Wirtschaftsethik VWL PDF
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This document is part of a course on business ethics from a Christian perspective. It explores various models of business ethics focusing on their integration with economic principles. It analyzes the relationship between economic systems and ethical considerations, highlighting the interplay of values, motivations and consequences.
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Wirtschaftsethik in christlicher Perspektive Prof. Dr. Markus Vogt Teil 1. Methodische Grundlagen und theologische Perspektiven 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Fortschritt und Risiko...
Wirtschaftsethik in christlicher Perspektive Prof. Dr. Markus Vogt Teil 1. Methodische Grundlagen und theologische Perspektiven 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 1 Einführung Wirtschaft und Ethik – ein spannungsreiches Verhältnis… Ebenso wie das Gebot „du sollst nicht töten“ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen“ sagen. Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht. (Evanglii gaudium 53) „Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ (Mt 6,24) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 2 Einführung Wirtschaft und Ethik – ein spannungsreiches Verhältnis… Der Kapitalismus führt systemnotwenig zu immer mehr Ungleichheit. Entwicklungsphasen zunehmender Gleichverteilung des Reichtums sind begrenzte Ausnahmen. 2016 Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 3 Einführung Wirtschaft und Ethik – ein spannungsreiches Verhältnis… Die Armen brauchen nicht Almosen, sondern Zugang zum Markt, um ihre Fähigkeiten zu entfalten und die Armut dauerhaft zu überwinden. (Muhammad Yunus) Muhammad Yunus, aus Indien, 1983 Gründung der Grameen Bank, „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten 2006 Friedensnobelpreis unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen …“ (Mt 10,16) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 4 Einführung Wirtschaft und Ethik – ein spannungsreiches Verhältnis… Die populistischen Antworten auf die wirtschaftlichen Probleme machen alles nur noch schlimmer. Nun wollen die französische und die deutsche Regierung den Wettbewerb schwächen. Dabei ist die richtige Antwort freiheitliche Wirtschaftspolitik. Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Institutes „Das historisch beispiellos hohe Niveau von Wohlstand, Freiheit und sozialer Sicherheit, das derzeit [8,2 Mrd.] Menschen auf der Erde genießen, ist wesentlich der Dynamik moderner Marktwirtschaft zu verdanken.“ Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 5 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Die positiven Seiten der modernen Wirtschaft Wirtschaft ist… → das System der Beschaffung, Herstellung und Verteilung von Gütern. → treibender "Motor" der Weiterentwicklung moderner Gesellschaften. → dezentrale Organisationsform des Marktes Freiheit und Demokratie Hohes Maß an Existenzsicherung, Freiheitsentfaltung und Wohlstand. Moderne Wirtschaft ist Innovativwirtschaft, sie befriedigt nicht nur vorhandene Bedürfnisse, sondern weckt sie auch durch Werbung. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 6 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Die negativen Seiten der modernen Wirtschaft Dreifache Externalisierung der Kosten moderner Wirtschaftsweise: → Ablagerung der Kosten a) auf die Armen, b) auf die Natur und c) auf die Zukunft. Extreme Ambivalenz von Überfluss und Armut, Zukunftswissen und Kurzfristoptimierung, Wohlstand und Umweltzerstörung Reichtum und Depression (vgl. Y. Harari) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 7 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Ethik in der Wirtschaft → ein pragmatistischer Ansatz „Theologie muss bereit sein, von den Wissenschaften zu lernen und sich belehren zu lassen.“ (Homann) Nicht Ethik für die Wirtschaft, sondern Ethik in der Wirtschaft. Pragmatischer Ansatz: inhärent vorhandene Zielvorstellung aufdecken und kritisch erweitern. Wohlstandsstreben in ein umfassendes Verständnis von menschlich- kultureller, sozialer und ökologischer Entwicklung integrieren. Homann, Karl u.a.: Ökonomik und Theologie, München: RHI 2009 Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 8 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Die gesellschaftstheoretische Ebene: Wirtschaft als autonomes Subsystem Ausdifferenzierung der Gesellschaft in relativ autonome Subsysteme und Kultursachbereiche Leitendes Funktionsgesetz der Marktwirtschaft: → binärer "Code": Gewinn / Verlust (Luhmann) Die Spezialisierung der Teilsysteme ermöglicht eine hohe Effizienz, Flexibilität und Produktivität. Konsequenz: moderne Gesellschaften sind nicht normintegriert, sondern pluralistisch und „offen“. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 9 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Die entscheidungstheoretische Ebene: Ökonomik als Vorteilsmaximierung In entscheidungs- oder handlungstheoretischer Perspektive steht die Ökonomie für den Rationalitätstyp der Vorteilsmaximierung. „Ökonomischer Imperialismus (G.S. Becker) Das Nützliche (utile) ist ein konstruktiver, jedoch partikulärer Aspekt von Ethik. Nida-Rümelin, J.: Die Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie, München 2011. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 10 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Modelle für die Zuordnung von Ethik u. Wirtschaft 1. Ökonomik als Teildisziplin der Ethik (a: Adam Smith) Der erste Vertreter moderner Wirtschaftsethik war Moralphilosoph. Seine Leitfrage in der „Wohlstand der Nationen“ (1776): Wie kann das Wohlstands- bzw. Glücksstreben der Individuen zum größten Gesamtnutzen integriert werden? Enger Zusammenhang zum Liberalismus der britischen Aufklärung Antwort: über die „invisible hand“ des Marktes Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 11 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Modelle für die Zuordnung von Ethik u. Wirtschaft 1. Ökonomik als Teildisziplin der Ethik (b: Eilert Herms) Nutzen- und Verteilungsoptimierung von Gütern als gemeinsames Ziel von Ökonomik und Ethik. Die Zwecke, die sich mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung und Handlungsorientierung erreichen lassen, sind begrenzt. Ökonomik ist Teildisziplin einer umfassenden Handlungs- und Gütertheorie der Ethik, die Herms „fundamentalanthropologisch“ vom christlichen Menschen- und Weltbild her entwirft. Herms, E.: Die Wirtschaft des Menschen. Beiträge zur Wirtschaftsethik, Tübingen 2000. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 12 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Modelle für die Zuordnung von Ethik u. Wirtschaft 2. Tugendethische Integration (Horst Steinmann) Tugenden lohnen sich mittel- und langfristig und stabilisieren wirtschaftliche Kooperation. Horst Steinmann/Albert Löhr: Grundlagen der Unternehmensethik, 2. Aufl. Stuttgart 1994. Hans Küng: Anständig wirtschaften, München 2010. Benedikt XVI: Enzyklika Caritas in veritate, Vatikan 2009. Küpper, H.-U.: Unternehmensethik. Hintergründe, Konzepte Anwendungsbereiche. Stuttgart 2011. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 13 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Modelle für die Zuordnung von Ethik u. Wirtschaft 3. Ökonomik als Ethik mit anderen Mitteln (Karl Homann) Moralische Intentionen müssen in die Rahmenordnung („Spielregeln“) implementiert werden. Ethik und Ökonomik werden als Paralleldiskurs verstanden, die beide auf Nutzenoptimierung zielen. Ethik ist eine „Suchanweisung“ (Heurisitk) für die Ziele. Ökonomik ist eine Theorie für deren gesellschaftliche Umsetzung. Zentrales Thema der Wirtschaftsethik sind Dilemmastrukturen, in denen individuelle und kollektive Rationalität auseinandertreten. Hayek, F.A.v.: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Kiel 1968. Homann, K.: Gewinnmaximierung und Kooperation - eine ordnungsethische Reflexion, Kiel 1995. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 14 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Modelle für die Zuordnung von Ethik u. Wirtschaft 4. Funktionsoptimierung (Bruno Molitor) Ökonomik als eine allgemeine Handlungstheorie, der die Ethik lediglich als eine Horizonterweiterung für eine umfassendere Funktionserfüllung zugeordnet wird. Der ethische Anspruch ist sowohl auf der Ebene der Rahmenordnung wie auf der Ebene der individuellen Regeltreue einzulösen. Leitfrage: Welche Zwecke lassen sich mit einer Marktwirtschaftsordnung erreichen? Molitor , B.: Ethik und Wirtschaftstheorie. Modelle ökonomischer Wirtschaftsethik in theologischer Analyse, Gütersloh 2002. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 15 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Modelle für die Zuordnung von Ethik u. Wirtschaft 5. Wechselseitige Durchdringung (Peter Koslowski) Wirtschaft und Ethik werden als zwei sich wechselseitig korrigierende und konkretisierende Theorieansätze verstanden. Ethik reflektiert die moralischen, soziokulturellen und institutionellen Voraussetzungen des Wirtschaftens und tritt bei Ökonomieversagen als Korrektiv in Erscheinung. Ökonomie konkretisiert Ethik durch eine materielle Güterlehre. Sie ist ein kommunikativ offenes Subsystem, da die Frage „Wozu?“ nicht binnenwirtschaftlich beantwortet werden kann. Koslowski, P.: Prinzipien der Ethischen Ökonomie. Grundlegung der Wirtschaftsethik, 2. Aufl. Tübingen 1994. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 16 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Modelle für die Zuordnung von Ethik u. Wirtschaft 6. Integrative Wirtschaftsethik (Peter Ulrich): Wirtschaftsethik kritisiert die Selbstgefährdung der Moderne durch die blinden Flecken der ökonomischen Logik. Ziel der Ökonomie: Lebensdienlichkeit. Die ökonomische Frage nach der Effizienz wird diskursethisch ergänzt: effizient für wen? Angeborenes Interesse an Verständigung Primat der Politik vor der Logik des Marktes. Ulrich, P.: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, 4. Auflage Bern 2008. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 17 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Modelle für die Zuordnung von Ethik u. Wirtschaft 7. Unauflösbare Spannung (Josef Wieland): Unauflösbarer Widerspruch zwischen der auf systemische Optimierung ausgerichteten Logik der Ökonomie und dem zweckfrei auf die unbedingte Würde des Menschen ausgerichteten Denken der Ethik. Wirtschaftsethik besteht im steten Ausbalancieren der beiden konträren Rationalitätstypen von Ethik und Ökonomik. Trotz des Gegensatzes kann sich Ethik lohnen, indem sie die Transaktionskosten reduziert. Diese konkretisiert sich durch: a) CSR-Modelle (Corporate Social Responsibility) und b) Governance-Ethik: Zivilgesell. Mitverantwortung im Unternehmen. Wieland, J.: Die Ethik der Governance, 5. Auflage Marburg 2007. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 18 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Modelle für die Zuordnung von Ethik u. Wirtschaft 8. Business Metaphysics (Michael Schramm): Der modernen Ökonomik liegt die „mechanische Metaphysik“ eindimensionaler Nutzenvorstellungen zugrunde, die den komplexen Handlungsbedingungen der realen Welt nicht gerecht wird. Ethik analysiert „falsche Abstraktionen“ (A. N. Whitehead) Beispiel: TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) Schramm, M.: Business Metaphysics, in: Forum Wirtschaftsethik 1/2014, 2-5. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 19 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Modelle für die Zuordnung von Ethik u. Wirtschaft 9. Befähigungsansatz (Amartya Sen): Güterknappheit kann dauerhaft nicht durch Versorgung, sondern nur durch „Befähigung“ (capacity) gemildert werden. Dies braucht Zugang zu gesellschaftlicher Interaktion wie Märkten, Arbeit, Bildung und Kultur sowie zu Grundgütern wie Wasser oder Boden. Maß und Ziel der wirtschaftl. Entwicklung: „Entwicklung als Freiheit“. „Human Development Index“ (HDI): Kaufkraft, Gesundheit und Bildung als Leitgrößen. Sen, A.: Ökonomie für den Menschen : Wege zur Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München 2002. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 20 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Modelle für die Zuordnung von Ethik u. Wirtschaft 10. Ökologische Ökonomik (Hermann Daly): Wirtschaft ist integraler Bestandteil d. ökolog. Systeme. Notwendigkeit einer Suffizienz-Ökonomie mit „qualitativem Wachstum“. „Bruttosozial-Glück“ (1979, König von Bhutan) Wie dynamisch sind die „planetary boundaries“? Daly, H. (1996): Beyond Growth, Boston. Miegel, M. (2010): Exit. Wohlstand ohne Wachstum, Berlin. Paech, N. (2012): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, München. Klein, N. (2015): Die Entscheidung: Kapitalismus versus Klima, Frankfurt. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 21 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Zusammenfassung Vereinfacht kann man die Modelle 1 – 10 für die Zuordnung von Ethik und Wirtschaft zusammenfassen als a) „Verteidigung des Marktes“ (1,3,4,), b) „Kritik des Marktes“ (6,7,8,10) und c) „moralische Einhegung des Marktes“ (2,5,9). Die Bewertung von Markt und Wettbewerb ist die systematisch zentrale Frage moderner Wirtschaftsethik. Herzog, L. / Honneth, A. (Hg.): Der Wert des Marktes. Ein ökonomisch-philosophischer Diskurs vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt 2014. Aßmann, Michael (Hg.): Handbuch Wirtschaftsethik, 2. Aufl. Berlin 2022. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 22 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Zusammenfassung Sowohl Ethik wie auch Ökonomie beruhen auf Modellannahmen, die jeweils kritisch zu hinterfragen und miteinander ins Gespräch zu bringen sind. „Charme“ der Mainstream-Ökonomik: (a) Sie nutzt Modelle, die quantifizierbar, also empirisch operationalisierbar und überprüfbar sind. (b) Mit dem Marktprinzip favorisiert sie ein Modell, das in hohem Grad selbstorganisierend und damit freiheitskompatibel ist. Ethik nimmt besonders das in den Blick, was nicht messbar oder über Marktprozesse organisierbar ist. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 23 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Das Verhältnis zwischen ethischen und ökonomischen Werten Begriffsvielfalt: – ursprünglich ökonomischer Kontext („Wertschöpfung“, Zahlungsbereitschaft) – unterschiedliche Arten von Werten: ökonomische (nützlich), moralische, religiöse, kulturelle, ästhetische (schön, sinnvoll) und ökologische (funktional) Werte – ökonomische Werte sind Tauschwerte, moralische sind Eigenwerte moralische und religiöse Werte: – ideale Formen, in denen wir die Welt als sinnvoll begreifen – (gesellschaftlich erzeugte?) Geltungskonstanten – lagern sich in kulturellen Produkten ab → Stabilisierung gesell. Lebens Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 24 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Das Verhältnis zwischen ethischen und ökonomischen Werten Immanuel Kant: Mensch ist ein „Zweck an sich selbst“ Mensch hat eine Würde und nicht bloß einen Preis → Das macht die Eigenart unseres personalen Daseins aus Deshalb: Auf Gewinn ausgerichtete Wirtschaft braucht starke Rahmenbedingungen zum Schutz der Würde des Menschen. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 25 1.1 Modelle der Wirtschaftsethik Die Komplementarität von Ethik und Ökonomik Verhältnis von Ökonomie und Ethik: – Stehen nicht in konträrem Gegensatz, sondern in einem konstruktiven Ergänzungsverhältnis: Ethik konkretisiert sich tw. in der Frage nach Güterabwägung (Kosten-Nutzen-Rechnung) in Knappheitssituationen. – Ökonomische Perspektiven können den ethischen Begründungsdiskurs nicht ersetzen: Dass etwas ökonomisch nützlich ist, heißt nicht, dass es auch ethisch gut ist. – Schwerpunkt des Beitrags der Ökonomie zur Ethik: Analyse der Strukturen und „Anreize“, die notwendig sind, um ethische Ziele in einer Gesellschaft durchzusetzen Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 26 Wirtschaftsethik in christlicher Perspektive Prof. Dr. Markus Vogt 1. Methodische Grundlagen und theologische Perspektiven 1.2 Religion als Wirtschaftsfaktor 1 Religion als Wirtschaftsfaktor 1. Kulturalistische Wende der Wirtschaftstheorie Abgrenzung gegen die Theorien der rationalen Wahl (behavioural economics) social choice (Amartya Sen) „Für den Aufbau und Verfall solcher Rationalitätsmodelle spielen […] religiös-weltanschaulichen Gewissheiten […] eine grundlegende Rolle. […] Sie legen fest, was Personen […] wollen können.“ (Herms) 2 Religion als Wirtschaftsfaktor 1. Kulturalistische Wende der Wirtschaftstheorie Das Modell der „rationalen Wahl“ wird derzeit auch demokratietheoretisch relativiert: In den gegenwärtigen Krisen hat die politische Rolle von Emotionen stark zugenommen Beispiele: Brexit, Migrationsdebatte, Verschwörungstheorien in der Corona-Krise Literatur: M. Nussbaum: Politische Emotionen (Berlin 2013) 3 Religion als Wirtschaftsfaktor 1. Kulturalistische Wende der Wirtschaftstheorie Der Bestand, die Ausbreitung und die Veränderung von religiösen Glaubensformen und ihrer Institutionalisierung wird von der jeweiligen Wirtschaftsordnung beeinflusst. Felder für die Anknüpfung an theologisch-ethische und kulturelle Faktoren innerhalb der wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung: (1) Die sachliche Erweiterung: offener Vorteilsbegriff (2) Die zeitliche Erweiterung: Nachhaltigkeit (3) Die personale Erweiterung: Interaktionsökonomik 4 Religion als Wirtschaftsfaktor 1. Kulturalistische Wende der Wirtschaftstheorie „Kulturelle Inferiorität des Milieukatholizismus im 19. Jh.“ (W. Graf) Werner Sombart: „Der moderne Kapitalismus“ (1902) „Die Juden und das Wirtschafsleben“ (1911) Max Weber: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904/5) Relig. Glaube kann wirtschaftl. Leistungen motivieren, affirmieren, stabilisieren kritisieren, bremsen, destabiliseren integrieren, sozial bändigen, einbinden 5 Religion als Wirtschaftsfaktor 2. Religiöse Motivation für wirtschaftliche Leistung „Je nach der religiös entworfenen Stellung des Menschen im Kosmos und zur Welt entwickelten sie [die Religionen] entweder Ethiken der Weltdistanz, Weltablehnung und Weltflucht oder aber Ethiken der aktiven Aneignung, Umgestaltung und Beherrschung der Welt.“ (W. Graf) „Entzauberung der Welt“ (M. Weber) → Ethos rationaler Weltbemächtigung „Wende der Vernunft nach außen“ (W. Korff) 6 Religion als Wirtschaftsfaktor 2. Religiöse Motivation für wirtschaftliche Leistung Religiöse Deutungssysteme haben die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung durch symbolische Identitäten, verlässliche Normen, soziale Integration und Bildung stabilisiert. Viele Religionen prämieren „innweltliche Askese“ und begünstigen so Investitionsverhalten (nach Max Weber bes. der Protestantismus). Biblische Regelungen zu Eigentum, Zins, gerechtem Lohn, Sabbatruhe, Fleiß und Müßiggang waren und sind wirtschaftsethische Grundorientierungen. 7 Religion als Wirtschaftsfaktor 2. Religiöse Motivation für wirtschaftliche Leistung Haupttypen des Kapitalismus – Angloamerikanischer Kapitalismus – Rheinischer Kapitalismus – Asiatischer Kapitalismus Ist der Islam modernisierungsfeindlich und „vorkapitalistisch“? Chinesischer Kapitalismus nutzt konfuzianische Leitwerte (Fleiß, Effizienz etc.) 8 Religion als Wirtschaftsfaktor 2. Religiöse Motivation für wirtschaftliche Leistung Kapitalismusfördernde Aspekte des Calvinismus: – doppelten Prädestinationslehre, – asketische Selbstdisziplinierung, – Kontrolle der Emotionen, – Stetigkeit der Lebensführung, – Pathos der Sachlichkeit, – rationale Chancenoptimierung, – Verbindung von Risikobereitschaft und Verantwortungsbewusstsein, – Lehre vom weltlichen Beruf des Christen als „Berufung“ Gegenwärtige Anknüpfung: EKD-Denkschrift „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“ (2008) 9 Religion als Wirtschaftsfaktor 2. Religiöse Motivation für wirtschaftliche Leistung Der Katholizismus näherte sich den moralischen und politischen Herausforderungen der modernen Wirtschaft von der praktische Seite Zunächst Verbot kirchlicher Gewerkschaften zur Vermeidung von Arbeitskämpfen → Entfremdung von Kirche und Arbeiterschaft. „Produktive Konkurrenz“ zwischen den christlichen Konfessionen in der Ausbildung des modernen Sozialstaates Rheinischen Kapitalismus: Synthese aus Katholizismus u. Protestantismus; Förderung von Sozialkapital, Beteiligung, Integration 10 Religion als Wirtschaftsfaktor 3. Theologische Kritik ökonomischer Rationalität Schattenseiten moderner Wirtschaft → Wiederbelebung religiöser Quellen kritischer Distanz Im Islam überlagern sich derzeit religiöse und kulturelle Aversionen gegen „westliche Überfremdung“ Alte Topoi religiöser Kritik an Habgier, Geiz und Gewinnstreben. Religionen vermitteln eine prinzipielle Transzendenz des Menschen gegenüber ökonomischen Werten. 11 Religion als Wirtschaftsfaktor 3. Theologische Kritik ökonomischer Rationalität Carl Amery: Global Exit. Die Kirche und der totale Markt (2002): – Geld als „primäre Ersatzreligion der Gegenwart“ – Totalisierung ökonomischer Werte; Überantwortung des Weltschicksals ans Kapitalinteresse – Widerstand gegen den „Tanz ums goldene Kalb“ als zentrale spirituelle und gesellschaftliche Herausforderung der Gegenwart. „Es ist vorauszusehen, dass unsere Lebenswelt im Laufe des anbrechenden Jahrtausends zusammenbrechen wird. Dieser Prozess wird beschleunigt und unumkehrbar gemacht durch den Sieg des totalen Marktes, der alle natürlichen Ressourcen aufzehrt und sich als alternativlos darstellt. Dadurch wird er zur Ideologie und zum Religionsersatz. [...] Gefordert ist ein Exodus aus dem Sklavenhaus des globalen Kapitalismus.“ (Amery) 12 Religion als Wirtschaftsfaktor 3. Theologische Kritik ökonomischer Rationalität Hintergrund: Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion, 1921 Kapitalismus als „Religion aus bloßem Kult ohne Dogma“ „Demontage des Sollens durch die Ökonomisierung aller Lebensbereiche“ Werbung als „Seelsorge des totalen Marktes“ Kapitalismus als „Parasit des Christentums“ Herausforderung an christliche Spiritualität, Willenskraft und Organisationsfähigkeit. „Es geht um die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit des Heils.“ (Amery) 13 Religion als Wirtschaftsfaktor 3. Theologische Kritik ökonomischer Rationalität Hörich, J.: Man muss dran glauben. Die Theologie des Marktes, München 2013 - Religiöse u. ökonomische Kontingenzbewältigung: Gott- und Geldvertrauen - Die kapitalistische Bonifizierung des Malum – Schöpferische Zerstörung - Schuld und Schulden – Deckungsproblem - Ökonomische-theologischen Aufklärung Von der unsichtbaren Hand zu sichtbaren Händen 14 Religion als Wirtschaftsfaktor 3. Theologische Kritik ökonomischer Rationalität Die radikale theologisch-ethische Kritik der gegenwärtigen Ökonomie findet sich in zahlreichen Büchern, z.B. Friedhelm Hengsbach: Teilen, nicht töten, Frankfurt 2014 15 Religion als Wirtschaftsfaktor 4. Wirtschaftsethische Integration durch Religion Kritik der Kritik von Amery: Wird bei ihm die Kritik der Ökonomie zur Ersatzreligion? Wer die existentielle Not der Armen ernst nimmt, weiß eine effektive und freiheitliche Wirtschaft zu schätzen. Das Verhältnis von Mensch und Wirtschaft vom Kopf auf die Füße stellen: „Ökonomie für den Menschen“ Religionen und religiös-kulturelle Mentalitäten müssen sich im globalen Wettbewerb bewähren. Förderung des soz. Kapitals d. Gesellschaften → Vertrauensbildung u. Dialogfähigkeit aktivierende Hilfe für die Marginalisierten 16 Religion als Wirtschaftsfaktor 4. Wirtschaftsethische Integration durch Religion Marktgesetzte lassen sich nicht unmittelbar von moralischen und religiösen Gesichtspunkten her regulieren („Autonomie“ der Sachbereiche“) Christliche Spiritualität: Befähigung zu Verantwortung Umgang mit Geld: „heilsame Erdung christlicher Spiritualität“ (A. Grün) Die europäische Lebensform ist wesentlich aus einer produktiven Synthese von religiöser Vertrauensbildung und Solidarität mit Mentalitäten wirtschaftlicher Innovation und Effizienz entstanden. 17 Religion als Wirtschaftsfaktor 4. Wirtschaftsethische Integration durch Religion Die Ökonomie von Gut und Böse (Sedlácek) Metaökonomie: Reflexion der (oft unbewussten) Modellannahmen, innerhalb derer die jeweiligen Vorstellungen von Nutzen und „gutem leben“ sich abspielen Die Meta- oder Protoökonomie ist stark von kulturellen und religiösen Mustern geprägt. Die Ökonomie ist hat überwiegend normativen Charakter Beispiele für Metaökonomie Arbeit als ursprüngliche Berufung des Menschen: ökonomisch höchst relevanter, 4000 Jahre alter Mythos. Fortschrittsvorstellungen Die „invisible hand“ (A. Smith) als quasi göttliche Kraft 18 Fragen 19 Wirtschaftsethik in christlicher Perspektive Prof. Dr. Markus Vogt 1. Methodische Grundlagen und theologische Perspektiven 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Katholischen Soziallehre Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 1 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Zum Verhältnis zwischen kirchlicher Sendung und Fragen der Wirtschaftsordnung Einsatz für Gerechtigkeit ist originärer Bestandteil der prophetischen Dimension des jüdisch-christlichen Glaubens. Fallen darunter auch wirtschaftsethische Fragen? Sind wirtschaftsethische Fragen als Bestandteil des kirchlichen Sendungsauftrags und als originäre Form des Glaubenszeugnisses und der Verkündigung anzusehen? Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 2 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Zum Verhältnis zwischen kirchlicher Sendung und Fragen der Wirtschaftsordnung Anlass für die erste päpstliche Sozialenzyklika „Rerum novarum“ (1891): – Arbeiterfrage – Verbot kirchlicher Gewerkschaften bzw. der Mitgliedschaft v. Katholiken bei Gewerkschaften – Die Arbeiter fühlten sich in ihrem Elend allein gelassen → Entfremdung zw. Kirche u. Arbeiterschaft – Wollte die Kirche nicht den Zugang zum Arbeitermilieu verlieren → Handeln auf ordnungspolitischer Ebene nötig Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 3 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Zum Verhältnis zwischen kirchlicher Sendung und Fragen der Wirtschaftsordnung Gründergestalten für Aufgreifen der soz. Frage auf lehramtlicher Ebene: – Bischof Ketteler aus Mainz – Bischof Vincenzo G. Pecci von Perugia (der spätere Papst Leo XIII.) – Heinrich Pesch – Gustav Gundlach SJ – Oswald von Nell-Breuning SJ Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 4 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Zum Verhältnis zwischen kirchlicher Sendung und Fragen der Wirtschaftsordnung Drei Argumente für das Verständnis des Kampfes gegen soziale Not als Teil des Sendungsauftrags der Kirche: 1. Ursachen der Verelendung der Arbeiterschaft → ordnungspolitischer Natur → Daher: Stellungnahme auf dieser Ebene als Teil der kirchlichen Verantwortung und des kirchlichen Sendungsauftrags verstanden. → Papst Leo XIII. und Bischof Ketteler betrachteten die soziale Frage ausdrücklich als Herausforderung für die Kirche. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 5 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Zum Verhältnis zwischen kirchlicher Sendung und Fragen der Wirtschaftsordnung Drei Argumente für das Verständnis des Kampfes gegen soziale Not als Teil des Sendungsauftrags der Kirche: 2. Aus der religiösen Sendung der Kirche fließen „Auftrag, Licht und Kraft, um der menschlichen Gemeinschaft zu Aufbau und Festigung nach göttlichem Gesetz behilflich zu sein.“ (vgl. GS 42). → „Gaudium et spes“: symb.-krit. Handlungstheorie d. Kirche → Aufgabe der Kirche → Heilswillen Gottes durch das Handeln für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit auszudrücken Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 6 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Zum Verhältnis zwischen kirchlicher Sendung und Fragen der Wirtschaftsordnung Drei Argumente für das Verständnis des Kampfes gegen soziale Not als Teil des Sendungsauftrags der Kirche: 3. „Die theologische Dimension (…) [ist] für die Interpretation wie für die Lösung der heutigen Probleme des menschlichen Zusammenlebens (…) unabdingbar.“ (CA 55,2) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 7 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Systematische Grundlagen der katholischen Soziallehre: - Anthropologie (Christliches Menschenbild; naturrechtlicher Ansatz) - Sozialprinzipien (Personalität, Solidarität, Subsidiarität, Nachhaltigkeit) - „Dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus? Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 8 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Systematische Grundlagen der katholischen Soziallehre: Kritischen Rückfragen: Hengsbach/Emunds/Möhring-Hesse: Jenseits katholischer Soziallehre, Düsseldorf 1993. - „Im Schneckenhaus des Naturrechts“ - Durch abstrakte deduktive Theoriebildung „strukturkonservative“ Neigung Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 9 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Wirtschaftsethische Themen einzelner Sozialenzykliken Rerum novarum (1891, Leo XIII.): soziale Frage des 19. Jahrhunderts als Ausgangspunkt in Deutschland besonders die katholisch soziale Bewegung und die umstrittene Gründung katholischer Gewerkschaften will Alternative zum Sozialismus bieten will die tiefe Kluft, die sich zwischen der verarmten industriellen Arbeiterschaft und der Kirche gebildet hatte, überbrücken. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 10 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Wirtschaftsethische Themen einzelner Sozialenzykliken Quadragesimo anno (1931, Pius XI.): Anlass: Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit Kapitalistische Arbeitsweise wird als nicht in sich schlecht (QA 101) beurteilt. Kapitalistische Klassengesellschaft wird jedoch streng verurteilt. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 11 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Wirtschaftsethische Themen einzelner Sozialenzykliken Populorum progressio (1967, Paul VI.) Entwicklung als eine weltweite, für einen großen Teil der Menschen illusorische Hoffnung, als Pflicht für alle (PP 44) zentrales Anliegen: ökonomische Engführung des Begriffs „Entwicklung“ aufbrechen, ganzheitliches Verständnis von politischer, sozialer, wirtschaftlicher, kultureller, persönlicher und religiöser Entwicklung (PP 6-42). Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 12 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Wirtschaftsethische Themen einzelner Sozialenzykliken Laborem exercens (1981, Johannes Paul II.): Äußerer Anlass: 90 Jahre Rerum novarum Innerer Anlass: Problem der zunehmenden Substitution menschlicher Arbeit durch Technik: spirituelles Kapitel über das Engagement für die gesellschaftliche Ordnung als Glaubenspraxis (LE 25) Zentraler Gedanke: Würde der menschlichen Arbeit wurzelt zutiefst in ihrer subjektiven Dimension (LE 6), da der Mensch in der Arbeit mehr zum Menschen wird (LE 9) Vorrang der Arbeit vor dem Kapital (LE 12), das Eigentum soll der Arbeit dienen; Bestimmung der Güter für alle (LE 14, auch CA häufig). Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 13 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Wirtschaftsethische Themen einzelner Sozialenzykliken Sollicitudo rei socialis (1987, Johannes Paul II.): Sollicitudo = Unruhe, Besorgnis Anlass: 20 Jahre Populorum progressio Bilanz über 20 Jahre Entwicklungshilfe anthropologisch und theologisch vertiefter Begriff von Entwicklung Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 14 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Wirtschaftsethische Themen einzelner Sozialenzykliken Centesimus annus (1991, Johannes Paul II.): Anlass: – 100 Jahre Rerum novarum – v.a. Zusammenbruch des Sozialismus 1989 als Ereignis von „weltweiter Bedeutung“ (CA 26, 1) Keine Verabsolutierung des Kapitalismus Die Kritik am Konsumismus richtet sich „nicht so sehr gegen ein Wirtschaftssystem als gegen ein ethisch-kulturelles System. Die Wirtschaft ist ja nur ein Aspekt, eine Dimension der Vielfalt des menschlichen Handelns.“ (CA 39, 4). Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 15 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Wirtschaftsethische Themen einzelner Sozialenzykliken Caritas in Veritate (2009, Benedikt XVI.): Die Enzyklika versteht sich als Fortschreibung von Pp (1967) und Srs (1987) Globale Gerechtigkeit als zentrale Schicksalsfrage der heutigen Menschheit angesprochen Globale Armut als „Skandal schreiender Ungerechtigkeit“ gekennzeichnet (Nr. 22 und 24) Schwerpunkt der Enzyklika: Wirtschaftsethische Reflexion; Prinzip der Unentgeldlichkeit, Zivilökonomie Prinzip der Subsidiarität & Bedeutung d. gesell. Akteure hervorgehoben Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 16 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Wirtschaftsethische Themen einzelner Sozialenzykliken Evangelii Gaudium (2013, Franziskus): Kritik an einer Wirtschaft, die alles dem Gewinnstreben unterordnet und die die Gesellschaft spalte und „töte“. Literarische Gattung: prophetische Rede Vierfaches „Nein“: – Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung [53-54] – Nein zur neuen Vergötterung des Geldes [55-56] – Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen [57-58] – Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt [59-60] Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 17 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Wirtschaftsethische Themen einzelner Sozialenzykliken Laudato si‘ (2015, Franziskus): Umwelt- und Entwicklungsenzyklika „Über die Sorge für das Gemeinsame Haus“ Postulat einer „ganzheitlichen Ökologie“ Radikale Kritik an den „strukturell perversen Systemen“ der Wirtschaft (Nr. 52) und der konsumistischen Verwandlung des Planeten in eine „unermessliche Mülldeponie“ (Nr. 21) Klima wird als „gemeinsames Gut“ (Nr. 23-26) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 18 1.3 Wirtschaftsethische Ansätze der Kath. Soziallehre Wirtschaftsethische Themen einzelner Sozialenzykliken Fratelli tutti (2020, Franziskus): Kritik der „magischen Vorstellung“ des Marktes und des „trickle down“ Kritik der Marginalisierung kultureller Besonderheiten durch globale Märkte Raubbau ökologischer Ressourcen Profitgier auf Kosten der Ärmsten Politik darf sich nicht der Wirtschaft unterwerfen Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 19 Impulse und Fortschreibung auf der Ebene nationaler Bischofskonferenzen In Deutschland oft ökumenisch, fachlich interdisziplinär und differenziert, theologisch meist eher dünn Zahlreichen Studien der AG Weltwirtschaft (z.B. Ernährung 2024, Wachstum 2018, Sorgearbeit 2015) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 20 Wirtschaftsethik in christlicher Perspektive Prof. Dr. Markus Vogt Teil II: Maßstäbe und Orientierungen (4) Gerechtigkeit Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 1 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.1 Gerechtigkeit in biblischer Perspektive Gerechtigkeit als Anerkennung Biblische Tradition: Gerechtigkeit ( צְ דָ קָ ה, ) ִמשְְָׁפָט → kein erreichbarer Ordnungszustand, sondern: Beziehung der Anerkennung, die die Würde des Nächsten auch und gerade dann achtet, wenn er in Not ist. → zielt auf eine Dynamik zu je größerer Gerechtigkeit (Mt 5,20), die sich immer neu durch Armut und Unrecht herausgefordert sieht. Christliche Sozialethik → vorrangig strukturpolitische Fragestellung Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 2 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.1 Gerechtigkeit in biblischer Perspektive Gerechtigkeit als Anerkennung Gerechtigkeit Gottes: fast immer in Parallele zu seiner Barmherzigkeit, Gnade und Bundestreue gedacht (z.B. Ps 36,7f; Ps 71,15; Jes 46, 12f) Der Mensch ist gerecht, wenn er die Barmherzigkeit und Güte Gottes zum Maßstab seines Handelns macht. Neues Testament: δικαιοσύνη als Schlüsselbegriff (z. B. Mt 5,6.10; 6,33; 3,15; bei Lk als Hilfe gegenüber den Armen akzentuiert) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 3 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.1 Gerechtigkeit in biblischer Perspektive Ein unbequemes Erbe: die biblische Option für die Armen Solidarität mit den Schwachen gehört zur Substanz christlicher Ethik. Solidarität ist in der Bibel ein moralischer Imperativ und zugleich Ausdruck einer Gotteserfahrung Jesus steht in dieser Tradition und lebt seine Sendung wesentlich in der Zuwendung zu den Schwachen. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 4 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.1 Gerechtigkeit in biblischer Perspektive Ein unbequemes Erbe: die biblische Option für die Armen Johannes XXIII.: Erneuerung der Kirche als „Kirche der Armen“ II. Vatikanisches Konzil: – Ekklesiologisch: Distanz gegenüber irdischer Herrlichkeit und Postulat steter Bereitschaft zu Umkehr und Buße (Lumen gentium 8,3) – Sozialethisch: Diakonisches Selbstverständnis des Sendungsauftrages der Kirche (Gaudium et spes 23-32). Lateinamerikanische Kirche: „klare und prophetische, vorrangige und solidarische Option für die Armen “ (3. Vollversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Puebla ) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 5 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.1 Gerechtigkeit in biblischer Perspektive Gleichheit und Unterschiedenheit (theol.-anthropologisch) Gerechtigkeit = Konkretion der Gleichheit und Unterschiedenheit aller Menschen vor Gott Gleichheit: – Vor Gott gilt kein Ansehen der Person (Röm 2,11; Eph 6, 9) – alle existieren in derselben metaphysischen Bedürftigkeit vor Gott – alle sind gleichermaßen Ebenbild Gottes Ungleichheit: – jeder Mensch ist eine einmalige Person vor Gott mit je einmaliger Begabungskonstellation, soziokultureller Konditionierung und je einmaliger Lebensgeschichte Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 6 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.1 Gerechtigkeit in biblischer Perspektive Gleichheit und Unterschiedenheit Ethische Konsequenz des Modells der Zusammengehörigkeit von Gnade, Liebe und Gerechtigkeit: – Ungleichheit wird nicht durch den Verweis angeblicher moralischer Verdienste gerechtfertigt, sondern: – sie ist Verpflichtung, dass der Starke für den Schwachen einstehen soll. Jede Gabe ist eine Aufgabe und verpflichtet zur Weitergabe. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 7 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 2.1.2 Gerechtigkeit im Diskurs der Antike und der klassischen Soziallehre Das klassische Dreieck der Aristotelischen Gerechtigkeitstheorie von Aristoteles geprägt: Nikomachische Ethik, Buch 5 von Thomas von Aquin weiterentwickelt: Summa Theologiae II-II, 57-61 iustitia legalis - iustitia commutativa - iustitia distributiva Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 8 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.2 Gerechtigkeit im Diskurs der Antike und der klassischen Soziallehre Das klassische Dreieck der Aristotelischen Gerechtigkeitstheorie Aristoteles versteht Gerechtigkeit als Tugend: – Gerechtigkeit ist eine Grundhaltung (NE 1129a [V, 1]). – Gerecht ist, wer die Gesetze und die gleichmäßige Verteilung der Güter achtet (NE 1129b [V, 2]). – Gerechtigkeit verlangt, Gleiche gleich und Ungleiche ungleich zu behandeln. – Gerechtigkeit ist ein Mittleres zwischen Unrecht tun und Unrecht leiden (NE 1133b [V, 9]). – Gerechtigkeit ist auf das Glück sowie dessen Komponenten für das Gemeinwesen bezogen (NE 1129b [V, 3]). – Gerechtigkeit ist nicht ein partikulärer Wert, sondern „Werthaftigkeit in ihrem ganzen Umfang“ (NE 1130a [V, 3]). Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 9 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 2.1.2 Gerechtigkeit im Diskurs der Antike und der klassischen Soziallehre Das klassische Dreieck der Aristotelischen Gerechtigkeitstheorie Der übergeordnete Begriff ist iustitia legalis (Legalgerechtigkeit) – als Achtung vor dem Gesetz definiert – als allgemeine oder universale Gerechtigkeit gekennzeichnet – regelt das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft (Nikomachische Ethik 1129f) Iustitia commutativa (Tauschgerechtigkeit) Achtung der „bürgerlichen + Gleichheit“ in Form der Iustitia distributiva (Verteilungsgerechtigkeit) speziellen Gerechtigkeit Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 10 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.2 Gerechtigkeit im Diskurs der Antike und der klassischen Soziallehre Das klassische Dreieck der Aristotelischen Gerechtigkeitstheorie Da das Gesetz aufgrund seiner Allgemeinheit dem Einzelnen in je besonderen Situationen nie vollständig gerecht werden kann, bedarf es zu seiner human angemessenen Handhabung der Epikie: ἐπιείκεια „Und dies ist das Wesen der Güte in der Gerechtigkeit: Berichtigung des Gesetzes da, wo es aufgrund seiner allgemeinen Fassung lückenhaft ist.“ (NE 1137b [V, 14]) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 11 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.2 Gerechtigkeit im Diskurs der Antike und der klassischen Soziallehre Thomas von Aquin Thomas übernimmt die Dreigliederung des Gerechtigkeitsbegriffs von Aristoteles Thomas beschäftigt in besonderer Weise die Möglichkeit, dass Gesetze auch ungerecht sein können. Deshalb interpretiert er den Begriff der iustitia legalis durch das Konzept des Gemeinwohls, des bonum commune. Dieses fungiert bei ihm als übergeordnete Leitkategorie. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 12 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.2 Gerechtigkeit im Diskurs der Antike und der klassischen Soziallehre Thomas von Aquin Lex naturalis – lex divina – lex nova Die zweite wichtige Weiterentwicklung des Lex-Traktates durch Thomas gegenüber Aristoteles ist seine Einordnung in die theologische Grundlegung: a) Für ihn ist die lex naturalis letztlich Teilhabe an der lex divina b) Die Wesensfunktion der lex divina liegt darin, dass mit ihr dem menschlichen Seinkönnen das Ziel einer Vollendung eröffnet ist, das es aus der Kraft seiner endlichen Natur und Vernunft weder zu erkennen noch zu erreichen vermag. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 13 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.2 Gerechtigkeit im Diskurs der Antike und der klassischen Soziallehre „Soziale Gerechtigkeit“ in der katholischen Soziallehre Lange hat die aristotelisch-thomistische Konzeption von Gerechtigkeit die gesamte Soziallehre geprägt. Im Dreiecksschema geordnet: Es gibt Pflichten der Gesellschaftsmitglieder untereinander (Tauschgerechtigkeit), Pflichten des Staates gegenüber den Bürgern (Verteilungsgerechtigkeit) und Pflichten der Bürger gegenüber dem Staat (Legalgerechtigkeit). Dieses umfassende Ordnungsschema verlor im Rahmen der neuzeitlichen Umbruchprozesse jedoch seine Eindeutigkeit. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 14 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.2 Gerechtigkeit im Diskurs der Antike und der klassischen Soziallehre „Soziale Gerechtigkeit“ in der katholischen Soziallehre Gerechtigkeit in Quadragesimo anno mit dem Adjektiv „sozial“ versehen (Qa 57f, 71, 74, 101, 110; dt. Übersetzung: Gemeinwohlgerechtigkeit) „Versteht man unter sozialer Gerechtigkeit im weitesten Sinne jene Gerechtigkeit, die innerhalb einer wohlgeordneten Gesellschaft Geltung haben muss, so umfasst sie natürlich die legale, distributive und kommutative Gerechtigkeit zugleich.“ (H. Pesch) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 15 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.2 Gerechtigkeit im Diskurs der Antike und der klassischen Soziallehre „Soziale Gerechtigkeit“ in der katholischen Soziallehre O. v. Nell-Breuning: Soziale Gerechtigkeit = dynamische Form der Gemeinwohlgerechtigkeit, die sich in ihrer Konzeption gegen eine fertig dastehende Gesellschaftsordnung wende (Gemeinwohl = Dienstwert). „Im Mittelpunkt stehen dabei die strukturellen Voraussetzungen, die den einzelnen befähigen, seinen personalen Selbstentwurf zu verwirklichen.“ (O. v. Nell-Breuning) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 16 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.2 Gerechtigkeit im Diskurs der Antike und der klassischen Soziallehre Gerechtigkeit im Kompendium der Soziallehre „Gerechtigkeit“ gehört zu den auf häufigsten gebrauchten Lexemen im Kompendium der Soziallehre der Kirche. Dabei werden vor allem zwei Interpretationslinien entfaltet: – zum einen der biblische Zusammenhang von Gerechtigkeit und Liebe – zum anderen strukturell verstanden und in den Zusammenhängen von Wirtschaft, Arbeit und Politik verwendet. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 17 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.3 Gerechtigkeit als Fairness (Rawls) John Rawls: Gerechtigkeit als Fairness John Rawls: 1921-2002, Professor in Harvard → 1971: A Theory of Justice – Rehabilitierung der praktischen Philosophie – Erster umfassender Entwurf einer Konzeption von Gerechtigkeit im Kontext neuzeitlicher Gesellschaft – d.h. unter den Voraussetzungen der unbedingten Würde der Person und damit von Freiheit und Demokratie als Ausgangspunkt – d.h. angesichts der Probleme der Pluralität sowie der globalen und intergenerationellen Verteilungskonflikte von Gütern und Rechten Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 18 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.3 Gerechtigkeit als Fairness (Rawls) John Rawls: Gerechtigkeit als Fairness Gerechtigkeit bezieht sich nach Rawls nicht direkt auf die Ergebnisse der gesellschaftlichen Prozesse, sondern: → auf die Gestaltung der Rahmenordnung („Spielregeln“). Rawls fasst dies programmatisch unter dem Begriff „Gerechtigkeit als Fairness“ zusammen. Rawls denkt Gerechtigkeit als Vertrag zwischen freien und gleichen Individuen. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 19 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.3 Gerechtigkeit als Fairness (Rawls) John Rawls: Gerechtigkeit als Fairness In der Suche nach Kriterien für einen solchen Vertrag geht er von dem Gedankenexperiment des „Urzustandes“ aus. „Schleier des Nichtwissens“: – Ziel: Gerechtigkeitsurteile vom Einfluss des moralischen Zufalls unabhängig zu machen. – Axiom: Keiner soll wegen Dingen, für die er nichts kann, benachteiligt werden. – Die Zufälligkeit der natürlichen und sozialen Verhältnisse soll nicht zu politischen und wirtschaftlichen Vor- oder Nachteilen führen. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 20 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.3 Gerechtigkeit als Fairness (Rawls) John Rawls: Gerechtigkeit als Fairness Das Ergebnis dieses Experimentes sind folgende zwei Kriterien der Gerechtigkeit: 1. Gleiche Grundrechte für alle: „Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist“ (Rawls 2003, 81). 2. Unterschiedsprinzip (auch Differenzprinzip oder Maximin-Prinzip): Es geht darum, die Position der am schlechtesten Gestellten zu maximieren (vgl. Rawls 1991, 95-104 u. 335-337). Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 21 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.3 Gerechtigkeit als Fairness (Rawls) Was geht bei dem Standpunkt der Verallgemeinerung verloren? Soziale Beziehungen sind die Infrastruktur der Moral. Kann Gerechtigkeit ohne sie gedacht werden? Woher können wir wissen, dass wir im Urzustand so extrem risikoscheu wären, dass wir alles darauf anlegen, die schlechtest mögliche Position (worst case) zu optimieren? Wolfgang Kersting bestreitet, dass die Unterscheidung zwischen Verdientem und Unverdientem hinreichend gelingen könne. Martha Nussbaum: Ansatz der „Befähigungsgerechtigkeit“ als kritische Weiterentwicklung bzw. Alternative zum vertragstheoretischen Konzept von Rawls Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 22 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.4 Positionen des Nonegalitarismus Angelika Krebs: Bündelung der Kritik des Egalitarismus Das Trachten nach Gleichheit führe lediglich zu einem „Verschiebebahnhof für Ungleichheiten“ Egalitarismus bloß vor dem Hintergrund der Hauptfehler des Utilitarismus (extreme Ungleichheit) attraktiv Der Egalitarismus teile wesentliche Voraussetzungen mit dem Utilitarismus Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 23 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.4 Positionen des Nonegalitarismus Michael Walzer: komplexe Gleichheit Aufgrund der Pluralität von Kultursphären sind unterschiedliche „Sphären der Gerechtigkeit“ zu unterscheiden. Gerechtigkeitsnormen sind sekundär und relativ, weil durch die historisch gewachsenen Werte und Institutionen einer Gemeinschaft geprägt. Das System einfacher Gleichheit tendiert zu Monopolbildungen und einseitigen Dominanzen → „Tyrannei“ einfacher Gleichheit. Systematisch steht dahinter eine Missachtung des Subsidiaritätsprinzips → Gerechtigkeit: Statt Gleichheitsfürsorge Kunst der Grenzziehung Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 24 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.4 Positionen des Nonegalitarismus Michael Walzer: komplexe Gleichheit „Komplexe Gleichheit“ ist eine Gleichheit die nicht nivelliert, sondern interaktionsspezifische Differenzen wahrt und schützt. Der Ansatz von Walzer geht über die Unparteilichkeitsmoral hinaus → Ethik des Hinschauens, die bes. Solidaritäts- und Loyalitätsbeziehungen als normatives Wurzelwerk gemeinsamer Lebenswelten berücksichtigt. Gleichheit als Ermöglichung von Autonomie in differenzbewusster Gleichwertigkeit Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 25 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.4 Positionen des Nonegalitarismus Wolfgang Kersting: Moral des Hinsehens „Grenzen der Gerechtigkeit“ Unparteilichkeitsmoral der vertragstheoretischen Ansätze → Ethik des Wegsehens → unvereinbarer Gegensatz zur Solidaritäts- und Loyalitätsethik des Hinsehens und der lebensweltlichen Vertrautheit Kersting plädiert für: – Suffizienzorientierte Verteilungsgerechtigkeit – An erster Stelle nicht „Gleichheitsfürsorge“, sondern „Freiheitsfürsorge“ – Ziel: „inklusionshinreichende Versorgung Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 26 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.4 Positionen des Nonegalitarismus Kritik des Nonegalitarismus Walzers Begrenzung des Gerechtigkeitsbegriffs auf die Funktion, bloß innerhalb einer bestimmten Gruppe Verteilungskonflikte zu bearbeiten, bleibt unbefriedigend. Trotz aller Problematik der „Gleichheit“ bleibt eine Gerechtigkeitstheorie, die auf sie verzichtet, normativ unscharf und beliebig. Der Fehler des Egalitarismus: Gleichheit auf Verteilungsgerechtigkeit und Nivellierung von Unterschieden verengt → Konzept der differenzbewussten Gleichheit Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 27 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.5 Differenzsensible Gleichheit Logische Grundlagen: Komplementarität von Gleichheit und Differenz Folgerungen aus der Logik der Gleichheit: Ein auf kollektive Uniformierung hin angelegtes Gleichheitsverständnis führt zu Unterdrückung von Individualität und Initiative. → anthropologisch, sozialethisch und theologisch zurückzuweisen. Strikte Eingrenzung des Gleichbehandlungsgebotes auf den Vergleichspunkt Anerkennung von Gleichwertigkeit zielt auf Ermöglichung von Beziehung. Gerechtigkeit als interaktionsspezifische Gleichheit Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 28 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.5 Differenzsensible Gleichheit Gerechtigkeit als interaktionsspezifische Gleichheit Zentrale Axiome der Aristotelischen Gerechtigkeitstheorie: – Zusammenhang von Gleichheit und Gerechtigkeit – Hinsichtlich der „ordnenden Gerechtigkeit“ folgt Aristoteles dem Proportionalitätsgrundsatz „Jedem das Seine“ → das der Würde und dem Ansehen Gebührende Handlungstheoretische Relektüre: – Streit und Aggression finden in der Gleichheit vor dem Gesetz ihr ethisches Maß – Fürsorge basiert auf solidarischer Anerkennung der Gleichheit als Bedürfniswesen und findet seinen politischen Ausdruck in der Verteilungsgerechtigkeit und im Sozialstaat – Tausch ist gerecht bei Gleichheit von Geben und Nehmen Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 29 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.5 Differenzsensible Gleichheit Legalgerechtigkeit: Streitschlichtung durch Rechtsgleichheit Gleichheit vor dem Gesetz: – „ohne Ansehen der Person“ im Rechtsstreit beurteilt zu werden – Ermöglichung, Konflikte nicht gewaltsam nach dem „Recht des Stärkeren“ auszutragen – Recht als kulturelle Entfaltung des anthropologisch grundgelegten Regelbewusstseins, durch das Aggression pazifiziert wird Recht: begrenzt, insofern es der „Ordnung des Misstrauens“ angehört, zugleich grundlegende Form von Gerechtigkeit und politischem Handeln Aristoteles ordnet die „Legalgerechtigkeit“ den anderen Formen vor. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 30 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.5 Differenzsensible Gleichheit Verteilungsgerechtigkeit Drei Begründungszugänge zur Forderung des sozialen Ausgleichs: – 1. Aus christlicher Perspektive: biblisch grundgelegt im Verständnis von Armenfürsorge als „Heilsdienst“, politisch in der Befreiungstheologie als „Option für die Armen“ entfaltet, in den Sozialenzykliken durch die Begriffe „iustitia socialis“ und „Solidarität“ aufgenommen. – 2. Aus dem rechtsstaatlichen Verständnis der Menschenwürde, durch das allen Menschen unveräußerliche Grundrechte gewährt werden, sind bestimmte Mindeststandards soziale Anspruchsrechte abzuleiten. – 3. Volkswirtschaftlich lohnt es sich nicht selten, die Schwachen zu fördern, weil der soziale Ausgleich die materiellen Voraussetzungen dafür schafft, dass der Schwächere seine Fähigkeiten entdecken und entfalten kann. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 31 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.5 Differenzsensible Gleichheit Tauschgerechtigkeit Gerecht ist die Interaktion des Tausches, wenn Geben und Nehmen im Gleichgewicht sind. Dies strukturell zu sichern, durch eine offene Wettbewerbsordnung, die Leistungen gleich bewertet und ihren Tausch ermöglicht, ist eine zentrale Aufgabe der Wirtschaftsethik. Die Formalisierung der Gleichheit als Chancengleichheit, ist in der modernen Gesellschaft die wirkmächtigste, dynamischste und zugleich umstrittenste Form von Gleichheit. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 32 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.5 Differenzsensible Gleichheit Komplementarität von Verteilungs- und Tauschgerechtigkeit Gerechtigkeit ist nur erreichbar durch eine komplementäre Zuordnung und Integration von Verteilungs- und Tauschgerechtigkeit. Dominiert der Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit, entsteht ein System von Subventionen, das zu massiven Fehlsteuerungen führt Die gerechtigkeitstheoretische Differenzierung zwischen den Sphären, Kulturen und Kulturbereichen ist ein wesentliches Merkmal der Gerechtigkeit. Außenpluralität: komplementäre Institutionen hinsichtlich ihrer Gerechtigkeitsfunktion Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 33 4. Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit 4.5 Differenzsensible Gleichheit Beteiligungsgerechtigkeit und „komplexe Gleichheit“ Politisch und wirtschaftlich kann das Gleichgewicht zwischen Tauschgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit nicht allein durch Wettbewerb auf der einen und Umverteilung auf der anderen Seite stabilisiert werden. Eine Brücke zwischen beiden bieten Teilhabe- und Beteiligungsrechte der Bürger. – Mitverantwortung für die getroffenen Entscheidungen und ihre Folgen – aktive Einbindung der Individuen in die Gesellschaft – Versorgungsstaat zu einem solidarischen Sozialstaat weiterzuentwickeln Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 34 Wirtschaftsethik in christlicher Perspektive Prof. Dr. Markus Vogt 5. Ethische Bewertung des Wettbewerbs Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 1 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 1. Über Bedingungen und Grenzen des Wettbewerbs nachdenken „Wettbewerb ist die effizientere Form der Caritas“ Christliche Ethik: – Grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Markt und Moral. – Ist der Wettbewerb mit seinem Konkurrenzdenken und Vorteilsstreben mit der biblischen Option für selbstlose Hingabe und solidarische Verantwortung für die Armen vereinbar? Karl Homann: – „Wettbewerb ist solidarischer als Teilen. Wettbewerb ist die effizientere Form der Caritas unter den Bedingungen moderner Gesellschaft.“ Mohammed Yunos: – „Die Armen brauchen fairen Marktzugang, keine Almosen. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 2 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 1. Über Bedingungen und Grenzen des Wettbewerbs nachdenken Zugleich zu viel und zu wenig Wettbewerb Wir haben zugleich zu viel und zu wenig Wettbewerb. Es fehlt an einer exakten Analyse seiner Bedingungen und Grenzen, die eine konstruktive Zuordnung zu solidarischen Prinzipien ermöglicht. Eine solche Differenzierung und Integration ist entscheidend, dass christliche Wirtschaftsethik heute überhaupt ernsthaft denkbar ist und sich nicht in moralisierendem Leerlauf verliert. „Das Soziale neu denken“ (DBK 2003) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 3 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 2. Analysen zur sozialen Dynamik des Wettbewerbs Die Verwobenheit von Konkurrenz und Solidarität Entscheidende sozialethische Frage: Wie können die Interaktionsformen des Konkurrierens und der Solidarität auf die richtige Weise miteinander verwoben werden? Forderung: Beide Verhaltensweisen auf ihre jeweiligen Voraussetzungen, Grenzen und Bedingungen hin zu analysieren, um Zuordnungen zu finden, in denen sie sich so wechselseitig durchdringen und begrenzen, dass eine konstruktive soziale Dynamik entsteht. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 4 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 2. Analysen zur sozialen Dynamik des Wettbewerbs Anthropologische Sichtweisen der agonalen Veranlagung des Menschen Wettbewerb lässt sich beschreiben als das Bestreben, andere zu übertreffen. Hierdurch kommt es in einer Wettbewerbssituation zu einem Konkurrenzverhalten. Entsteht Leistung primär durch Konkurrenzsituationen → Wettbewerbsorientierung (Psychologie) → starke anthropologische Grundlagen → agonal Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 5 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 2. Analysen zur sozialen Dynamik des Wettbewerbs Wettbewerb in der Natur und seine Transformation in Kultur und Gesellschaft Konkurrenz – Lateinisch: concurrere (‚zusammen laufen‘) – Ursprünglich: sportlicher Wettkampf im Laufen – Situativ begrenzte und klar regulierte Interaktion zur Ermöglichung von Leistungsvergleichen – Die Interaktionsform der Konkurrenz urspr. nicht gegen den oder die anderen gerichtet, sondern es handelt sich um einen Handlungstyp des Nebeneinanders – Setzt Definition, Kontrolle und Einhaltung von Regeln (+ Fairness) voraus Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 6 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 2. Analysen zur sozialen Dynamik des Wettbewerbs Psychologische Differenzen im Wettbewerbsverhalten Die psychologische und soziale Wirkung von Wettbewerb ist zweischneidig: – Sie kann die zwischenmenschliche Interaktion beleben, zu Leistungen anspornen und bei Erfolg das Selbstbewusstsein stärken – Sie kann auch zu Missgunst, Misstrauen, Angst oder Frustration führen sowie dazu, dass Ressourcen für die Selbstbehauptung im Wettbewerb verschwendet werden, die anders sinnvoller genutzt werden könnten (z.B. Wettrüsten). – Im Wettbewerbsverhalten gibt es deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede. – Das ständige Sich-Vergleichen ist oft Ausdruck schwachen Identitätsbewusstseins (Hampe) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 7 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 3. Wettbewerb: ein organisatorisches Leitprinzip moderner Gesellschaft Wettbewerb als Grundlage von Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit In modernen Gesellschaften ist die Zuweisung sozialer Positionen durch leistungsorientierte Auslese- und Wettbewerbsprozesse bestimmt. Der Wettbewerb bietet ein Gegenmodell zu einer Verteilung Ein freier, chancengleicher Wettbewerb ist jedoch eine Idealvorstellung Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 8 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 3. Wettbewerb: ein organisatorisches Leitprinzip moderner Gesellschaft Schattenseiten: Verlierer des globalen Wettbewerbs und die Externalisierung von Kosten Anhand von fünf Beispielen sollen Ambivalenzen und Schattenseiten des Wettbewerbs aufgezeigt werden: – Die Privatisierung des Fernsehens – Der demokratische Wettbewerb um Wählerstimmen – Privatisierung von staatlichen Unternehmen – Unnötige Untersuchungen im Gesundheitswesen – Vernichtung ganzer Kulturen mit ihren Sprachen, Lebens- und Wirtschaftsformen sowie zu einer wachsenden Zahl Verlierer Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 9 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 3. Wettbewerb: ein organisatorisches Leitprinzip moderner Gesellschaft Der Holzweg „mittlerer“ Kompromisse Josef Schumpeter (Ökonom): – Strukturwandel, der auch Entlassungen und Insolvenzen einschließt, ist Teil einer „schöpferischen Zerstörung“. – Politik darf diesen Prozess nicht durch Subventionen / Protektionsversprechen aufhalten. Der Versuch, sich irgendwo in der Mitte zwischen Wettbewerbs- und Solidaritätsethik zu treffen, ist nicht die richtige Lösung. → Vielmehr geht es um eine Differenzierung hinsichtlich der Voraussetzungen, Bedingungen, Strukturen und Grenzen von Wettbewerb Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 10 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 4. Ansätze zur Integration von Markt und Moral Soziale Funktion des Wettbewerbs !!!! Systematisch lassen sich die Funktionen des Wettbewerbs unter vier Gesichtspunkten zusammenfassen: Leistungsanreiz und Motivation Dezentrale Handlungskoordination und Freiheitsermöglichung Allokationsoptimierung und dynamische Wohlstandsmehrung Machtkontrolle zugunsten Dritter in anonymen Systemen Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 11 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 4. Ansätze zur Integration von Markt und Moral Die verspätete Anerkennung des Marktes in der kirchlichen Soziallehre Die kirchliche Soziallehre sprach sich erst 1991 mit der Enzyklika Centesimus annus für die sozialethische Anerkennung des freien Marktes als Ordnungsprinzip aus. Kompendium der Soziallehre der Kirche (2004): „Der freie Markt ist eine in sozialer Hinsicht wichtige Institution, weil er effiziente Ergebnisse in der Produktion der Güter und Dienstleistungen sichern kann. […] Ein wirklich von Wettbewerb bestimmter Markt ist ein wirkungsvolles Mittel, um wichtige Ziele der Gerechtigkeit zu erreichen“. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 12 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 5. Bedingungen und Grenzen des Wettbewerbs Institutionelle Rahmenbedingungen für fairen Wettbewerb Wichtigste Schlussfolgerung: – Der Staat sollte möglichst wenig durch direkte Interventionen in den Wettbewerb eingreifen. – Seine Aufgabe ist die Herstellung einer politisch-rechtlichen Rahmenordnung, die die Sicherung des Eigentums und die Vertragsfreiheit garantiert, sowie die Schaffung von Chancengleichheit durch die Verhinderung von Monopolstellungen. – Des Weiteren: soziale Sicherung – Schaffung von Leistungsäquivalenten (Geldwertstabilität) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 13 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 5. Bedingungen und Grenzen des Wettbewerbs Tugenden zur Integration von Markt und Moral Für einen fairen Wettbewerb sind nicht nur rechtliche Regelungen erforderlich, sondern es bedarf auch einer freiwilligen moralischen Mehrleistung der Individuen: (1) Die Geltung einer Rechtsordnung beruht immer auch komplementär auf der Grundlage freiwilliger Akzeptanz durch die Individuen. (2) Rechtsnormen sind oft nur sehr allgemein und müssen von den einzelnen Individuen in ihren jeweiligen Handlungsfeldern interpretiert, konkretisiert und implementiert werden. (3) Innovationen müssen von den einzelnen Akteuren in Wirtschaft, Wissenschaft und Praxis ausgehen. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 14 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 5. Bedingungen und Grenzen des Wettbewerbs Kosten des Wettbewerbs im Blick auf das Gemeinwohl Wenn der Markt zum Selbstzweck wird, findet eine Verkehrung von Mittel und Zweck statt, die ihn „zu einer unmenschlichen und entfremdenden Einrichtung mit unabsehbaren Folgen verkommen lassen kann“ (Kompendium der Soziallehre, Nr. 348). Notwendig sind moralische Zielsetzungen, die „die Autonomie des Marktes sicherstellen und gleichzeitig in angemessener Weise eingrenzen“ (Kompendium der Soziallehre, Nr. 349). Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 15 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 5. Bedingungen und Grenzen des Wettbewerbs Die positive Seite der Subsidiarität als Basis des „sozialen Kapitalismus“ Das Soziale ist unter diesem Blickwinkel eine Investition in die Entwicklung und Leistungsfähigkeit (künftiger) Marktteilnehmer. Der Sozialstaat ist eine Investition in besseres Funktionieren von Markt und Wettbewerb, Empowerment, aktivierender Sozialstaat, Hilfe zur Selbsthilfe. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 16 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 5. Bedingungen und Grenzen des Wettbewerbs !!!! Freiheit durch intelligente Selbstbeschränkung Notwendig ist eine „intelligente Selbstbegrenzung“ (Offe 1989) Die Logik des Wettbewerbs darf nicht mit der Logik von Geldmärkten gleichgesetzt werden Notwendig ist vielmehr eine Abgrenzung von „Sphären der Gerechtigkeit“ (Walzer 1992) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 17 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 6. Die Logik des Evangeliums und die Logik des Wettbewerbs „Die Letzten werden die Ersten sein“ – Transzendierung der Maßstäbe von Erfolg Es gibt wesentliche Differenzen zwischen der Deutung der Welt als Wettbewerb und der christlichen Wirklichkeitssicht: – Zentrales Ziel: ewiges Leben oder die Schau Gottes – Nicht durch Konkurrenz zum Mitmenschen, sondern durch liebende Zuwendung zu ihm öffnet sich der Mensch der Gnade Gottes. – Besonderheiten der Bibel: Sie bewahrt die Geschichten von „Scheiterern“ und Verlierern Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 18 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 7. Resümee: Die Komplementarität von Ethik und Ökonomik Resümee für eine Ethik des Wettbewerbs 1. Der Wettbewerb ist eine ethische Leitidee moderner Gesellschaft. 2. Sowohl die Entgrenzung als auch die Behinderung bzw. Verzerrung des Wettbewerbs ist in der gegenwärtig dominierenden Globalisierung der treibende Motor für eine Spaltung der Welt in Gewinner und Verlierer. 3. Notwendig ist eine zeitgemäße Weiterentwicklung des Modells der Sozialen Marktwirtschaft auf globaler Ebene, um Markt und Moral ohne Systemwiderspruch zu integrieren. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 19 Die ethische Bewertung des Wettbewerbs 7. Resümee: Die Komplementarität von Ethik und Ökonomik Verhältnis von Ökonomie und Ethik: – Stehen nicht in konträrem Gegensatz, sondern in einem konstruktiven Ergänzungsverhältnis: Ethik konkretisiert sich teilweise in der Frage nach Güterabwägung (Kosten-Nutzen-Rechnung) in Knappheitssituationen. – Ökonomische Perspektiven können den ethischen Begründungsdiskurs nicht ersetzen: Dass etwas ökonomisch nützlich ist, heißt nicht, dass es auch ethisch gut ist. – Schwerpunkt des Beitrags der Ökonomie zur Ethik: Analyse der Strukturen und „Anreize“, die notwendig sind, um ethische Ziele in einer Gesellschaft durchzusetzen Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 20 Wirtschaftsethik in christlicher Perspektive Prof. Dr. Markus Vogt 6. Ökosoziale Marktwirtschaft im Anspruch Aristotelischer Gerechtigkeit Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 1 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 1. Marktwirtschaft als Freiheitsordnung!!!! Walter Eucken: Begründer der Freiburger Schule des Ordoliberalismus und Gründungsvater der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Freiburger Schule ging in 1930er Jahren an Uni Freiburg aus Zusammenarbeit Euckens mit Juristen Franz Böhm (1895-1977) und Hans Großmann-Doerth (1894-1944) hervor Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 2 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 1. Marktwirtschaft als Freiheitsordnung Ordnungspolitische und ordnungsökonomische Grundzüge der Freiburger Schule a) Die Grundvorstellung, eine funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung der Wirtschaft sowie eine Ordnung der Freiheit zu schaffen; b) die Kritik an wirtschaftlichen Machtkonzentrationen c) die Idee der Interdependenz der Ordnungen, d.h. die Ansicht, dass die Ordnung der Wirtschaft nicht unabhängig von den anderen Teilordnungen der Gesellschaft ist d) die Auffassung, dass die rechts- und wirtschaftspolitischen Fragen mit der Idee der Wirtschaftsverfassung zusammenhängen. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 3 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 1. Marktwirtschaft als Freiheitsordnung Eucken erarbeitete ordoliberales Konzept in Abgrenzung sowohl zum klassischen Liberalismus des Laissez-faire aber auch zur Zentralverwaltungswirtschaft und zu totalitären Herrschaften zentrales Problem der modernen Wirtschaftsordnung, dass Freiheit des Menschen durch Bildung privater und staatlicher Macht bedroht wird Ablehnung der Ansichten des Laissez-faire Liberalismus, welcher von der Vorstellung getragen war, dass Wettbewerbsordnung und eine menschenwürdige Ordnung aus sich selbst heraus entstehen könnten Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 4 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 1. Marktwirtschaft als Freiheitsordnung Wettbewerbsordnung für Eucken ein Programm der Freiheit, das auch „Bedeutung für andere Lebensgebiete“ besitzt Gegenüber Zentralverwaltungswirtschaft und totalitären Tendenzen „ist es das Anliegen der Wettbewerbungsordnung, die soziale Frage im Geiste der Freiheit zu lösen und dadurch die Freiheit überhaupt zu retten.“ Eucken war klar, dass Wettbewerb kein Selbstzweck sein darf, sondern lediglich ein Ordnungsinstrument, das an Zielen der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität ausgerichtet sein muss Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 5 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 1. Marktwirtschaft als Freiheitsordnung Eintritt für starken Staat, der wie unparteiischer und unbestechlicher Schiedsrichter für Einhaltung der Spielregeln des Marktes sorgen muss, ohne sich in Spiel und Spielregeln einzumischen Der Staat hat keine neutrale Haltung gegenüber Wirtschaftsordnung, sondern spielt aktive Rolle, die in Schaffung stabiler Rechts- und Geldordnung besteht, innerhalb der sich Wirtschaftsprozesse abspielen Der Staat als Schiedsrichter hat Aufgabe, wirtschaftliche Machtkonzentrationen zu entflechten, die Realisierung der Wettbewerbsordnung verhindern Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 6 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 1. Marktwirtschaft als Freiheitsordnung Idee des Ordo-Gedankens ist zentraler mittelalterlicher theologischer Begriff Ordo-Gedanke beschreibt Annahme einer allumfassenden, gottgewollten Ordnung in allen Daseinsbereichen, die in Gott ihren Ursprung haben Auch Eucken, der sich explizit auf Ordo-Verständnis von Augustinus und Thomas von Aquin bezog, charakterisierte ihn als „sinnvolle Zusammenfügung des Mannigfaltigen zu einem Ganzen“ Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 7 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 1. Marktwirtschaft als Freiheitsordnung Euckens ordnungsökonomische und ordnungspolitische Konzeptionen weisen deutliche Parallelen zur christlichen Sozialethik auf katholische und evangelische Kirche als „ordnende Faktoren“ des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens zu betrachten seien: notwendig, dass sich Kirchen mit wirtschaftlichen Fragen auseinandersetzen sozialethische Anliegen und Ordnungstheorie der Freiburger Schule im weiteren Sinne als „eine Spielart der christlichen Sozialethik“ zu verstehen Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 8 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 1. Marktwirtschaft als Freiheitsordnung Beteiligung bei der Verfassung der Denkschrift des sogenannten Freiburger Bonhoeffer-Kreises christliche ethische Prinzipien und Gebote, die in der Nächstenliebe, in der Verteidigung des Eigentumsrechts und in menschenwürdigen Arbeitsbedingungen zum Ausdruck kommen, sollen nicht nur für Bereich der Individualethik, sondern auch für Wirtschaftsleben und verschiedene andere Ordnungen gelten Kirchen bieten keine praktischen und technischen Lösungen zu ökonomischen Fragen an, können jedoch normative Orientierung geben Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 9 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 2. Irritation: Ein Erfolgsmodell ohne Zustimmung? !!!! Soziale Marktwirtschaft: eine der genialsten ordnungspolitischen Erfindungen der Menschheit → Wirtschaftswunder der letzten 70 Jahre → Freiheit und Sicherheit. Das Ordnungsmodell der Sozialen Marktwirt- schaft entspricht dem christlichen Menschen- bild. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 10 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 2. Irritation: Ein Erfolgsmodell ohne Zustimmung? !!!! Zustimmung zur Sozialen Marktwirtschaft in der Bevölkerung nimmt rapide ab (fast 70% sind indifferent, nur 31% bewerten sie positiv) Alois Glück (Warum wir uns ändern müssen): – Heute herrscht ein „Turbokapitalismus“. – Gesetze der Produktion bestimmen unseren Lebensrhythmus. – „Eine primär nach der inneren Logik des Kapitalismus ausgerichtete Wirtschaftsordnung degradiert den Staat zur Sanitätsabteilung und zum Reparaturbetrieb.“ – „Ein Globalisierungsprozess, der … von Regeln des Freihandels bestimmt ist, ruiniert unseren Planeten und das Zusammenleben in der Weltgesellschaft.“ Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 11 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 2. Irritation: Ein Erfolgsmodell ohne Zustimmung Herausforderung: Weiterentwicklung statt Restauration Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft nur auf der Basis einer substantiellen Weiterentwicklung zur Ökosozialen Marktwirtschaft Strukturelemente Freiheit, Wettbewerb und sozialer Ausgleich müssen heute um „Naturverträglichkeit“ erweitert werden. Katholische Soziallehre/ Sozialprinzipien: Personalität Subsidiarität Solidarität Nachhaltigkeit Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 12 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 3. Orientierung: anthropologische Stimmigkeit der Sozialen Marktwirtschaft Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft ist durch die Elemente Konkurrenz, Kooperation und Solidarität geprägt Wir konkurrieren im Markt, kooperieren in der Arbeitsteilung und garantieren Solidarität in den Systemen der sozialen Sicherung. Diese Elemente müssen heute neu ausbalan- ciert werden Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 13 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 4. Strukturparallele zu den Grundelementen der Aristotelischen Gerechtigkeitstheorie!!!! Legalgerechtigkeit: antwortet auf Aggression/Selbstbehauptung („rule of law“; Gleichheit vor dem Gesetz als Maßstab) starker Staat Tauschgerechtigkeit: antwortet auf Egoismus/Nutzenstreben (Gleichheit von Geben/Nehmen; Geldwertstabilität; Markt) Verteilungsgerechtigkeit: antwortet auf Bedürftigkeit (Gleichheit der Grundbedürfnisse; Taxonomie der Dringlichkeit) Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 14 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 5. Perspektiven: katholische Grundlagen eines „sozialen Kapitalismus“ Insofern Sozialpolitik die Voraussetzungen für Leistung durch Risikoschutz, Bildungszugang und Beteiligung schafft, ist sie als integraler Bestandteil der Marktwirtschaft zu werten. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 15 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 6. Zivilökonomie als Alternative? Zivilökonomie ist eine Erweiterung der sozialen Komponente der Sozialen Marktwirtschaft Sie verstärkt den spezifisch katholischen, zivilgesellschaftlichen Zugang zum Verständnis des Sozialstaates bzw. der sozialen Verantwortung. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 16 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 7. Thesen zur Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft These 1: Die Soziale Marktwirtschaft braucht gerade unter den gegenwärtigen Bedingungen einen starken Sozialstaat. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 17 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 7. Thesen zur Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft These 2: Bildung ist der wichtigste Faktor einer wettbewerbs- und zukunftsfähigen Wirtschaft in rohstoffarmen Ländern. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 18 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 7. Thesen zur Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft These 3: Die Soziale Marktwirtschaft muss sich national und global einem Ordnungsrahmen für Öko-Soziale Marktwirtschaft weiterentwickeln. München 10/2024 Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 19 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 7. Thesen zur Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft These 4: Handwerk und der Mittelstand haben Schlüsselpotentiale für die Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 20 Öko-Sozialen Marktwirtschaft 8. Die soziale Marktwirtschaft als offene Ordnung Die Balance zwischen Konkurrenz, Kooperation und Solidarität muss persönlich wie auf der Ebene der Regeln Sozialer Marktwirtschaft immer wieder neu gefunden werden. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 21 Wirtschaftsethik in christlicher Perspektive Prof. Dr. Markus Vogt 7. Postwachstumsgesellschaft Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 1 Postwachstumsgesellschaft Gliederung 1. Fortschrittsdebatte als Konfliktzentrum der Umweltethik 2. Wege zur Messung von Wohlstand und Wachstum 3. Postwachstumsökonomie – eine Antwort auf die Krisen der Wirtschaft? 4. Ökosoziale Marktwirtschaft Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 2 1. Fortschrittsdebatte als Konfliktzentrum der Umweltethik 1. Fortschrittsdebatte als Konfliktzentrum der Umweltethik 1.1 Wachstumskritik im Zentrum des Konfliktes Fragen nach der Dynamik (spät)moderner Gesellschaft Zentraler Diskussionsgegenstand: Paradigmen von Fortschritt, Wachstum, Wohlstand → Frage nach deren Rechtfertigung führt zum Konflikt unterschiedlicher Weltbilder und Gesellschaftsmodelle Aufklärung epistemischer, gesellschaftstheoretischer, anthropol. und rel. Prämissen der Fortschrittsvorstellungen 1972: erster Bericht des Club of Rome („Grenzen des Wachstums“) → Wachstum wird zum zentralen Streitbegriff Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 3 1. Fortschrittsdebatte als Konfliktzentrum der Umweltethik Fortschritt als säkulares Äquivalent der christlichen Heilserwartung → Wachstums- und Fortschrittsglaube hat sinnstiftende Funktion Streit um unterschiedliche Fortschrittskonzepte hat sich auf Bruchlinien zwischen unterschiedlichen Interpretationen von Nachhaltigkeit verlagert. Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 4 1. Fortschrittsdebatte als Konfliktzentrum der Umweltethik 1.2 Geschichtliche Entwicklung der Fortschrittsidee Fortschritt als geschichtsphilosophische Leitkategorie im abendländischen Denken Geistesgeschichtliche Voraussetzungen: jüdisch-christliche Konzeption eines linearen Geschichtsverlaufs; Kosmologie mit Trennung von Gott und Welt, d.h. Entwicklungsfreiraum für die Welt Neuzeit: Mensch als Subjekt des Fortschritts; emanzipatorischer Anspruch der Befreiung des Menschen aus ökonomischen, politischen, religiösen, moralischen Zwängen Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 5 1. Fortschrittsdebatte als Konfliktzentrum der Umweltethik 1.2 Geschichtliche Entwicklung der Fortschrittsidee 19. Jahrhundert: Fortschritt als Aktions- und Planungsbegriff mit temporaler Perspektive verbunden mit quasi-religiösen Hoffnungen Fortschrittsskepsis: Fin de Siècle, 1. und 2. Weltkrieg Späte Moderne: Mischung aus gebrochenem und gesteigertem Fortschrittsglauben, atemlose Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 6 1. Fortschrittsdebatte als Konfliktzentrum der Umweltethik 1.3 Erschöpfung utopischer Energien? Ausrichtung auf ständige Optimierung als leitendes Grundmodell (post)moderner Gesellschaften Kritik der Fortschrittskonzepte mit Verweis auf Dialektik der Aufklärung Ökologiedebatte geprägt vom Streit zwischen „Modernisten“ und „Antimodernisten“, insbesondere in Bezug auf Technik Kombination utopischer und postutopischer Elemente Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 7 1. Fortschrittsdebatte als Konfliktzentrum der Umweltethik 1.4 Dialektik von Fortschritt und Risiko Fortschritt braucht Maßstäbe (z.B. Freiheit, Kultur, Lebensqualität, Gerechtigkeit) Risiken von Fortschritt oft langfristig, komplex, teilweise lokal entfernt Fortschrittsstreben dennoch unverzichtbare Ressource gesellschaftlicher Zukunftsfähigkeit Balance zwischen Fortschrittshoffnung und -kritik Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 8 1. Fortschrittsdebatte als Konfliktzentrum der Umweltethik 1.4 Beschleunigungspathologien Angst vor dem Angehängtwerden Fortschritt als Sachzwang Kritik der Beschleunigung als wesentliches Element der Umweltdebatte Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 9 1. Fortschrittsdebatte als Konfliktzentrum der Umweltethik 1.6 Fortschritt und christliche Hoffnung Zwei Arten von Zukunftshoffnung: geschichtsimmanent, geschichtstranszendent Christentum: Fortschritt nur eine unvollkommene Annäherung an die Vollendung Erfahrung von Kreuz und Auferstehung → Grenzerfahrung Weltveränderndes Potential des Christentums Mitarbeit am Reich Gottes Zuversicht christlicher Hoffnung Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 10 1. Fortschrittsdebatte als Konfliktzentrum der Umweltethik 1.7 Prinzip Verantwortung (Hans Jonas) versus Prinzip Hoffnung (Ernst Bloch) Aufforderung zum Maßhalten angesichts systemischer Risiken Kritik: Ideengeber für Ökoapokalytik Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 11 2. Wege zur Messung von Wohlstand und Wachstum 2. Wege zur Messung von Wohlstand und Wachstum 2.1 Wohlstandsindikatoren Zahlen und Daten sind relevant, aber in ihrer Aussagekraft begrenzt BIP (Bruttoinlandsprodukt) zur Messung volkswirtschaftlicher Leistung → Es fehlt die Lebensqualität der Menschen. Human Development Index Measuring the Progress of Societies (OECD) Beyond GDP (Europäische Kommission) Commission on the Measurement of Economic Progress and Social Progress Fortschritt und Risiko Prof. Dr. Markus Vogt LMU 12 2. Wege zur Messung von Wohlstand und Wachstum 2.2 Bruttonationalglück Konzept des Bruttonationalglücks geht davon aus, dass eine positive Entwicklung nur im Zusammenspiel von materiellen, kulturellen und spirituellen Elementen gelingen könne Vier Säulen: – (1) die Förderung einer sozial gerechten Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung, – (2) Bewahru