihm entlang. Dabei kommt es zu einer 10 1 Zellbiologie A-Tubulus Dynein B-Tubulus Plasmamembran Duplett zentrale Tubuli Radialspeichen ( Abb. 1.4: Cilium im Querschnitt. Verbiegung des Ciliums bzw. der Geißel. Dieser Vorgang verbraucht ATP, ist also energieabhängig. Cilien oder Wimpern haben einen Durchmesser von etwa 2,5 μm und eine Länge von 2–20 μm. Sie kommen in großer Anzahl auf der Zelloberfläche vor. Bei man- chen Einzellern dienen sie der Fortbewegung (z. B. bei den Wimpertierchen [Cilia- ten]). Außerdem kann durch Cilien Nahrung herbeigestrudelt werden. In manchen Geweben dienen Cilien dazu, Flüssigkeiten zu transportieren, so z. B. zum Schleim- transport in den Bronchien. Geißeln entsprechen im Durchmesser den Cilien, sind aber länger (10–200 μm). Zudem treten Geißeln an einer Zelle meist nur einzeln oder in geringer Zahl auf. Wie die Cilien dienen sie der Fortbewegung bei Einzellern, z. B. bei den Geißeltier- chen (Flagellaten). Doch auch die Spermien bewegen sich mithilfe von Geißeln fort. Unterschiedlich ist bei Cilien und Geißeln auch die Schlagbewegung. Diese ist bei den Geißeln wellenförmig, während sie bei den Cilien einer Ruderbewegung gleicht. 1.3.4 Zellkontakte Zellen bilden im mehrzelligen Organismus Gewebe und Organe. Dazu müssen Kon- takte zwischen den Zellen geknüpft werden. In Epithelien liegen die Zellen zwar nah beieinander, zwischen ihnen verbleibt aber ein ca. 30 nm breiter Interzellular- spalt. Um nun ein Aneinanderhaften und eine Kommunikation zu ermöglichen, gibt es drei unterschiedliche Arten von Zellkontakten: Tight junctions, Desmoso- men und Gap junctions. Tight junctions bilden in bestimmten Epithelien einen dichten Gürtel um die Zellen und werden auch als „Verschlusskontakte“ bezeichnet. Die Membranen be­­ nachbarter Zellen verschmelzen mit ihren äußeren Schichten miteinander und ste- 1.4 Besonderheiten der pflanzlichen Zelle 11 hen über Transmembranproteine, das Occludin, in Verbindung. Wie eine Schweiß- naht verhindert der Gürtel von Tight junctions die Passage von Gewebeflüssigkeit. Somit dienen Tight junctions der Aufrechterhaltung des interzellulären Milieus und sie kommen vor allem dort vor, wo Flüssigkeiten nicht frei passieren dürfen, so z. B. an den Epithelzellen der Blase, der Niere, des Dünndarms und der Gehirn- gefäße. Bei Letzteren sind sie besonders an der Aufrechterhaltung der wichtigen Blut-Hirn-Schranke beteiligt. Desmosomen sind „Haftkontakte“, die Zellen druckknopfartig zu einer wider- standsfähigen Gewebeschicht verbinden. Sie verankern die Zellen untereinander und schützen den Zellverband gegen Scherkräfte. Desmosomen bestehen aus scheibenförmigen Cytoplasmaverdickungen. Der Interzellularraum ist mit einer Kittsubstanz aus Glykoproteinen und Mucopolysacchariden ausgefüllt. In die Ver- dickungen sind senkrecht zur Membran Fibrillen (die Tonofilamente) eingesenkt. Diese bestehen aus Keratin. Die Gap junctions sind „Kommunikationskontakte“. Es handelt sich dabei um flüssigkeitsgefüllte Cytoplasmakanäle, die durch das Protein Connexin gebildet werden. Dazu lagern sich sechs Connexinmoleküle kreisförmig zusammen und las- sen in ihrer Mitte einen Kanal von ca. 2 nm Durchmesser, der von Zelle zu Zelle zieht. Eine solche Einheit aus sechs Connexin-Molekülen nennt man Connexon. Connexone benachbarter Zellen sitzen genau aufeinander und bilden so die Gap junction. Durch den Kanal passen Ionen, Aminosäuren, Zucker und weitere kleine Moleküle hindurch. Somit dienen Gap junctions dem Signalaustausch zwischen Zel- len. Sie kommen in allen Zellen eines Organismus vor, erfüllen aber in manchen Organen besondere Aufgaben. So sind die Gap junctions der Herzmuskulatur elekt- rische Synapsen und synchronisieren dort die Erregungsausbreitung ( Kap. 3.1.3). In der Embryonalentwicklung steuern sie das Wachstum und die Gewebediffe- renzierung. 1.4 Besonderheiten der pflanzlichen Zelle Pflanzenzellen zeigen im Vergleich zu tierischen Zellen einige charakteristische Unterschiede ((Abb. 1.5). Auffälligste Merkmale sind sicher die Zellwand, die Va­­ kuole und das Vorhandensein von Plastiden (siehe unten). In Pflanzenzellen findet man dagegen keine Lysosomen und Centriolen. Die Funktion der Lysosomen wird in Pflanzenzellen durch die Vakuole übernommen. Insbesondere in den Speichergeweben fettreicher Pflanzensamen findet man eine spezielle Art der Peroxisomen, die Glyoxysomen. Diese sind für den oxidativen Abbau der Fettsäuren zuständig, der in ihnen über den Glyoxylat-Zyklus abläuft. 1.4.1 Vakuole Die Vakuole füllt bei reifen Pflanzenzellen den größten Teil der Zelle aus. Es han- delt sich dabei um einen mit einer wässrigen Flüssigkeit gefüllten Hohlraum. Bei jungen Pflanzenzellen ist der Zellraum vollständig mit Cytoplasma ausgefüllt. Während der Zellvergrößerung bilden sich mit Flüssigkeit gefüllte Hohlräume, die 104 3 Nerven- und Sinnesphysiologie Das Nervensystem und die Sinnesorgane befähigen ein Tier dazu, auf seine Umwelt zu reagieren. Änderungen der Umwelt werden durch die Sinnesorgane wahrgenom- men und entsprechende Verhaltensänderungen durch das Nervensystem eingelei- tet. Nervensysteme kommen im Tierreich in vielfältiger Gestalt vor, vom einfachen Nervennetz über die Bildung erster Ganglien (Zusammenlagerung von Nervenzell- körpern) bis hin zum komplexen Gehirn. Grundeinheit all dieser unterschiedlich strukturierten Nervensysteme ist jedoch die Nervenzelle, das Neuron, das nach einem einheitlichen Grundprinzip funktioniert. 3.1 Bau und Funktion von Nervenzellen Eine Nervenzelle oder Neuron hat einen Zellkörper (Soma) und meistens zwei Typen von Zellfortsätzen ((Abb. 3.1). Dabei handelt es sich zum einen um die Dendriten – kurze, stark verzweigte Fortsätze, über die Informationen von be­­ nachbarten Zellen empfangen werden. Zum anderen tritt aus dem Soma das Axon (auch Neurit genannt) hervor. Das Axon ist deutlich länger als die Dendriten und leitet die Erregungen vom Soma zu anderen Zellen, über die es wie auch die Den- driten mit Synapsen verbunden ist. Das Axon entspringt am Axonhügel aus dem Soma. Es kann einzelne Aufzweigungen (Kollateralen) haben. Insbesondere an seinem Ende zweigt sich das Axon häufig mehr oder minder stark auf. Das Axon wird von der Schwann’schen Zelle begleitet. Ist das Axon nur in diese eingebet- tet, spricht man von einer marklosen Faser. In diesem Fall ist das Axon auf der ganzen Länge erregbar. Wirbeltieraxone sind von der Schwann’schen Zelle in meh- reren Schichten umwachsen. Sie liegen in einer Markscheide, die auch als Mye- linscheide bezeichnet wird; es handelt sich um markhaltige Fasern. Entlang des Axons ist die Myelinscheide in regelmäßigen Abständen von den Ranvier’schen Schnürringen unterbrochen. Hier endet die eine Schwann’sche Zelle und die nächste beginnt. Dazwischen bleibt ein unmyelinisierter Spalt. An diesen Stellen ist das Axon elektrisch erregbar. Die Markscheide wirkt wie ein Isolator und macht das Axon dort, wo sie es umgibt, unerregbar. Durch diese Isolation können mark- haltige Nervenfasern sehr viel dünner sein als marklose Fasern und dabei hohe Leitungsgeschwindigkeiten aufbauen. Bei den marklosen Fasern sinkt der Wider- stand mit dem Durchmesser der Axone, d. h. um hohe Leitungsgeschwindigkeiten zu erreichen, muss der Durchmesser der Nervenfasern groß sein. Ein typisches Beispiel dafür sind die Riesenaxone der Tintenfische. Die Länge eines Axons weist große Variationen auf; es kann zwischen 1 μm und 1 m lang sein. Wie andere Zellen besitzen auch Nervenzellen in ihrem Soma einen Zellkern, Mitochondrien, Golgi-Apparat usw. Charakteristisch für Nervenzellen ist das Auftreten von Nissl-Schollen. Dabei handelt es sich um eine Anhäufung von endoplasmatischem Retikulum, die im gesamten Cytoplasma, nicht aber im Axon, in den Dendriten und im Bereich des Axonhügels vorkommt. 3.1 Bau und Funktion von Nervenzellen 105 Synapse einer anderen Nervenzelle Zellplasma Nissl- Schollen Zellmembran Zellkern Mitochondrium Soma (Zellkörper) Dendriten Axonhügel Schwann’sche Zelle Axon (Neurit) Synapsen Ranvier’scher Schnürring ( Abb. 3.1: Aufbau einer Nervenzelle. Weitere Zellen im Nervensystem sind die Gliazellen, zu denen auch die Schwann’schen Zellen gehören. Sie haben eine Stütz- und Haltefunktion, dienen der elektrischen Isolation, sorgen für den Flüssigkeits- und Nährstofftransport und sind nach neueren Erkenntnissen auch an der Informationsverarbeitung beteiligt. Neben den Schwann’schen Zellen zählen die Astrocyten zu den Gliazellen. Diese sternförmigen Zellen kommen im zentralen Nervensystem (ZNS) vor. Sie umgeben mit ihren Fortsätzen die Blutkapillaren im Gehirn und induzieren die Bildung von Tight junctions ( Kap. 1.3.4), sodass die Blut-Hirn-Schranke entsteht, die für viele Stoffe unpassierbar ist. Oligodendrozyten bilden im ZNS die isolierende ­Myelinschicht um die Axone. 3.1.1 Ruhe- und Aktionspotenzial Sticht man eine feine Elektrode in eine Nervenzelle ein und misst das Potenzial der Innenseite gegenüber einer Referenzelektrode auf der Außenseite der Zelle, so stellt man fest, dass die Innenseite im Vergleich zur Außenseite negativ geladen ist. Es herrscht also eine Potenzialdifferenz zwischen innen und außen, das sogenannte Ruhepotenzial einer Nervenzelle. Es liegt in der Regel zwischen –50 und –80 mV und beruht auf der unterschiedlichen Verteilung von Ionen (&Tab. 3.1). 106 3 Nerven- und Sinnesphysiologie Wie aus &Tabelle 3.1 zu entnehmen ist, liegt die Konzentration der K+-Ionen innen bei einem deutlich höheren Wert als außen. Dagegen ist die Konzentration der Na+-Ionen auf der Außenseite deutlich höher als im Zellinneren. Bei den Anio- nen überwiegen auf der Außenseite die Chloridionen, während innen vor allem große Anionen vorkommen. Dabei handelt es sich um negativ geladene Aminosäu- ren und Polypeptide. Die Gesamtmenge der Ionen ist innen und außen allerdings gleich groß, es herrscht also ein osmotisches Gleichgewicht. Das Ruhepotenzial ist bedingt durch die unterschiedlichen Permeabilitäten der Ionen. Am besten ist die Membran durchlässig für K+-Ionen, sodass das Ruhepo- tenzial annähernd dem K+-Gleichgewichtspotenzial entspricht. K+-Ionen treten über ständig offene, nicht spannungsabhängige K+-Sickerkanäle aus der Zelle aus, um das Konzentrationsgefälle zwischen Innen- und Außenseite auszugleichen. Allerdings können ihnen nicht die entsprechenden Anionen folgen. Daher wird die Außenseite gegenüber der Innenseite positiv geladen. Der sich aufbauende elekt- rische Gradient wirkt dem chemischen Gradienten – also dem Konzentrationsge- fälle – entgegen. In dem Moment, in dem beide Gradienten sich die Waage halten, herrscht ein Gleichgewicht, d. h. die Zahl der nach innen und nach außen wan- dernden Ionen ist gleich groß. Ohne Änderungen der Membraneigenschaften stellt dieses Gleichgewichtspotenzial sich von selbst ein und bedarf keiner Energiezu- fuhr zu seiner Aufrechterhaltung. Auch andere Ionen sind aufgrund ihrer, wenn auch geringen, Permeabilität am Ruhepotenzial beteiligt; so treten auch Na+-Ionen im Austausch mit K+-Ionen in die Zelle ein. Allerdings werden eingedrungene Na+-Ionen durch Ionenpumpen wie- der aus dem Zellinneren herausbefördert. Dabei handelt es sich um einen aktiven Transport, der Energie verbraucht. Schnelle Potenzialänderungen in einem Axon werden als Aktionspotenziale bezeichnet. Dabei kommt es kurzfristig zu einer Umkehrung des Membranpoten- zials, sodass die Membraninnenseite ein Potenzial von bis zu + 30 mV erreichen kann. Damit es zu einem solchen Aktionspotenzial kommen kann, muss das Neu- ron gereizt werden. Der auslösende Reiz muss eine bestimmte Schwelle – das Schwellenpotenzial – überwinden, um ein Aktionspotenzial zu induzieren. Die Membran wird depolarisiert. Ein solches Aktionspotenzial ist bedingt durch die Öffnung von spannungsabhängigen Natriumkanälen. Durch diese fließen dann & Tab. 3.1: Ionenverteilung auf der Innen- und Außenseite eines Neurons. Ion Innenseite [mmol/l] Außenseite [mmol/l] K+ 155 4 Na+ 12 145 Ca2+ 5 2 Mg2+ 14 1 Cl– 2 77 HCO3– 12 27 Große Anionen 74 13 3.1 Bau und Funktion von Nervenzellen 107 innerhalb kürzester Zeit Na+-Ionen in das Axon. Dem schnellen Aufstrich (der Depolarisation) folgt die Repolarisation, das Ruhepotenzial baut sich wieder auf. Meistens geht der Wert auf der Innenseite kurzfristig sogar etwas unter den Ruhewert, die Membran hyperpolarisiert ((Abb. 3.2). Während eines Aktionspoten- zials kann an der betreffenden Stelle kein neues Aktionspotenzial ausgelöst wer- den, die Membran ist refraktär. Man unterscheidet die absolute und die relative Refraktärzeit. In der absoluten Refraktärzeit ist es auch mit extrem überhöhten Reizen nicht möglich, ein Aktionspotenzial auszulösen. Während der relativen Refraktärzeit ist durch überhöhte Reize die Auslösung eines weiteren Aktionspo- tenzials möglich. Das Aktionspotenzial verläuft nach dem Alles- oder-Nichts-Prinzip. Das be­­ deutet, dass es zu einem Aktionspotenzial kommt, sobald der Schwellenwert über- schritten wurde und dieses läuft dann in gleicher Weise ab, unabhängig von der Reizstärke. Der schnelle Aufstrich des Aktionspotenzials ist durch das Öffnen der spannungsabhängigen Na+-Kanäle bedingt. Diese Natriumkanäle können drei unterschiedliche Aktivierungszustände einnehmen. Während des Ruhepotenzials Gleichgewichtspotenzial und Nernst-Gleichung Das sich einstellende Gleichgewichtspotenzial kann mit der Nernst-Gleichung berechnet werden, dabei ergibt sich folgende Gleichung: RT ½Kþ  ½Kþ  EK ¼  ln þ i ¼ k  log þ i F ½K a ½K a F = Faraday-Konstante (96485,34 C mol–1), R =allgemeine Gaskonstante (8,31447 J mol–1 K–1), T = absolute Temperatur (K). Bei Körpertemperatur (310 K) ergibt sich für das Kalium-Gleichgewichtspoten- zial: ½Kþ i EK ¼ 61 mV  log ½Kþ a Setzt man die Werte aus &Tabelle 3.1 ein, erhält man ein Membranpotenzial von –97 mV. An Muskelzellen kann tatsächlich ein Ruhepotenzial von –90 mV gemessen werden. Die Abweichung zum errechneten Wert ergibt sich daraus, dass das Ruhepotenzial zwar näherungsweise dem Kalium-Gleichgewichtspo- tenzial entspricht, aber nicht exakt. Zur genauen Bestimmung des Ruhepoten- zials müssen auch die anderen Ionen einbezogen werden. Dies wird in der Goldman-Gleichung berücksichtigt. Dabei gehen nicht nur die Konzentratio- nen der einzelnen Ionen ein, sondern auch deren Permeabilität durch die Mem- bran: RT pk ½Kþ a þ pNa ½Naþ a þ pCl ½Cl i EM ¼  ln F pk ½Kþ i þ pNa ½Naþ i þ pCl ½Cl a p = Permeabilitätskoeffizient 108 3 Nerven- und Sinnesphysiologie liegen sie in geschlossenem aktivierbarem Zustand vor. Na+-Ionen können also nicht passieren. Mit Erreichen des Schwellenpotenzials gehen die Kanäle in den offenen aktivierten Zustand über. Der Kanal ist geöffnet und Na+-Ionen können passieren, sie fließen von außen nach innen. Bereits innerhalb 1 ms werden die Kanäle inaktiviert, d. h. der Kanal gelangt in den dritten Aktivierungszustand, den geschlossenen inaktivierten. Nun können keine Na+-Ionen mehr in die Zelle ein- dringen. In diesem Zustand kann kein weiteres Aktionspotenzial ausgelöst wer- den, das Axon ist refraktär. Aus dem geschlossenen inaktivierten Zustand geht der Natriumkanal wieder in den geschlossenen aktivierbaren Zustand über. In den aktivierbaren Zustand gelangt der Natriumkanal erst nach Beendigung der Repola- risation. Neben den spannungsabhängigen Natriumkanälen befinden sich auch spannungsabhängige Kaliumkanäle in der Membran, diese öffnen während der Depolarisation ebenfalls, allerdings langsamer als die Natriumkanäle. Dadurch relative Refraktärzeit 0 Membranpotenzial [mV] on Repo isati larisa olar Dep on ti Schwellen- unterschwellige Reize –50 potenzial –70 Hyper- Ruhepotenzial Reiz polarisation 0 1 2 3 4 5 Zeit [ms] geschlossener Na+ -Kanal geschlossener offener offene Na+ -Kanäle geschlossene offene immer offener K +-Kanal Na+ -Kanal (immer weitere öffnen) Na+ -Kanäle K +-Kanäle außen K +-Kanal innen Ruhepotenzial Depolarisation Aktionpotenzial Refraktärzeit: Ruhepotenzial Inaktive Na+- Kanäle, offene spannungs- gesteuerte K+-Kanäle ( Abb. 3.2: Verlauf eines Aktionspotenzials. Im unteren Bereich der Abbildung ist der ­Öffnungs­zustand von Natrium- und Kaliumkanälen während der unterschiedlichen Phasen des Aktions­potenzials angegeben. 3.1 Bau und Funktion von Nervenzellen 109 Ionenkanäle Ionenkanäle bestehen aus Proteinen, die die Membran durchziehen und in ihrer Mitte eine Pore bilden. Sie setzen sich meistens aus mehreren Proteinsegmen- ten zusammen. Der durch die Proteine gebildete Kanal ist mit Flüssigkeit gefüllt. Im Bereich der Pore befinden sich geladene Aminosäuren, die letztlich für die Spezifität des Ionenkanals verantwortlich sind. Durch die Ladungen im Kanal und dessen Durchmesser ist dieser nur für bestimmte Ionen durchlässig. Der Transport durch Ionenkanäle ist passiv, die Ionen folgen dem elektrischen bzw. osmotischen Gradienten. Allerdings sind die Kanäle nicht jederzeit frei passierbar. Sie können im offenen oder geschlossenen Zustand vorliegen. Der Wechsel zwischen diesen beiden Zuständen ist durch Konformationsänderungen der Kanalproteine bedingt. Das Signal zur Änderung der Konformation ist bei den spannungsabhängigen Ionenkanälen die Änderung der Membranspannung, wie oben beim Na+- und K+-Kanal beschrieben. Außerdem existieren liganden- abhängige Ionenkanäle, bei denen die Konformationsänderung aufgrund der Bindung eines Liganden erfolgt. Solche Liganden können z. B. Neurotransmitter wie Acetylcholin, Gamma-Aminobuttersäure (GABA) oder Glycin sein. strömen K+-Ionen aus dem Axon aus und leiten die Repolarisation ein. Durch das verzögerte Schließen der Kaliumkanäle sind mehr K+-Ionen aus der Zelle ausgetre- ten als Na+-Ionen in das Zellinnere hineingeströmt, wodurch das Membranpoten- zial unter das Ruhepotenzial sinkt; es kommt zur Hyperpolarisation. Durch die Aktivität der Na+/K+-Pumpe ( Kap. 1.5.2) wird das Ruhepotenzial wiederherge- stellt. Aktionspotenziale können nur an Membranen entstehen, die mit span- nungsabhängigen Ionenkanälen besetzt sind ((Abb. 3.2). Aktionspotenziale am Herzen Die Zellen der Erregungsbildungszentren ( Kap. 2.7.1) sind in der Lage, spontan Depolarisationen zu bilden. Das Ruhepotenzial der Zellen des Sinusknotens liegt bei –60 mV, bedingt durch eine verhältnismäßig gute Leitfähigkeit für Na+. Am Ende des vorausgehenden Aktionspotenzials nimmt die K+-Leitfähigkeit der Mem- bran wieder ab, gleichzeitig setzt ein langsamer Einstrom von Ca2+-Ionen ein. Zusammen mit der erhöhten Leitfähigkeit für Na+-Ionen wird das Schwellenpoten- zial von ca. –40 mV erreicht und ein neues Aktionspotenzial ausgelöst. In ähn­ licher Weise entstehen Aktionspotenziale im AV-Knoten. Da die Frequenz im AV- Knoten jedoch geringer ist als im Sinusknoten, bestimmt Letztgenannter die Herzfrequenz. In der Arbeitsmuskulatur (Arbeitsmyokard) des Herzens können keine spon- tanen Depolarisationen gebildet werden. Ausgelöst wird ein Aktionspotenzial dort durch einen benachbarten, bereits erregten Bereich. Das Ruhepotenzial liegt in den Zellen des Arbeitsmyokards bei –90 mV, das Schwellenpotenzial zur Auslö- sung eines Aktionspotenzials beträgt –70 bis –75 mV. Charakteristisch für das Aktionspotenzial des Arbeitsmyokards ist seine Dauer, sie liegt bei ca. 180–400 ms (zum Vergleich: Das Aktionspotenzial an normalen Axonen dauert ca. 1–2 ms). Es 110 3 Nerven- und Sinnesphysiologie ist gekennzeichnet durch einen schnellen Aufstrich, an den sich eine lange Pla- teauphase anschließt ((Abb. 3.3), während der das Membranpotenzial sich nur langsam wieder dem Ruhepotenzial nähert. Wie bei anderen Aktionspotenzialen beruht der schnelle Aufstrich auf der Öffnung der schnellen spannungsabhängigen Aktionspotenziale der Herzmuskulatur Sinusknoten AV-Knoten Vorhofmyokard His-Bündel Purkinje-Fasern Ventrikelmyokard A 40 initiale Spitze 20 Plateau OS 0 Aufstrich 20 Repolarisation [mV] AP relative 40 absolute RP RP 60 Schwellenpotenzial 80 Vordepolarisation 100 + Na Ca 2+ außen Herzmuskel- zellmembran innen K+ 50 100 150 200 250 300 350 B [ms] ( Abb. 3.3: Aktionspotenziale am Herzen. A: Unterschiedliche Potenziale in den einzelnen Bereichen des Herzens (Erregungsbildungszentren und Arbeitsmuskulatur). B: Einzelnes Aktionspotenzial im Ventrikelmyokard. Im unteren Bereich ist der Ein- und Aus- strom der Ionen dargestellt. OS = Overshoot, RP = Refraktärphase, AP = Aktionspotenzial 3.1 Bau und Funktion von Nervenzellen 111 Na+-Kanäle. Diese werden jedoch rasch wieder inaktiviert, sodass eine Repolarisa- tion beginnt. Die Repolarisation läuft allerdings verzögert ab, da beim Einsetzen der Depolarisation auch Ca2+-Kanäle geöffnet werden. Durch den langsamen Ein- strom von Ca2+-Ionen in die Zelle entsteht also die Plateauphase. Die Länge des Aktionspotenzials bedingt eine lange Refraktärphase, sodass Erregungen inner- halb der Herzmuskulatur nicht kreisen können. Außerdem ist die Kontraktion des Herzmuskels in jedem Fall abgeschlossen, bevor die nächste Erregung das Arbeits- myokard erreicht. Dadurch ist ein Tetanus (also eine Dauerkontraktion,  Kap. 4.2) des Herzmuskels ausgeschlossen. 3.1.2 Erregungsleitung Aktionspotenziale sind zunächst zwar lokale Ereignisse, sie breiten sich aber rasch über das Axon oder eine Muskelfaser aus. Ist an einer Stelle ein Aktionspotenzial entstanden, so existiert eine Potenzialdifferenz zwischen dem erregten Teil des Axons und dem benachbarten nicht erregten Teil. Es kommt zu einem Stromfluss zur unerregten Stelle, es fließt ein Ausgleichsströmchen. Dieses Ausgleichsström- chen breitet sich elektrotonisch aus, das bedeutet, dass es sich passiv ausbreitet und mit zunehmender zurückgelegter Strecke an Stärke verliert. Erreicht das Aus- gleichsströmchen spannungsabhängige Natriumkanäle und ist noch groß genug, um die Schwelle zu erreichen, so führt das Öffnen dieser Natriumkanäle zu einem erneuten Aktionspotenzial. Das ursprüngliche Aktionspotenzial wurde fortgeleitet ((Abb. 3.4). Dabei geht nicht das ursprüngliche Aktionspotenzial auf Wander- schaft, sondern es wird ein neues aufgebaut. Da spannungsabhängige Na+-Ka­­näle am Axon dicht aufeinander folgen, reichen die Ausgleichsströmchen aus, um eine neues Aktionspotenzial zu erzeugen. Die Ausgleichströmchen fließen vom Aktions- kontinuierliche Erregungsleitung + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + 5 mm in 1 ms saltatorische Erregungsleitung + + + + + + 5 mm in 0,1 ms ( Abb. 3.4: Fortleitung von Aktionspotenzialen in marklosen und markhaltigen Fasern. 112 3 Nerven- und Sinnesphysiologie potenzial ausgehend zwar in beide Richtungen, können jedoch nur in Fortleitungs- richtung ein neues Aktionspotenzial auslösen. Das liegt daran, dass die Membran sich in der anderen Richtung noch in der Refraktärphase befindet. Die Fortleitung von Erregungen geschieht also nur in eine Richtung – Nervenfasern sind Einbahn- straßen. Die Leitungsgeschwindigkeit hängt vom Widerstand der Nervenfaser ab, dieser sinkt mit zunehmendem Durchmesser, d. h. je dicker ein Axon ist, desto höhere Leitungsgeschwindigkeiten können erzielt werden. Grundsätzlich handelt es sich bei der hier beschriebenen Art der Erregungsfortleitung um eine kontinuier­ liche Fortleitung an marklosen Nervenfasern. Etwas anders stellen sich die Ver- hältnisse an markhaltigen Nervenfasern dar, die von einer Myelinscheide umge- ben sind. Hier sind die spannungsabhängigen Na+-Kanäle vor allem im Bereich der Ranvier’schen Schnürringe angesiedelt. Der Einstrom von Na+-Ionen geschieht also am Schnürring. Die Ausgleichsströmchen fließen im Inneren des Axons nahezu ohne Verlust zum nächsten Schnürring und lösen dort ein weiteres Aktionspotenzial aus. Die Erregung springt also von Schnürring zu Schnürring, man spricht von einer saltatorischen Erregungsleitung. Eine solche Fortleitung hat Vorteile: Die Erre- gungsleitung markhaltiger Nervenfasern kann deutlich höhere Geschwindigkeiten erreichen als die markloser Fasern ((Abb. 3.4). Durch die Isolation der Faser durch die Myelinscheide können die Axone bei gleichen oder höheren Leitungsgeschwin- digkeiten einen deutlich geringeren Durchmesser haben als marklose Axone, es wird also Platz und Material gespart. Auch ist der Energiebedarf markhaltiger Nerven­ fasern geringer als der markloser, da auf gleicher Strecke weniger Aktionspotenziale aufgebaut werden. Dadurch müssen weniger Ionen wieder aus der Faser herausge- pumpt werden und es wird somit weniger ATP verbraucht. 3.1.3 Synapsen Nervenzellen sind keine isolierten Systeme, sie stehen im Kontakt mit anderen Nervenzellen oder mit Sinnes- oder Muskelzellen. In einem Axon gebildete Akti- onspotenziale müssen nicht nur fortgeleitet, sondern auch auf andere Nervenzel- len oder Muskelzellen übertragen werden. Die Verknüpfung der Zellen erfolgt durch Synapsen, sie sind die Kontaktstellen, an denen Erregungen übertragen werden. Man unterscheidet elektrische und chemische Synapsen. Chemische Synapsen Eine Synapse besteht aus einem verdickten Ende, das durch einen mit Flüssig- keit gefüllten Spalt von der Empfängerzelle getrennt ist ((Abb. 3.5). Der Teil mit dem verdickten Ende wird als präsynaptisch bezeichnet, die Empfängerzelle als postsynaptisch, dazwischen liegt der ca. 20 nm breite synaptische Spalt. Die Membranen beiderseits des Spalts werden als prä- und postsynaptische Membran bezeichnet. Im präsynaptischen Teil der Synapse befinden sich mit Transmittern (Überträgerstoffen) gefüllte Vesikel, die postsynaptische Membran ist mit Rezep- toren besetzt, an die die Transmitter binden können. Synapsen setzen elektrische Signale in chemische um. Ein eintreffendes Aktionspotenzial führt im präsynaptischen Ende zur Öffnung spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle. Durch den starken Anstieg der Ca2+-Konzentra- 3.1 Bau und Funktion von Nervenzellen 113 2+ Ak Ca ti on synaptische sp Endigung präsynaptische ote Membran nz ia l Vesikel mit Transmitter synaptischer postsynaptische Spalt Membran Ionenkanal Ionenkanal (geschlossen) (geöffnet) ( Abb. 3.5: Chemische Synapse. tion im synaptischen Endknöpfchen können die Transmittervesikel mit der präsyn- aptischen Membran fusionieren und ihren Inhalt in den synaptischen Spalt ent­ leeren. Die Transmittermoleküle diffundieren zur postsynaptischen Membran und binden dort an ihre Rezeptoren. Aufgrund der Bindung von Transmittermolekülen kommt es dort entweder zur Öffnung von Ionenkanälen oder zur Aktivierung eines Second-messenger-Systems. Die Öffnung von Ionenkanälen führt direkt zur Ände- rung des Membranpotenzials der postsynaptischen Zelle. Bei den Ionenkanälen handelt es sich um ligandenabhängige Kanäle. Durch die Öffnung der Ionenkanäle fließt ein Strom in der postsynaptischen Zelle, dieser kann depolarisierend oder hyperpolarisierend sein. Welchen Charakter dieser Strom hat, ist abhängig von der Art der Ionenkanäle, mit denen die Rezeptoren gekoppelt sind. Handelt es sich um Na+-Kanäle, so kommt es zu einer Depolarisation. Die so entstehenden Depolarisa- tionen sind lokale Potenziale, die sich elektrotonisch ausbreiten. Es handelt sich um postsynaptische Potenziale, die im Falle eines depolarisierenden Charakters als exzitatorische postsynaptische Potenziale (EPSP) und beim hyperpolarisieren- den Typ als inhibitorische postsynaptische Potenziale (IPSP) bezeichnet wer- den. Das bedeutet, dass am postsynaptischen Ende zunächst kein Aktionspoten- zial entsteht, sondern ein sich mit Verlust (Dekrement) ausbreitendes EPSP oder IPSP ((Abb. 3.6). Die Größe des postsynaptischen Potenzials (PSP) ist abhängig von der Zeitdauer, in der die Ionenkanäle geöffnet sind. Dies wiederum wird beein- flusst von der Menge an Transmittern, die an Rezeptoren binden können und von der Dauer der Transmitterausschüttung. Der ausgeschüttete Transmitter wird rasch wieder aus dem synaptischen Spalt entfernt, um das Signal zeitlich zu begrenzen. Dies erfolgt zum einen durch Diffusion und zum anderen durch den enzymatischen 114 3 Nerven- und Sinnesphysiologie exzitatorisches A präsynaptisches inhibitorisches Axon Axon Reiz a Reiz b b exzitatorischer präsynaptischer inhibitorischer Strom synaptischer a Strom EPSP a IPSP b a und b B C Reiz a Reiz a Reiz b a b b synaptischer Strom synaptischer Strom synaptisches Potenzial a b Reiz Impuls- a und b entstehungs- zone ( Abb. 3.6: A: Exzitatorische (EPSP) und inhibitorische postsynaptische Potenziale (IPSP) und deren Summation. B: Räumliche Summation von zwei EPSP. C: Zeitliche Summation von zwei EPSP. Abbau der Transmittermoleküle sowie durch die Wiederaufnahme des Transmitters in die präsynaptische Endigung oder in Gliazellen. Aktionspotenziale können nur an Stellen entstehen, an denen spannungsabhängige Na+-Kanäle vorhanden sind. Dies ist am Axonhügel der Fall. Ist das dort ankommende PSP groß genug, um den Schwellenwert zu erreichen, so öffnen sich die spannungsabhängigen Na+-Kanäle und ein Aktionspotenzial entsteht. 3.2 Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesreizen 115 Die Übertragung einer Erregung kann immer nur vom prä- zum postsynaptischen Ende erfolgen. Somit sind Synapsen Gleichrichter, die dafür sorgen, dass ein Strom nur in einer bestimmten Richtung über das Axon fließen kann. Postsynaptische Potenziale können sich aufsummieren, d. h. mehrere fast zeit- gleich eintreffende Signale können sich zu einem PSP mit höherer Amplitude auf- summieren. Es handelt sich dabei um die zeitliche Summation. In diesem Fall ist das Ruhepotenzial noch nicht wieder erreicht worden. Da Nervenzellen mit vielen anderen Nervenzellen verknüpft sind, erhalten sie oftmals auch Signale von diesen verschiedenen Zellen. Die dabei an verschiedenen Orten der Zelle gebildeten PSP können sich ebenfalls summieren (räumliche Summation). Ebenso summieren sich EPSP und IPSP, d. h. ein IPSP schwächt ein EPSP in seiner Amplitude ab. Die Reaktion auf die vom präsynaptischen Ende ausgeschütteten Transmitter ist abhängig von den Ionenkanälen, mit denen die Rezeptoren gekoppelt sind. Ein Transmitter kann also an einem Neuron einen depolarisierenden Strom bewirken, an einem anderen einen hyperpolarisierenden. So wirkt Acetylcholin (ACh) an der motorischen Endplatte des quer gestreiften Muskels über den nikotinischen Ace- tylcholinrezeptor erregend, am Herzen über den muskarinischen ACh-Rezeptor dagegen hemmend. Weitere häufig vorkommende Transmitter sind in &Tabelle 3.2 aufgeführt. Elektrische Synapsen Bei den elektrischen Synapsen ist der synaptische Spalt sehr klein (ca. 3,5 nm). Prä- und postsynaptische Membran liegen dicht aneinander und sind durch Gap junctions ( Kap. 1.3.4) miteinander verbunden. Dadurch kann der Strom direkt von einer Zelle zur anderen fließen. Durch die Gap junctions können die Aus- gleichsströmchen eines Aktionspotenzials in der benachbarten Zelle ebenfalls ein Aktionspotenzial auslösen. Die direkte Übertragung auf die nachfolgende Zelle geschieht nahezu ohne zeitliche Verzögerung, die synaptische Übertragungszeit ist also deutlich geringer als bei der chemischen Synapse. Elektrische Synapsen findet man in Riesenaxonen der Krebstiere, aber auch in der Arbeitsmuskulatur des Wirbeltierherzens. Durch elektrische Synapsen können Gruppen von Nerven- oder Muskelzellen synchronisiert werden. 3.2 Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesreizen Tiere setzen sich mit ihrer Umwelt auseinander, sie nehmen Reize aus ihrer Umge- bung wahr, verarbeiten diese und reagieren in passender Weise darauf. Die Auf- nahme von Reizen erfolgt durch Sinneszellen. Die Reize können von unterschied- licher Qualität sein: optisch, akustisch, chemisch, mechanisch, thermisch oder elektrisch. Sinneszellen sind auf die Aufnahme bestimmter Reize spezialisiert, auf die für sie adäquaten Reize. Auch inadäquate Reize können zu einer Sinneswahr- nehmung führen, wenn sie extrem stark sind. So führt ein Schlag auf das Auge – ein mechanischer Reiz – zum Sehen von Sternchen, obwohl es sich nicht um den für das Auge adäquaten optischen Reiz handelt. 168 6 Fortpflanzung und Ontogenese Fortpflanzung ist ein grundsätzliches Kennzeichen des Lebendigen. Durch die Fort- pflanzung geben Eltern ihr Erbmaterial an die Nachkommen weiter und sorgen so für ein Fortbestehen der Art. Dabei kommt es in aller Regel zu einer Vermehrung der Indivduenzahl. Grundsätzlich unterscheidet man ungeschlechtliche (asexuelle) und geschlechtliche (sexuelle) Fortpflanzung. Bei der ungeschlechtlichen oder auch vegetativen Vermehrung ist an der Reproduktion nur ein Elternteil beteiligt und sie geht auf Mitoseteilungen ( Kap. 1.6.1) zurück. Die geschlechtliche Fort- pflanzung beruht dagegen auf der Verschmelzung von zwei Keimzellen, die zu­­­­meist von zwei Individuen stammen und durch Meioseteilungen ( Kap. 1.6.2) entstan- den sind. Beispielsweise bei vielen Farnen und Moosen wechseln sich ge­­schlecht­ liche und ungeschlechtliche Vermehrung ab, was als Generationswechsel be­­ zeichnet wird. 6.1 Ungeschlechtliche Fortpflanzung Wie bereits erwähnt, entstammen die Zellen bei der vegetativen Fortpflanzung der Mitose. Im einfachsten Fall handelt es sich dabei um eine Zweiteilung eines Organismus, wie man sie z. B. bei den Einzellern antrifft. Auch Bakterien teilen sich bereits durch Zweiteilung ( Kap. 1.8.2). Doch diese Art der Fortpflanzung ist nicht nur auf diese einfachen Organismengruppen beschränkt, sondern auch bei Pflanzen und höher entwickelten Tieren zu finden. Bei den Pflanzen kommen verschiedene Formen der asexuellen Fortpflanzung vor. So kann es zur einfachen Teilung in zwei Tochterindividuen kommen. Dabei kann sich bei den einzelligen Pflanzen ein Individuum in zwei gleiche Tochterin- dividuen teilen, wobei man dann von einer Schizotomie spricht. Bei der Schizo- gonie kommt es dagegen zu einer ungeschlechtlichen Vielteilung. In einer Zelle laufen also mehrere Teilungen nacheinander ab, bevor die Tochterzellen frei wer- den. Diese Art der Teilung findet man bei manchen einzelligen Algen. Bei Algen, Pilzen, Flechten, Moosen und Farnen werden Sporen gebildet, die der Verbreitung dienen. Solche Sporen werden oft in großen Mengen gebildet und freigesetzt. Bei den Algen und Pilzen besitzen die Sporen oftmals Geißeln oder Wimpern und sind so einer Verbreitung im Wasser angepasst. Solche Sporen werden auch Zoosporen oder Schwärmsporen genannt. Die asexuelle Vermehrung ist jedoch nicht auf ein- fache Pflanzen beschränkt, auch bei den höheren Pflanzen trifft man sie an. Jedermann bekannt ist sicher die Bildung von Ausläufern, z. B. bei der Erdbeere. Überall, wo solche Ausläufer Knospen tragen, können neue Pflanzen entstehen. Ausläufer können oberirdisch wie beim Weißklee, dem Kriechenden Fingerkraut und bei der schon genannten Erdbeere verlaufen, aber auch unterirdisch wie bei der Quecke und dem Johanniskraut. Manche Pflanzen bilden Knollen, die dem Überdauern ungünstiger Witterungsbedingungen dienen und danach ein rasches Heranwachsen von Tochterindividuen ermöglichen; dazu gehört die Kartoffel. Zudem entwickeln manche Pflanzen Brutknospen. Solche Knospen können Seiten- wurzeln ausbilden und sich von der Mutterpflanze ablösen. Eines der bekanntes- 6.2 Geschlechtliche Fortpflanzung 169 ten Beispiele dürfte hierfür die Brutblattpflanze (Bryophyllum calycinum) sein, bei der sich an den Blättern kleine Brutpflänzchen entwickeln, die bereits mit Blät- tern und Wurzeln ausgestattet sind und nach dem Herabfallen direkt wurzeln kön- nen. Die Tatsache, dass abgetrennte Pflanzenteile zu ganzen Pflanzen heranwach- sen, hat man sich bei der Stecklingszucht zunutze gemacht. Auch bei den Tieren ist die ungeschlechtliche Fortpflanzung nicht auf die Ein- zeller beschränkt. Querteilungen kennt man z. B. bei den Hohltieren. Auch Knos- pungen kommen im Tierreich vor, etwa bei Polypen. In manchen Fällen separieren sich solche abgetrennten Teile nicht von ihrem Elterntier und es bilden sich Kolo- nien wie bei den Korallen. Sporenbildung findet man bei den Sporozoen. Diese besiedeln als Parasiten verschiedene Wirtsorganismen und sind durch die Sporen- bildung in der Lage, einen Wirt rasch zu überschwemmen. Überhaupt liegt der Vorteil der asexuellen Fortpflanzung in der raschen Produk- tion einer großen Menge an Nachkommen. Dadurch kann ein Lebensraum von einer Art schnell in Anspruch genommen werden. Außerdem entfällt für festsit- zende Arten das Auffinden eines Geschlechtspartners. Abzugrenzen von der asexuellen Fortpflanzung ist die Parthenogenese, die sogenannte Jungfernzeugung. Dabei entwickeln sich Nachkommen aus unbe- fruchteten Eizellen. Zwar stammen die Erbinformationen der so erzeugten Nach- kommen auch nur von einem Elternteil, im Gegensatz zur asexuellen Vermeh- rung entstehen sie jedoch aus Geschlechtszellen – daher spricht man hier auch von eingeschlechtlicher oder unisexueller Vermehrung. Dabei kann es zur Entwicklung haploider Individuen kommen, also zu Nachkommen mit nur einfa- chem Chromosomensatz. Auf diese Weise entstehen bei den Honigbienen die männlichen Nachkommen (die Drohnen). Sie entwickeln sich aus den unbe- fruchteten Eizellen. Dabei unterscheiden sich die Drohnen genetisch von der Königin, da die Verteilung der Chromosomen zufällig ist ( Kap. 1.6.2) Neben haploiden Organismen kann die Parthenogenese auch diploide Nachkommen erzeugen, in diesem Fall unterbleibt dann z. B. die Reduktionsteilung (Meiose I,  Kap. 1.6.2). 6.2 Geschlechtliche Fortpflanzung Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung verschmelzen zwei Keimzellen zu einer Zygote. Dabei können die beiden verschmelzenden Keimzellen von zwei Indivi- duen (Fremdbefruchtung oder Xenogamie) oder von einem Individuum (Selbst- befruchtung oder Autogamie) stammen. Bei der Selbstbefruchtung entstehen so Individuen, die nah miteinander verwandt, aber nicht genetisch identisch sind. Der sexuellen Fortpflanzung geht eine Meiose ( Kap. 1.6.2) voraus. Somit sind die beiden Gameten (Geschlechtszellen, Eizelle und Samenzelle) haploid und die aus ihnen entstehende Zygote ist diploid. Grundsätzlich zu unterscheiden sind bei den Tieren die innere und die äußere Befruchtung. Bei der äußeren Befruchtung gibt das Weibchen die unbefruchteten Eier an die Außenwelt ab und das Männchen besamt diese außerhalb des Körpers des Weibchens. Bei der inneren Befruchtung überträgt das Männchen die Samen 170 6 Fortpflanzung und Ontogenese dagegen in oder an den Genitaltrakt des Weibchens, sodass die Besamung (Verei- nigung von Sperma- und Eizelle) im Körper des Weibchens stattfindet. Nicht bei allen Organismen müssen die Gameten von unterschiedlicher Gestalt sein. So findet man bei verschiedenen Algenarten gleich aussehende bewegliche Gameten, die aber durchaus männlich und weiblich sind, da nicht jeder Gamet mit jedem verschmelzen kann. Bei solchen gleich gestalteten Gameten spricht man von Isogamie. Ebenfalls bei Algenarten anzutreffen sind ungleich groß gestaltete Gameten, die aber beide beweglich sind, in diesem Fall liegt eine Anisogamie vor. Typisch für höhere Pflanzen und Tiere ist die Oogamie. Dabei sind eine große und unbewegliche Eizelle (Ovum) und kleinere bewegliche Samenzellen (Spermien) vorhanden. Die Eier enthalten außer den Erbinformationen reichlich Zellplasma und Nährstoffe, um den Keim während der Entwicklung zu ernähren. Bei Eier legenden Tieren wie Reptilien, Vögeln und Insekten ist das Ei sehr viel reicher an Dotter als bei Tieren, bei denen sich die Entwicklung im Mutterleib vollzieht. Die Spermazellen gliedern sich in Kopf- und Schwanzteil, wobei die Chromosomen im Kopfteil liegen. Im Mittelteil befinden sich sowohl die Zentriolen für den Spindel- apparat ( Kap. 1.6.1) als auch viele Mitochondrien, die dem Spermium die Ener- gie zur Bewegung zur Verfügung stellen. Außerdem befindet sich am Kopfteil das Hermaphroditismus – Zwittrigkeit Als Hermaphroditen (Zwitter) bezeichnet man Individuen, die sowohl männli- che als auch weibliche Geschlechtszellen produzieren können. Zwittrigkeit ist insbesondere bei festgewachsenen Lebewesen von Vorteil, da das Problem, einen Partner anderen Geschlechts zu finden, so gelöst ist. Häufig ist Herma- phroditismus bei Pflanzen anzutreffen. Echte Zwitter unter den Pflanzen besit- zen nur eine Art von Blüten, die sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsorgane beinhalten. Bei den Samenpflanzen unterscheidet man wei- terhin einhäusige Pflanzen, die männliche und weibliche Blüten auf einer Pflanze tragen, von zweihäusigen, bei denen männliche und weibliche Blüten auf zwei getrennten Pflanzen sitzen. Zwittrigkeit kann zu einer Selbstbestäu- bung (Autogamie) führen. Allerdings wird diese teilweise ausgeschlossen durch das zeitlich unterschiedliche Heranreifen der Geschlechter. So gibt es Pflanzen, bei denen zunächst die männlichen Blüten heranreifen, sie sind pro- terandrisch, während bei anderen zuerst die weiblichen Blüten bestäubungs- reif sind. Letztere werden als proterogyn bezeichnet. Auch im Tierreich kommen Zwitter vor und dort vor allem bei den Wirbellosen. Obwohl einige Zwitter sich selbst befruchten können, kommt es dennoch meis- tens zu einer Paarung. Manche Tiere sind zur gleichen Zeit Männchen und Weibchen, sie sind Simultanzwitter, wie z. B. Schwämme, die Weinbergschne- cke oder der Regenwurm. Bei anderen Arten wird zunächst das weibliche Geschlecht ausgeprägt (Proterogynie) und das Tier wird im Laufe seines Lebenszyklus zum Männchen. Genau umgekehrt ist es bei der Proterandrie (Erstmännlichkeit), bei der die Tiere zunächst Männchen sind. Häufiger ist die Proterandrie. 6.3 Generationswechsel 171 sogenannte Akrosom, das Enzyme enthält, die das Eindringen in die Eizelle ermög- lichen. Mit dem Schwanzteil bewegt die Spermazelle sich fort. Fortpflanzungsaktivitäten unterliegen Zyklen, die dafür sorgen, dass die Nach- kommen unter günstigen Umweltbedingungen heranwachsen. Bei den Tieren muss also neben geeigneten Witterungsbedingungen auch die Nahrung für die Jungen- aufzucht in ausreichendem Maße vorhanden sein. Für Pflanzen müssen gute Wachs- tumsbedingungen herrschen, also gute Lichtbedingungen und ausreichender Was- ser- und Nährstoffgehalt. Dazu müssen die Fortpflanzungszyklen synchronisiert sein, was durch Hormone geschieht. Bei Tieren mit innerer Befruchtung müssen die Partner sich finden und ihre Paarungsbereitschaft durch artspezifische Verhaltens- weisen ( Kap. 9.6) signalisieren. Doch auch bei einer äußeren Befruchtung ist ein Balzverhalten sinnvoll, um die Besamung (Vereinigung der Spermazelle mit der Eizelle) sicherzustellen. Daher kann man bei vielen Amphibien und Fischen ein solches Verhalten beobachten. Typisch ist auch das Anlocken des Sexualpartners über Pheromone ( Kap. 5.7), wie es bei vielen Insekten stattfindet. Der Vorteil der geschlechtlichen Fortpflanzung ist die Neukombination des Erb- guts. Durch die Vielzahl der Kombinationsmöglichkeiten kann eine Art auch bei wechselnden Umweltbedingungen Nachkommen erzeugen, die mit diesen neuen Bedingungen zurechtkommen. 6.3 Generationswechsel Generationswechsel bedeutet, dass sich aufeinanderfolgende Generationen einer Art auf unterschiedliche Weise fortpflanzen. Beim primären Generationswechsel alternieren sich geschlechtlich und ungeschlechtlich fortpflanzende Generatio- nen. Beim sekundären Generationswechsel kommt es z. B. zu einem Wechsel zwi- schen sich geschlechtlich fortpflanzenden Generationen und solchen, die sich parthenogenetisch, also unisexuell, vermehren. Außerdem gibt es Arten, die einen obligatorischen Generationswechsel haben, bei denen also regelmäßig abwech- selnd sexuelle und asexuelle Fortpflanzung auftritt, und solche, bei denen der Generationswechsel fakultativ und damit meistens von den Umweltbedingungen abhängig ist. Einen Generationswechsel gibt es bei vielen Einzellern, bei Algen, Moosen, Farnen sowie bei verschiedenen Würmern und bei Nessel- und Manteltie- ren. Beim heterophasischen Generationswechsel lösen sich haploide und diplo- ide Generationen ab, während beim homophasischen Generationswechsel die Kernphase in den Generationen gleich ist. Weiterhin kann man differenzieren zwi- schen heteromorphem – die Generationen sehen unterschiedlich aus – und iso- morphem – die Generationen sind äußerlich gleich – Generationswechsel. Bei den Farnen liegt ein heterophasischer, heteromorpher Generationswechsel vor. Eine Spore keimt und aus ihr entwickelt sich der Gametophyt. Der Gameto- phyt (Vorkeim) ist die Gameten bildende Generation, die sich geschlechtlich fort- pflanzt. Er ist, da er aus einer haploiden Spore (auch Meiospore genannt) hervor- geht, ebenfalls haploid. Im Fall der Farne wird dieser Vorkeim als Prothallium bezeichnet. Das Prothallium ist nur wenige Millimeter groß, grün und ähnelt einem Lebermoos. Auf ihm entstehen die Fortpflanzungsorgane, die männlichen 172 6 Fortpflanzung und Ontogenese Haplont (haploider Diplont (diploider Haplont (haploider Chromosomensatz) Chromosomensatz) Chromosomensatz) - Gamet + - Gamet Zygote Sporophyt Sporangium Spore Spore - Gametophyt + - Gametophyt - Gametangium + - Gametangium - Gamet + - Gamet ( Abb. 6.1: Schema eines heterophasischen Generationswechsels. Die diploide Phase ist blau unterlegt. Antheridien und die weiblichen Archegonien. Die Antheridien bilden die soge- nannten Spermatozoiden und die Archegonien die Eizellen. Ist ausreichend Feuch- tigkeit vorhanden, schwimmen die Spermatozoiden zu den Eizellen und befruch- ten diese. Aus der befruchteten Eizelle, der Zygote, wächst ein diploider Sporophyt heran. Sporophyten sind die diploide Generation der Pflanzen, die in der Lage ist, Sporen zu produzieren. Im Fall der Farne ist der Sporophyt die uns bekannte Farn- pflanze mit ihren Wedeln. An der Unterseite der Farnwedel bilden sich die Sporen- behälter (Sporangien). In einem zentral stehenden Gewebe dieser Sporangien bilden sich die Sporenmutterzellen, aus denen durch Meiose die Sporen (Meiospo- ren) werden. Diese werden, wenn die Sporangien reif sind und aufplatzen, durch den Wind verbreitet. Einen Überblick über einen solchen heterophasischen Gene- rationswechsel gibt (Abbildung 6.1. Während bei den Farnen der Sporophyt die augenfällige Pflanze ist, ist die grüne uns bekannte Moospflanze der Gametophyt, also die haploide Generation. Dagegen ist der Sporophyt bei den Moosen keine eigenständige Pflanze, sondern sitzt dem Gametophyten als kleine Kapsel mit Stiel auf und wird von ihm ernährt. Einen sekundären Generationswechsel machen beispielsweise die Trematoden (Saugwürmer) durch. Zu ihnen gehören der Kleine Leberegel und der Pärchenegel, der die Bilharziose verursacht. Beim Pärchenegel schlüpfen aus den befruchteten 6.4 Entwicklung des Keims bei Tieren 173 bisexuelle Generation form Adult bef ruc h tete sE i m Miracidien cidiu Cer Cercarien Mira car ie te zys oro rsp tte Tochte rspor Mu ozyst e unisexuelle Generation ( Abb. 6.2: Entwicklungszyklus des Pärchenegels (Schistosoma). Eiern im Wasser Wimperlarven (Miracidien). Diese besiedeln einen Zwischenwirt (meistens Schnecken). Es kommt zur Entwicklung von Mutter- und Tochtersporo- zysten, aus denen dann Cercarien entstehen. Die Entstehung dieser Zwischensta- dien beruht auf Parthenogenese. Die Cercarien verlassen den Zwischenwirt und suchen den Endwirt, in diesem Fall den Menschen, auf. Im Wirt entwickeln sich die Cercarien zu erwachsenen Pärchenegeln. Die Egel paaren sich und das Weib- chen legt Eier, die über den Kot ausgeschieden werden und sich zu Miracidien entwickeln ((Abb. 6.2). Bei vielen Parasiten ist der Generationswechsel mit einem Wirtswechsel verknüpft. 6.4 Entwicklung des Keims bei Tieren Kurz nach der Befruchtung beginnt die Zygote sich zu teilen, man spricht in die- sem Fall von einer Furchung. Es handelt sich um eine rasche Folge von mitotischen Teilungen ( Kap. 1.6.1), bei der die Zellen nicht wachsen, sondern das Cytoplasma der Zygote auf die Zellen verteilt wird. Die so entstandenen Zellen werden auch als 174 6 Fortpflanzung und Ontogenese animaler Pol Ektoderm Grauer Halbmond Urdarmdach 1 vegetativer Pol Urdarm Zygote Urdarmboden 7 2 Zweizell- Ektoderm stadium Urdarmdach Urdarmboden 3 8 Morula Blastulahöhle Ektoderm (Blastocoel) Mesoderm Randzone 4 Entoderm Blastula (Querschnitt) 9 Chorda Neuralplatte Blastocoel Ursegmente Urdarm Darm Seitenplatte Ektoderm Urmund Entoderm 10 5 Urdarmboden Ursegmente Neuralrohr Urdarm Blastocoel Chorda Nierenanlage Bauchfell Darmlumen Darm 6 11 Schwanzknospe Epidermis ( Abb. 6.3: Entwicklung eines Amphibien-Eies. Das sich bildende Mesoderm ist schraffiert dar­gestellt. 6.4 Entwicklung des Keims bei Tieren 175 Blastomere bezeichnet. Aus einer Zygote entstehen also zunächst zwei, dann vier, dann acht, 16, 32 usw. Zellen. Aus dem befruchteten Ei wird ein mehrzelliges Gebilde, das einer Maulbeerfrucht ähnelt und daher als Maulbeerkeim oder Morula bezeichnet wird. Aus diesem lockeren Zellhaufen entwickelt sich dann der Blasen- keim, die Blastula, indem sich in der Mitte ein mit Flüssigkeit gefüllter Hohlraum (das Blastocoel) bildet. Dabei rücken die Zellen nach außen und flachen sich ab, sodass sich eine glatte Hohlkugel bildet (siehe (Abb. 6.3). Dabei sieht diese Hohl- kugel nicht bei jeder Tierart gleich aus, sondern ihr Aussehen ist abhängig von dem Dotterreichtum des Eies. Grundsätzlich unterscheidet man bei den Eiern einen ani- malen und einen vegetativen Pol. Zwischen beiden ist eine schwach pigmentierte Zone, als grauer Halbmond zu erkennen. Mit dem Erscheinen des grau­­en Halbmon- des sind die Achsen (rechts-links, dorsal-ventral) festgelegt. Am vegetativen Pol befindet sich der Dotter, er dient der Ernährung des sich entwickelnden Keimes. Der animale Pol dagegen ist dotterarm. Die Zellen des animalen Pols teilen sich rascher als die des vegetativen Pols. Daher liegt das Blastocoel bei dotterreichen Eiern, z. B. bei denen der Frösche, am animalen Pol. An dieses Blastula-Stadium schließt sich das Gastrula-Stadium an, der zu die- sem Stadium führende Vorgang ist die Gastrulation. Dazu kommt es zunächst zu einer Einstülpung der Wand des Blastula-Keims, wodurch eine spaltförmige Öff- nung, der Urmund, entsteht. Das Material, das in den Hohlraum einwandert, bil- det den Urdarm. Die Gastrula ist doppelwandig, es existiert nun das äußere Keim- blatt (Ektoderm). Außerdem differenziert man in das obere dünne Urdarmdach und den inneren dicken Urdarmboden. Mit Fortschreiten der Gastrulation schiebt sich das Urdarmdach zwischen Urdarmboden und Ektoderm. Man kann nun drei Schich- ten unterscheiden: das äußere Ektoderm, das innere Entoderm (inneres Keim- blatt) und das zwischen beiden liegende Mesoderm (mittleres Keimblatt). An die Gastrulation schließt sich die Organogenese (Organbildung) an, die mit der Neu- rulation beginnt. Dazu flacht sich das über dem Urdarmdach liegende Ektoderm ab, es bilden sich Wülste, die sich immer mehr annähern und schließlich mitein- ander verschmelzen. Dadurch entsteht ein Rohr, das Neuralrohr. Die sich durch das Abflachen bildende Platte wird Neuralplatte genannt, die Wülste heißen Neu- ralwülste. Es ist die erste Anlage des Zentralnervensystems, aus dessen vorderem Teil sich das Gehirn und aus dessen hinterem Teil sich das Rückenmark entwickelt. Der Keim wird nun als Neurula bezeichnet. Anschließend wächst der Keim in die Länge, Kopf und Schwanz heben sich ab, es entstehen die Extremitäten und aus den seitlichen Ausstülpungen des Hirnbläschens bilden sich die Augen. An der Neuralplatte sondern sich die Neuralleisten ab, deren Zellen einzeln auswandern und aus denen bestimmte Strukturen hervorgehen (&Tab. 6.1). Was genau den Keim dazu veranlasst, bestimmte Entwicklungsschritte zu voll- ziehen, ist auch heute noch nicht eindeutig verstanden. Offenbar spielen bei der Zellbewegung der Gastrulation aber bestimmte Oberflächenmoleküle, die Glyko- proteine Laminin und Fibronektin, eine Rolle. Während der ersten Furchungs- schritte ist es wahrscheinlich die unterschiedliche Verteilung des Cytoplasmas und damit auch von dessen Inhaltsstoffen, die für eine Bildung beispielsweise der Körperachsen sorgt. Danach sind es die Interaktionen zwischen den Zellen, die für eine unterschiedliche Genaktivität sorgen und somit eine Spezialisierung der Zel- 176 6 Fortpflanzung und Ontogenese & Tab. 6.1: Keimblätter und die sich daraus entwickelnden Organe und Gewebe sowie die Abkömmlinge der Neuralleistenzellen. Keimblatt Organe bzw. Gewebe Ektoderm Haut und Nägel Sinnesorgane der Oberhaut Nervensystem Augenlinse Labyrinth im Innenohr Zahnschmelz Anfang und Ende des Darmkanals Mesoderm Knorpel und Knochen Herz und Blutgefäße Lymphgefäße Muskulatur Exkretionssystem Geschlechtsorgane Bindegewebe Nebennierenrinde Entoderm Auskleidung (Epithel) des Magen- und Darmtrakts und der Atemorgane Harnblase und Harnröhre Leber Bauchspeicheldrüse Schilddrüse und Nebenschilddrüse Neuralleistenzellen Nebennierenmark Zellen des peripheren Nervensystems, z. B. Neuronen des Sympathikus, Schwann-Zellen (Myelinscheide) Hirnhäute Pigmentzellen Dentinkeime der Zähne Proto- und Deuterostomier Bei den Protostomiern (den Urmundtieren) wird der ursprünglich im Keim angelegte Urmund auch der spätere Mund. Typisch für Protostomier ist außer- dem das bauchwärts gelegene Nervensystem (Bauchmark) und das rückenwärts gelegene Herz. Zu den Protostomiern gehören niedere Tiere wie Würmer, Mol- lusken und Arthropoden (Gliedertiere). Anders verläuft die Entwicklung bei den höheren Tieren wie z. B. den Echinodermaten (Stachelhäuter) und den Wirbel- tieren. Sie sind Deuterostomier (Neumundtiere), bei denen sich durch das Län- genwachstum der Urmund verkleinert und zum späteren After wird. An dem dem Urmund entgegengesetzten Ende bildet sich eine neue Mundöffnung. Kon- sequenz dieser Umbildung ist das meist dorsal liegende Nervensystem (Rücken- mark) und das bauchwärts liegende Herz. 6.5 Entwicklung bei Samenpflanzen 177 len vorantreiben. Verantwortlich sind hier chemische Signale. Durch Versuche konnte gezeigt werden, dass z. B. die Zellen bis zum Gastrulastadium beim Molch noch in der Lage sind, alle Gene zu aktivieren und einen neuen Organismus ent- stehen zu lassen. Ab dann aber sind sie festgelegt in ihrem Entwicklungspro- gramm, sie sind determiniert. 6.5 Entwicklung bei Samenpflanzen Wie bereits für die Moose und Farne beschrieben, durchlaufen auch Samenpflan- zen einen Generationswechsel ( Kap. 6.3). Allerdings ist bei ihnen der Gameto- phyt stark reduziert und nur Teil des Sporophyten. Der Sporophyt ist die bekannte Pflanze, also ein Baum, Strauch oder ein Kraut. Der männliche Gametophyt ist das Pollenkorn mit dem Pollenschlauch. Der weibliche Gametophyt ist der Embryo- sack, der von der Samenanlage ernährt wird. Die Blüte trägt die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane der Pflanze und ist außerdem vielfach noch von einer Hülle umgeben, die aus sterilen Blättern besteht. Der weibliche Teil sind die Fruchtblätter, die in ihrer Gesamtheit Gy­­ noeceum genannt werden und die Samenanlagen tragen. Letztere liegen bei den Nacktsamern (Gymnospermen) frei und sind bei den Bedecksamern (Angiospermen) vom Fruchtknoten umgeben, der sich aus den Fruchtblättern bildet. Der Frucht- knoten läuft im Griffel aus, dessen oberer Teil die Narbe bildet. Narbe Griffel Mikropyle äußeres Integument inneres Integument Eiapparat (Eizelle und Synergiden) sekundärer Embryosack Embryosackkern Nucellus Antipoden Chalaza (Nabelfleck) Funiculus Fruchtknotenwand ( Abb. 6.4: Aufbau der Samenanlage. 268 11 Evolution Das Wort Evolution bedeutet langsame, allmähliche Entwicklung. Die Evolution behandelt also die stammesgeschichtliche Entwicklung der Lebewesen auf der Erde. Die heutige Artenvielfalt (ca. 1,5 Millionen Tierarten und 400.000 Pflanzenarten) hat sich im Laufe der letzten Jahrmillionen entwickelt. Dabei sind heutige Arten aus einfacheren Vorfahren hervorgegangen. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen, sondern findet auch weiterhin statt. Für uns wirken die Arten nur unveränderlich, da der Vorgang der Artbildung sich in sehr großen Zeiträumen abspielt. 11.1 Evolutionstheorien Jahrtausendelang war die Schöpfungslehre grundlegende Theorie für die Entste- hung der Arten. Nach einem göttlichen Schöpfungsplan sollen die Arten entstan- den und in ihrer Ausprägung unveränderlich sein. Erst im 18. Jahrhundert führte die genauere Beschäftigung mit der Natur langsam zum Aufkommen neuer Theo- rien der Artentstehung. Als Erster ordnete Carl von Linné (1707–1778) die Orga- nismen in systematische Kategorien; er führte die binäre Nomenklatur ein, bei der jede Art einen zweiteiligen Namen erhält. Der erste Name benennt die Gattung, der zweite die Art, z. B. heißt die Honigbiene Apis mellifera, Apis benennt die Gattung, mellifera kennzeichnet die Art. Linné vertrat hinsichtlich der Evolution die dem Schöpfungsbericht angelehnte Lehre von der Konstanz der Arten. Georges Baron de Cuvier war Begründer der Paläontologie und der vergleichenden Anato- mie. Cuvier untersuchte die Abfolge von Fossilien (Versteinerungen, Überreste von Tieren und Pflanzen) im Pariser Becken. Dabei konnte er feststellen, dass in jeder Schicht charakteristische Fossilien zu finden waren und dass die Fossilien tieferer Schichten der heutigen Flora und Fauna sehr unähnlich waren. Auch konnte er in den einzelnen Schichten immer wieder Arten identifizieren, die in den darauffol- genden Schichten nicht mehr auftauchten. Aus diesen Erkenntnissen entwickelte Cuvier seine Theorie von der Entstehung der Arten, die Katastrophentheorie. Das Verschwinden, also das Aussterben der Arten erklärte er mit lokalen Naturkatast- rophen wie Dürren oder Überschwemmungen. Danach sollen andere Arten aus benachbarten Regionen das Gebiet wieder besiedelt haben. Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829) gilt als Begründer der Abstammungs- lehre; er deutete die Ähnlichkeiten und Übergänge der Arten als zeitliche Abfolge. Er ging also von einem kontinuierlichen Artenwandel aus. Allerdings führte er die Veränderungen der Arten auf den Gebrauch oder Nichtgebrauch von Organen zurück. Dadurch sollte es bei veränderten Umweltbedingungen zur Veränderung von Organen oder Körperteilen kommen. Schlussendlich sollten solche im Laufe des Lebens erworbenen Eigenschaften vererbt werden. Somit müsste das stän- dige Recken des Halses bei Giraffen, um an das Laub der Bäume zu kommen, dazu führen, dass der Hals sich verlängert und dass diese Eigenschaft dann an die Nachkommen weitergegeben wird. Dementsprechend führte der dauernde Aufent- halt von Maulwürfen unter der Erde aufgrund des Nichtgebrauchs der Augen zu einer Erblindung, die dann an die Nachk

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