Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie PDF

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This document is an introduction to critical thinking in the context of psychology, discussing the scientific method and various approaches to psychological research. It covers different research methods.

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17 2 Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie David G. Myers 2.1 Die Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft – 18 2.1.1 Wussten wir das schon lange? Verzerrung...

17 2 Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie David G. Myers 2.1 Die Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft – 18 2.1.1 Wussten wir das schon lange? Verzerrung durch nachträgliche Einsicht (Hindsightbias) – 19 2.1.2 Übertriebene Selbstsicherheit – 20 2.1.3 Wahrnehmung von Ordnung bei zufälligen Ereignissen – 21 2.1.4 Die wissenschaftliche Haltung: Neugierig, skeptisch und bescheiden – 22 2.1.5 Kritisches Denken – 24 2.2 Wie stellen und beantworten Psychologen Fragen? – 25 2.2.1 Die wissenschaftliche Methode – 25 2.2.2 Beschreibung – 26 2.2.3 Korrelation – 30 2.2.4 Experiment – 33 2.3 Statistische Argumentation im Alltagsleben – 36 2.3.1 Datenbeschreibung – 36 2.3.2 Signifikante Unterschiede – 39 2.4 Häufig gestellte Fragen zur Psychologie – 41 2.5 Kapitelrückblick – 46 2.5.1 Verständnisfragen – 46 2.5.2 Schlüsselbegriffe – 46 2.5.3 Weiterführende deutsche Literatur – 47 D. G. Myers, Psychologie, DOI 10.1007/978-3-642-40782-6_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 18 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie Millionen von Menschen interessieren sich für »Psychologie«, weil sie neugierig auf Menschen sind und weil sie hoffen, ihre eigenen kleinen Leiden heilen zu können. Sie hören sich psycho­ 2 logische Beratungsgespräche im Radio an, lesen Artikel über die Kräfte der Seele, nehmen an Hypnoseseminaren zur Raucher­ entwöhnung teil, tauchen ein in Selbsthilfe-Internetseiten und verschlingen Selbsthilfebücher über die Bedeutung der Träume, den Pfad zur ekstatischen Liebe und darüber, wie man persön­ liches Glück erlangt. Andere wiederum fragen sich angesichts mancher psycho­ logischer Wahrheiten: Stimmt es, dass die Bindung zwischen Mutter und Kind in den ersten Stunden nach der Geburt ent­ steht? Wie – und in welchem Ausmaß – prägt die Erziehung die Persönlichkeit und Fähigkeiten eines Kindes? Sind erstge­..Abb. 2.1 Die Grenzen der Intuition. Personalchefs neigen dazu, ihren borene Kinder stärker leistungsorientiert? Kann Psychotherapie »Bauchgefühlen« bei der Beurteilung von Stellenbewerbern zu sehr zu ­vertrauen, zum einen, weil sie sich an die Fälle erinnern, in denen sich heilen? ihr guter Eindruck als richtig erwies, zum anderen, weil sie nicht wissen, Wie können wir bei solchen Fragen simple Meinungen von dass ein von ihnen abgelehnter Bewerber in einer anderen Firma erfolg­ stichhaltigen Schlussfolgerungen unterscheiden? Wie können reich war. (© contrastwerkstatt / Fotolia) wir die Psychologie so sinnvoll einsetzen, dass wir verstehen, ­warum die Menschen so und nicht anders denken, fühlen und ­ha­ndeln? zwei Ebenen – einer bewussten und einer unbewussten –, wobei der größere Teil dieser Prozesse automatisch abläuft, sozusagen »off-screen«. Wie Jumbojets fliegen wir meistens mit Autopilot. 2.1 Die Notwendigkeit der Psychologie Handeln wir also klug, wenn wir auf das Flüstern unserer als Wissenschaft inneren Weisheit hören, uns einfach auf die »Kraft in uns« ­verlassen? Oder sollten wir unsere intuitiven Ahnungen öfters ??2.1 Wie illustrieren der Verzerrungseffekt durch nachträg­ skeptisch überprüfen? liche Einsicht (Hindsightbias), die übertriebene Selbst­ So viel steht fest: Oftmals unterschätzen wir, wie fehleran­ sicherheit und die Tendenz, in zufälligen Ereignissen fällig die Intuition ist. Meine geografische Intuition sagt mir, dass eine Ordnung wahrzunehmen, weshalb wissenschaftlich Reno östlich von Los Angeles liegt, dass sich Rom südlich von ­fundierte Antworten der Intuition und dem gesunden New York und Atlanta östlich von Detroit befindet. Aber das ist ­Menschenverstand überlegen sind? falsch, falsch und nochmals falsch. Die in den folgenden Kapiteln dargestellten Experimente Manche Menschen sagen, Psychologie sei letztlich nichts anderes ­zeigen, dass Menschen ihre Fähigkeit, Lügen zu entlarven, als als in einen Fachjargon gepresstes Allgemeinwissen. »Gibt es besser wahrnehmen als sie eigentlich ist. Ebenso überschätzen ­etwas Neues unter der Sonne? Ihr werdet dafür bezahlt, dass ihr Menschen die Genauigkeit ihrer Augenzeugenberichte, ihre mit ausgefallenen Methoden das beweist, was meine Großmutter Beur­teilungen von Stellenbewerbern (. Abb. 2.1), ihre Gefahren­ schon immer wusste.« Andere Menschen glauben an die intui­ vorhersagen oder ihr Talent bei der Auswahl von Aktien. »Das tiven Fähigkeiten des Menschen: »Tief drin schlummert in jedem erste Prinzip«, sagte Richard Feynman (1997), »besteht darin, von uns ein instinktives, inniges Bewusstsein, das uns – wenn wir dass du dich selbst nicht hinters Licht führen darfst – und du bist es zulassen – die verlässlichste Führung gibt«, sagte Prinz Charles die Person, welche am leichtesten zu täuschen ist.« (2000). Der frühere US-Präsident George W. Bush beschrieb Tatsächlich beobachtete die Schriftstellerin Madeleine dem Journalisten Bob Woodward (2002) dieses Gefühl, um zu L’Engle (1973): »Der bloße Intellekt ist ein ausgesprochen un­ erklären, wieso er den Irak-Krieg eröffnet habe: »Ich bin ein genaues Werkzeug.« Drei Phänomene – der Verzerrungseffekt Bauchmensch. Ich verlasse mich auf meine Instinkte.« durch nachträgliche Einsicht (Hindsightbias), die Überschätzung Prinz Charles und der ehemalige Präsident Bush befinden unserer Urteilsfähigkeit und unsere Tendenz, in zufälligen Ereig­ sich in guter Gesellschaft, wenn man die lange Liste an populären nissen eine Ordnung wahrzunehmen – machen deutlich, warum Psychologiebüchern zu »intuitivem Management«, »intuitivem wir uns nicht nur auf Intuition und gesunden Menschenverstand Handel« und »intuitiver Heilung« betrachtet. Die heutige psy­ verlassen können. chologische Wissenschaft zeigt, dass Intuition tatsächlich eine große Rolle spielt. Wie wir noch sehen werden, bewegen sich »» Wer sich auf seinen Verstand verlässt, ist ein Tor. unser Denken, unser Gedächtnis und unsere Einstellungen auf Sprüche 28, 26 2.1 · Die Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft 19 2 2.1.1 Wussten wir das schon lange? weil der gesunde Menschenverstand uns immer in die Irre Verzerrung durch nachträgliche Einsicht schickt, sondern weil die Antwort nach dem Ereignis gegeben (Hindsightbias) wird. Mit dem gesunden Menschenverstand lässt sich viel leich­ ter beschreiben, was passiert ist, als was passieren wird. So sagte Es ist leicht, schlau zu sein und das Schwarze erst dann um der Physiker Niels Bohr angeblich: »Vorhersagen sind recht den Pfeil zu malen, wenn er schon getroffen hat. Nach jedem schwierig, vor a­ llem wenn es um die Zukunft geht.« Abwärtstrend der Börse sagen die Investmentgurus, die Börse sei Der Hindsightbias wurde in etwa 100 Studien sowohl bei doch ganz offensichtlich überreif für eine Korrektur gewesen. ­Kindern als auch bei Erwachsenen in vielen unterschiedlichen Nach dem Fußballspiel loben wir den Coach für das »kämpfe­ Ländern beobachtet (Blank et al. 2007;. Abb. 2.2,. Abb. 2.3). rische Spiel«, welches zum Sieg führte. Hat die Mannschaft je­ Dennoch hat der gesunde Menschenverstand häufig Recht. doch keinen Erfolg, machen wir den Coach hinterher für das Yogi Berra sagte einmal: »Du kannst vieles beobachten, wenn du »lahme Spiel« verantwortlich. Nach einem Krieg oder einer Wahl genau hinschaust.« (Wir müssen Berra für weitere Diamanten scheint uns das jeweilige Ergebnis offensichtlich. Obwohl uns die aus der Sprüchekiste danken, wie beispielsweise »Niemand Geschichte im Rückblick wie eine Folge unvermeidlicher Ereig­ kommt je hierher – es ist ein zu großes Gedränge« und »Wenn nisse vorkommen kann, wird die tatsächliche Zukunft selten die Leute nicht raus auf den Baseballplatz kommen wollen, wird vorhergesehen. Keine Person hat je in ihrem Tagebuch festgehal­ sie niemand daran hindern können.«) Wir alle sind Verhaltens­ ten: »Heute begann der 100-jährige Krieg.« beobachter. Deshalb wäre es schon erstaunlich, wenn nicht zu­ mindest ein paar Ergebnisse der psychologischen Forschung »» Wir leben das Leben vorwärts, aber wir verstehen schon vorher bekannt gewesen wären. Viele Menschen glauben, es rückwärts. dass Liebe Glück hervorbringt – und sie haben Recht (wir alle Der Philosoph Søren Kierkegaard (1813–1855) haben ein tiefes »Bedürfnis nach Zugehörigkeit«, wie wir in Der Hindsightbias (auch bekannt als Rückschaufehler) ist leicht 7 Kap. 12 erfahren werden). ­Daniel Gilbert, Brett Pelham und zu demonstrieren: Geben Sie der Hälfte der Mitglieder einer Douglas Krull (2003) merken sogar an: »Gute Ideen aus dem Gruppe einen angeblich wissenschaftlichen Befund, während Bereich der Psychologie kommen uns oft seltsam vertraut vor. Sie der anderen Hälfte das genaue Gegenteil präsentieren. Zu der Und in dem Augenblick, in dem wir auf sie stoßen, meinen wir, ersten Gruppe sagen Sie: »Psychologen haben herausgefunden, sicher zu sein, dass wir schon einmal nahe daran waren, das dass Trennung die romantische Anziehung abschwächt. Das ­Gleiche zu denken, und es einfach nur nicht geschafft haben, den Sprichwort sagt es ja auch: ›Aus den Augen, aus dem Sinn‹«. Gedanken niederzuschreiben.« Gute Ideen sind wie gute Er­ Dann bitten Sie die Teilnehmer, darüber nachzudenken, warum findungen; einmal vorhanden, sind sie nicht mehr wegzudenken das so ist. Die meisten Menschen können und werden an diesem (Warum hat es so lange gedauert, bis jemand Reisekoffer mit wahren Befund nichts Erstaunliches finden. Rollen oder »Post-its« erfunden hat?). Der zweiten Gruppe erzählen Sie das genaue Gegenteil, Obwohl der gesunde Menschenverstand und unsere Intui­ ­nämlich: »Psychologen haben herausgefunden, dass romantische tion auf Informationen beruhen, die wir aus unzähligen bei­ Anziehung durch Trennung stärker wird. Wie das Sprichwort läufigen Beobachtungen gewonnen haben, liegen sie manchmal sagt: ›Liebe wächst mit der Entfernung‹«. Die Teilnehmer werden völlig daneben. In späteren Kapiteln werden wir sehen, wie die auch dieses unwahre Resultat mühelos erklären, und die über­ Wissenschaft verbreitete Vorstellungen über den Haufen ge­ wiegende Mehrheit wird nicht überrascht sein. Wenn zwei ge­ worfen hat – dass Aufdringlichkeit zu Geringschätzung führt, gensätzliche Befunde mit dem »gesunden Menschenverstand« dass Träume die Zukunft vorhersagen oder dass die meisten erklärt werden können, dann haben wir ein Problem. von uns nur 10% des Gehirns nutzen. Wir werden auch sehen, welche Überraschungen uns die Forschung mit ihrer Entdeckung »» Alles scheint ein Gemeinplatz zu sein, wenn es erst einmal der chemischen Botenstoffe des Gehirns bereitet, die unsere erklärt ist. Stimmungen und unsere Erinnerungen steuern, oder mit den Dr. Watson zu Sherlock Holmes Forschungsergebnissen dazu, über welche Fähigkeiten Tiere ver­ fügen und wie sich Stress auf unsere Fähigkeit zur Krankheits­ Hindsightbias (Verzerrung durch nachträgliche Einsicht, »hindsight bias«) – Tendenz, nach dem Eintreten eines Ereignisses zu glauben, abwehr auswirkt. man hätte es vorhersehen können (auch bekannt als Rückschaufehler). Derartige Irrtümer bei unserem Erinnerungsvermögen und ­unseren Erklärungsversuchen machen deutlich, weshalb wir ­psychologische Forschung brauchen. Die Antwort auf die Frage, was ein Mensch gefühlt und warum er so und nicht anders ­gehandelt hat, kann irreführend sein, und zwar nicht deshalb, 20 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie 2..Abb. 2.2 Hindsightbias. Bei den Arbeiten an der Ölbohrplattform Deepwater Horizon im Jahr 2010 nahmen BP-Angestellte einige »Abkürzungen« und ignorierten ein paar Warnschilder. Dabei hatten sie nicht die Absicht, ihre Arbeitskollegen oder die Umwelt gravierenden Risiken auszusetzen. Nach der ­Ölkatastrophe wurde – mit dem Vorteil der späteren Einsicht – die Dummheit dieser Entscheidungen offensichtlich. (© EPA / US COAST GUARD / HANDOUT/ picture alliance / dpa) 2.1.2 Übertriebene Selbstsicherheit Beispiele für übertriebene Selbstsicherheit gibt es in der Ge­ schichte viele: »» Ihr Sound gefällt uns nicht. Gitarrengruppen sind nicht mehr gefragt. Erklärung von Decca Records, warum sie mit den Beatles 1962 keinen Plattenvertrag schließen wollten »» Die Computer der Zukunft werden wahrscheinlich nicht ­einmal eineinhalb Tonnen wiegen. Popular Mechanics, 1949 »» Sie könnten nicht einmal einen Elefanten treffen auf diese Entfernung. Die letzten Worte des Generals John Sedgwick vor seinem..Abb. 2.3 Hindsightbias (© Claudia Styrsky) Tod in einer Schlacht des Amerikanischen Bürgerkriegs, 1864 2.1 · Die Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft 21 2 »» Für unsere amerikanischen Vettern mag das Telefon ja 2.1.3 Wahrnehmung von Ordnung eine nützliche Erfindung sein, aber nicht für uns. Wir haben bei zufälligen Ereignissen genügend Botenjungen. Urteil einer britischen Expertengruppe über die Erfindung In unserer naturgegebenen Bereitschaft, unserer Welt einen Sinn des Telefons zu verleihen – eine Eigenschaft, die der Dichter Wallace Stevens unsere »Ordnungswut« nennt – neigen wir dazu, Muster wahr­ Wir Menschen neigen dazu, zu glauben, wir wüssten mehr, als zunehmen. Menschen sehen ein Gesicht im Mond, hören sata­ wir tatsächlich wissen. Auf die Frage, wie sicher wir sind, die nische Botschaften in Musikstücken oder erblicken das Abbild richtigen Antworten auf Sachfragen zu wissen (Liegt Boston der Jungfrau Maria auf einem gegrillten Käsesandwich. Selbst nördlich oder südlich von Paris?) antworten wir eher mit Selbst­ in zufällig zusammengewürfelten Informationen finden wir oft­ vertrauen als mit korrektem Wissen.1 Schauen Sie sich einmal die mals Ordnung, denn – und damit müssen wir uns wohl oder übel drei folgenden Anagramme an: abfinden – eine zufällige Abfolge von Daten sieht häufig nicht Serwas → Wasser ­zufällig aus (Falk et al. 2009; Nickerson 2002, 2005). Tatsächlich Tessmy → System treten in Zufallssequenzen Muster oder Reihen (wie wiederholte Hartox → Thorax Ziffern) öfter auf, als die Menschen glauben (Oskarsson et al. 2009). Um mir das einmal selbst zu demonstrieren – und Sie Was glauben Sie, wie viele Sekunden Sie etwa gebraucht h ­ ätten, können das natürlich selbst auch probieren –, habe ich eine um jedes dieser Anagramme aufzulösen? Sobald man die Lösung ­Münze 51-mal geworfen. Hier die Ergebnisse: kennt, sorgt die nachträgliche Einsicht dafür, dass sie uns absolut 1. K 11. Z 21. Z 31. Z 41. K 51. Z selbstverständlich erscheint. Das führt zu über­triebenem Selbst­ 2. Z 12. K 22. Z 32. Z 42. K vertrauen. Wir glauben, wir hätten die Lösung in höchstens 3. Z 13. K 23. K 33. Z 43. K 10 Sekunden gefunden, während tatsächlich der Durchschnitt 4. Z 14. Z 24. Z 34. Z 44. K 5. K 15. Z 25. Z 35. Z 45. Z bei 3 Minuten liegt. Und diese 3 Minuten hätten Sie auch ge­ 6. K 16. K 26. Z 36. K 46. K braucht, wenn Sie die Lösung nicht gekannt hätten. Probieren Sie 7. K 17. Z 27. K 37. Z 47. K es mit einem weiteren Anagramm aus: ACHENFI.2 8. Z 18. Z 28. Z 38. Z 48. Z Sind wir besser, wenn es darum geht, soziales Verhalten vor­ 9. Z 19. K 29. K 39. K 49. Z 10. Z 20. K 30. Z 40. Z 50. Z herzusagen? Der Psychologe Philip Tetlock (1998, 2005) von der University of Pennsylvania sammelte mehr als 27.000 Vorhersa­ gen von Experten zu Weltereignissen, beispielsweise zur Zukunft Beim Anschauen dieser Ergebnisse springen einem Muster in die von Südafrika oder zur Frage, ob sich Quebec von Kanada un­ Augen: Die Würfe 10 bis 22 haben ein fast perfektes Muster von abhängig machen wird. Sein wiederholter Befund: Experten, die Paaren aus Kopf und Zahl. Von 30 bis 38 hatte ich eine »Pech­ angegeben hatten, ihrer Sache zu durchschnittlich 80% sicher zu strähne« und warf bei 9 Würfen nur einmal Kopf. Aber dann war sein, hatten in weniger als 40% der Fälle Recht behalten. Nichts­ mir Fortuna gnädig, und ich warf bei den nächsten 9 Würfen destotrotz behielten sogar die Experten mit den falschen Pro­ 7-mal Kopf. Ähnliche Glücks- und Pechsträhnen kommen in gnosen ihr Selbstvertrauen, indem sie anmerkten, »beinahe etwa so häufig, wie man es bei zufälligen Folgen erwarten würde, Recht« gehabt zu haben. »Die Separatisten in Quebec haben das beim Basketball, beim Fußball und beim Zusammenstellen eines Sezessionsreferendum beinahe gewonnen.« Portfolios von Kapitalanlagen vor (Gilovich et al. 1985; Malkiel 2007; Myers 2002). Ob es nun um den Münzwurf, um Basketball Prüfen Sie Ihr Wissen oder darum geht, die Leistung eines Anlageberaters zu über­ 55Wenn Freunde von uns anfangen, miteinander auszu­ prüfen, Zufallsfolgen sehen oft nicht zufällig aus und werden gehen, haben wir oft das Gefühl, wir hätten von Anfang deshalb oft überinterpretiert. (»Er hat eine Glückssträhne, lassen an gewusst, dass die beiden füreinander bestimmt sind. wir ihn den Elfmeter ausführen.«) Wieso ist das so? ­Was beweist nun dieses Muster von Glücks- und Pechsträh­ nen? Habe ich meine Münze auf irgendeine paranormale Art gesteuert? Bin ich aus meiner Pechsträhne mit Zahlwürfen in eine Glückssträhne mit Kopftreffern gerutscht? Aber eine Erklä­ rung ist gar nicht erforderlich, denn das sind genau die Zahlen, die man bei solchen vom Zufall gesteuerten Daten antrifft. Ver­ gleicht man jeden Wurf mit dem nächsten, dann ergibt sich, dass 24 der 50 Würfe jeweils ein anderes Ergebnis erbrachten: 1 Boston befindet sich südlich von Paris. Das ist genau das beinahe 50:50-Ergebnis, das beim Münzwurf 2 Die Lösung des Anagramms: EINFACH. zu erwarten ist. Trotz des scheinbaren Musters gibt das Ergebnis 22 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie (1989) berechneten, dass bei den Millionen Menschen, die ein Los der staatlichen Lotterie kaufen, ziemlich sicher irgendeiner irgendwann zweimal einen staatlichen Jackpot knacken wird. 2 Tatsächlich können die unglaublichsten Dinge geschehen, sagen die Statistiker Persi Diaconis und Frederick Mosteller (1989), »wenn die Stichprobe nur groß genug ist«. Ein Ereignis, das ­täglich nur einen Menschen aus einer Milliarde betrifft, kommt immerhin 7-mal täglich vor, das heißt, 2500-mal pro Jahr (. Abb. 2.4,. Abb. 2.5). »» Ein wirklich außergewöhnlicher Tag wäre ein Tag ohne außer­ gewöhnliche Ereignisse. Statistiker Persi Diaconis (2002)..Abb. 2.4 Bizarre Sequenz computergenerierter Zufallszahlen. Sieht Merken Sie sich: Hindsightbias, übertriebene Selbstsicherheit zwar merkwürdig aus, ist aber tatsächlich nicht unwahrscheinlicher als jede und die Wahrnehmung von Ordnung bei zufälligen Ereignissen andere Zahlenfolge. (© Renate Schulz) bringen uns dazu, unsere Intuition zu überschätzen. Aber die wissenschaftliche Forschung kann uns dazu verhelfen, Realität und Täuschung voneinander zu unterschieden. 2.1.4 Die wissenschaftliche Haltung: Neugierig, skeptisch und bescheiden ??2.2 Wie hängen die drei Hauptkomponenten der wissen­ schaftlichen Haltung mit dem kritischen Denken zusammen? Was aller Wissenschaft in erster Linie zugrunde liegt, sind hart­ näckige Neugier und die Leidenschaft, Dinge zu erforschen und zu verstehen. Dabei will man weder Irrtümer in die Welt setzen noch ihnen erliegen. Manche Fragen gehen über die Wissen­ schaft hinaus (Gibt es ein Leben nach dem Tod?). Die Antwort auf solche Fragen erfordert auch ein Stück Glauben. Wie bei vielen..Abb. 2.5 In einer ausreichend großen Reihe zufälliger Geschehnisse anderen Ideen (Gibt es Menschen mit übersinnlicher Wahrneh­ treten Ereignisabfolgen auf, die uns merkwürdig erscheinen. Während mung? Und lässt sich dies nachweisen?) ist auch hier die Frage des der Fußballweltmeisterschaft 2010 stellte man einem deutschen Oktopus – Paul, »dem Orakel von Oberhausen« – zwei Boxen zur Verfügung. Beide Beweises ausschlaggebend. Lassen Sie die Fakten für sich selbst enthielten Muscheln und auf der einen Seite eine Nationalflagge. Paul sprechen. ­entschied sich bei 8 Spielen 8-mal für die richtige Box. Er sagte damit den Der Zauberer James Randi bedient sich dieser empirischen Ausgang der 7 Spiele mit deutscher Beteiligung sowie Spaniens Triumph im Methode, wenn er die auf den Prüfstand stellt, die behaupten, die Finale korrekt voraus. (© Roland Weihrauch dpa / picture alliance) Aura des Menschen sehen zu können (. Abb. 2.6): Randi: Sehen Sie eine Aura um meinen Kopf? eines Wurfes keinerlei Hinweis auf das Ergebnis des folgenden Aura-Seher: Ja, ich sehe tatsächlich Ihre Aura. Wurfes. Randi: Und wenn ich diese Zeitschrift vor mein Gesicht halte, Manche Dinge sind jedoch so ungewöhnlich, dass wir nicht können Sie die Aura dann immer noch sehen? Aura-Seher: Natürlich. ohne Weiteres eine zufallsbezogene Erklärung akzeptieren kön­ Randi: Wenn ich mich also hinter diese Wand stelle, die kaum nen (wie es beim Münzenwerfen doch der Fall war). Statistiker höher ist als ich, dann könnten Sie feststellen, wo ich stehe, finden das allerdings weniger geheimnisvoll. Als Evelyn Marie weil die Aura über meinem Kopf zu sehen ist. Richtig? Adams zweimal die New-Jersey-Lotterie gewann, meldeten die Zeitungen, dass die Quote, dieses Kunststück zu vollbringen, bei Nach Randis Aussage war noch nie ein Aura-Seher bereit, sich 1 zu 17 Billionen liegt. Seltsam? Nun, die Chance von 1 zu 17 Bil­ dieser Prüfung zu unterziehen. lionen ist tatsächlich genau die Chance, mit der eine bestimmte Ganz gleich, wie sinnvoll oder wie verrückt eine Idee auch Person, die zwei Lose der New-Jersey-Lotterie kauft, zweimal sein mag: Die hartnäckige Frage lautet: Klappt es? Lässt sich das, gewinnt. Die Statistiker Stephen Samuels und George McCabe was vorhergesagt wird, durch Überprüfung bestätigen? Manch­ 2.1 · Die Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft 23 2 Einstellung eines Wissenschaftlers: Skepsis ohne Zynismus und Offenheit ohne Leichtgläubigkeit. Ein polnisches Sprichwort sagt: »Wer Gewissheit im Glauben will, muss mit Zweifeln anfangen.« Die wissenschaftlich tätigen Psychologen betrachten Verhalten mit neugieriger Skepsis. Sie stellen ständig zwei Fragen: »Was meinen Sie damit?« und »Woher wissen Sie das?«. In der Arena der miteinander konkurrierenden Ideen kann ein skeptischer Test aufzeigen, welche Idee am besten zu den ­Fakten passt (. Abb. 2.7). Übt das Verhalten der Eltern einen ent­ scheidenden Einfluss auf die sexuelle Orientierung ihrer K ­ inder aus? Kann ein Astrologe aufgrund der Planetenposition im ­Augenblick Ihrer Geburt Ihre Zukunft vorhersagen? Ist die Elek­ trokrampftherapie (die Verabreichung elektrischer Stromstöße an das Gehirn) eine effiziente Therapiemethode bei ­schweren..Abb. 2.6 Der erstaunliche Randi. Der Zauberer James Randi zeigt ­Depressionen? Wie wir sehen werden, hat eine genaue Überprü­ ­beispielhaft die skeptische Haltung. Er hat eine Vielfalt übersinnlicher fung dieser Behauptungen Psychologen dazu gebracht, die ersten ­Phänomene überprüft und als Tricks entlarvt. (© terabyte, this work with beiden Fragen mit Nein, die dritte mit Ja zu beant­worten. the title »Randi.jpg« [http://commons.wikimedia.org/wiki/File:RANDI. jpg?uselang=de] is licenced under CC-BY-SA-2.0-DE [http://creativecom­ Die praktische Umsetzung der wissenschaftlichen Haltung mons.org/licenses/by-sa/2.0/de/deed.de], no modifications were made) erfordert nicht nur Neugier und Skepsis, sondern auch Beschei­ denheit – ein Bewusstsein für unsere eigene Anfälligkeit zu irren und eine Offenheit für Überraschungen und neue Perspektiven. mal finden verrückt klingende Ideen Unterstützung, wenn sie Nicht meine oder Ihre Meinung zählt bei der abschließenden einer so genauen Prüfung unterzogen werden. Im 18. Jahrhun­ Analyse, sondern die Wahrheiten, die die Natur auf unser For­ dert spotteten Gelehrte über die Idee, dass Meteo­riten von außer­ schen hin preisgibt. Wenn sich die Menschen oder andere Tiere halb der Erde kämen. Als zwei Forscher aus Yale die gängige nicht so verhalten, wie unsere Vorstellungen das vorhersagen, Meinung in Frage stellten, höhnte Thomas Jefferson: »Meine dann ist das Pech für unsere Vorstellungen. Das ist die beschei­ Herren, eher glaube ich, dass diese zwei Yankee-Pro­fessoren dene Einstellung, die in einem frühen Motto der Psychologie ­lügen, als dass Steine vom Himmel gefallen sind.« Manchmal zum Ausdruck kommt: »Die Ratte hat immer Recht.« verwandelt wissenschaftliche Forschung Buhrufe in Beifall. Doch meistens nutzt die Gesellschaft die Wissenschaft zur »» Ich bin ein Skeptiker, nicht weil ich nicht glauben möchte, Abfallbeseitigung: Verrückt klingende Ideen werden auf den sondern weil ich wissen möchte. Ich glaube, dass die Wahr­ Müllhaufen der vergessenen Behauptungen geworfen, wo sich heit irgendwo da draußen existiert. Aber wie können wir bereits angebliche Perpetuum-mobile-Maschinen, Wunderheil­ den Unterschied erkennen zwischen dem, was wir gerne mittel gegen Krebs und körperlose Reisen in längst vergangene als wahr erkennen würden und dem, das wirklich wahr ist? Jahrhunderte befinden. Wenn wir Phantasie von Wirklichkeit Die Antwort ist Wissenschaft. und Sinn von Unsinn unterscheiden wollen, brauchen wir die Michael Shermer, »I Want to Believe«, Scientific American, 2009..Abb. 2.7 (NON SEQUITUR © 1997 Wiley Ink, Inc.. Dist. By UNIVERSAL UCLICK. Reprinted with permission. All rights reserved.) 24 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie Wissenschaftshistoriker sagen, dass die moderne Wissenschaft stürme an der Ostküste an, um die globale Erwärmung in Frage überhaupt erst durch diese neugierige, skeptische und gleichzei­ zu stellen. Statt dass sie ihr Verständnis des Klimawandels vom tig bescheidene Haltung möglich wurde. Tief religiöse Menschen Tageswetter beeinflussen lassen oder von ihren eigenen ­politischen 2 von heute sehen die Wissenschaft, einschließlich der wissen­ Ansichten, verlangen kritische Denker Beweise. Erwärmt sich die schaftlichen Psychologie, als Bedrohung. Und doch ist die wis­ Erde langfristig betrachtet tatsächlich? Schmelzen die polaren Eis­ senschaftliche Revolution meist von tief religiösen Menschen – kappen? Verändern sich Vegetationsmuster? Und produziert die dazu gehörten Kopernikus und Newton – angeführt worden, die menschliche Aktivität Gase, die uns solche Veränderungen erwar­ nach der religiösen Vorstellung handelten, dass man, »um Gott ten lässt? Wenn sie über solche Themen nachdenken, werden kri­ zu lieben und zu achten, die Wunder seiner Schöpfung auch ganz tische Denker die Glaubwürdigkeit von Quellen berücksichtigen. würdigen muss« (Stark 2003a, b). Sie werden die Beweislage anschauen (»Werden sie von Fakten un­ Natürlich haben Wissenschaftler, wie alle Menschen, ein terstützt oder erfinden sie das Ganze bloß?«). Sie werden vielfältige ­großes Ego und hängen manchmal sehr an ihren vorgefassten Perspektiven erkennen. Und sie werden sich Informationsquellen Meinungen. Gleichwohl teilen Psychologen das Ideal der neugie­ aussetzen, die ihre vorgefassten Meinungen in Frage stellen. rigen, skeptischen und bescheidenen Haltung bei der Prüfung der Gedanken und Vorstellungen, die miteinander konkurrieren. »» Der eigentliche Zweck der wissenschaftlichen Methode ist es, sich zu vergewissern, ob die Natur einen nicht zu der So überprüft die Gemeinschaft der Wissenschaftler immer wie­ ­falschen Annahme verleitet hat, man wüsste etwas, was man der die Befunde und Schlussfolgerungen der Kollegen. in Wirklichkeit nicht weiß. »» Ich glaube zutiefst, dass, wenn irgendein Gott der traditio­ Robert M. Pirsig, Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, 1974 nellen Sorte existiert, unsere Neugier und Intelligenz durch Kann man sagen, dass die kritischen Untersuchungen der Psycho­ solch einen Gott gegeben ist. Wir würden diese Geschenke logie unerwartete Ergebnisse erbracht haben? Die Antwort ist ein nicht schätzen … wenn wir unsere Leidenschaft unterdrück­ klares Ja, wie auch die folgenden Kapitel zeigen werden. Ob Sie ten, das Universum und uns selbst zu erforschen. es glauben oder nicht: Ein größerer Verlust von Hirn­gewebe zu Carl Sagan, Broca’s Brain, 1979 einem frühen Zeitpunkt des Lebens hat evtl. nur ­minimale Lang­ zeiteffekte (7 Kap. 3). Neugeborene können den Geruch und die Stimme ihrer Mutter innerhalb weniger Tage nach der Geburt 2.1.5 Kritisches Denken erkennen (7 Kap. 6). Nach einer Hirnverletzung kann ein Mensch neue Fähigkeiten erlernen, sich jedoch nicht bewusst sein, dass er Eine wissenschaftliche Haltung befähigt uns, klüger zu denken. sie erlernt hat (7 Kap. 9). Unterschiedliche Gruppen – Männer Kluges oder kritisches Denken unterzieht Vorannahmen einer und Frauen, Alte und Junge, Wohlhabende und Arbeiter, Be­ Prüfung, erkennt verborgene Werte, überprüft Beweise auf ihre hinderte und Nichtbehinderte – berichten über ein ungefähr ver­ Richtigkeit hin und erfasst daraus resultierende Schlussfolge­ gleichbares Niveau persönlichen Glücks (7 Kap. 13). rungen. Ob beim Lesen eines Berichts oder beim Anhören eines Und hat die kritische Forschung verbreitete Annahmen in Gesprächs: Ein kritischer Denker stellt Fragen. Er verhält sich überzeugender Weise erschüttert? Auch hier lautet die Antwort wie ein Wissenschaftler: Woher weiß man das, was man da be­ Ja, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden. Es lässt sich richtet? Welche Ziele verfolgt die Person mit dem, was sie sagt? nachweisen, dass Schlafwandler nicht ihre Träume in Hand­ Beruht die Schlussfolgerung auf persönlichen Gefühlen und an­ lungen umsetzen (7 Kap. 4). Die Erfahrungen, die wir im Lauf ekdotischen Berichten oder gibt es einen Beweis? Erlaubt dieser unseres Lebens gemacht haben, sind nicht alle als Worte im Ge­ Beweis eine Schlussfolgerung auf Ursache und Wirkung? Welche hirn gespeichert. Man kann durch Hirnstimulation oder Hypno­ alternativen Erklärungen wären möglich? se nicht einfach »das Tonband zurückspulen« und tief vergrabene oder verdrängte Erinnerungen wieder zum Leben erwecken Kritisches Denken (»critical thinking«) – eine Art zu denken, die Argumen­ te und Schlussfolgerungen nicht einfach blindlings akzeptiert. Stattdessen (7 Kap. 9). Die meisten Menschen leiden nicht unter einem un­ werden Vorannahmen einer Prüfung unterzogen, Abweichungen werden realistisch geringen Selbstwertgefühl und ein hohes Selbstwert­ aufgedeckt, Beweise auf ihre Richtigkeit hin überprüft und daraus resultie­ gefühl ist nicht immer positiv (7 Kap. 14). Gegensätze ziehen sich rende Schlussfolgerungen werden erfasst. i. Allg. nicht an (7 Kap. 15). Bei jedem dieser Beispiele und bei Kritisches Denken – auf wissenschaftlicher Basis – lässt unsere weiteren ist das, was man weithin glaubt, durchaus nicht das, was durch Voreingenommenheit gefärbten Linsen klar werden. Den­ sich als wahr herausgestellt hat. ken Sie einmal nach: Bedroht der Klimawandel unsere ­Zukunft Prüfen Sie Ihr Wissen und, wenn ja, wird er vom Menschen verursacht? 2009 interpre­ tierten Klimaschützer eine australische Hitzewelle und Sandstür­ 55Erklären Sie, warum es das kritische Denken fördert, me als Belege für den Klimawandel. 2010 führten Klima­ wenn man die Haltung eines Wissenschaftlers einnimmt. wandelskeptiker die bittere Kälte in Nordamerika und die Schnee­ 2.2 · Wie stellen und beantworten Psychologen Fragen? 25 2 2.2 Wie stellen und beantworten Psychologen wir die einzelnen Punkte unserer Beobachtung miteinander ver­ Fragen? binden, können wir ein kohärentes Bild er­kennen. Theorie (»theory«) – auf Prinzipien gestütztes Erklärungsmodell, das Beob­ Das Rüstzeug der wissenschaftlich arbeitenden Psychologen ist achtungen in einen Zusammenhang stellt und Verhalten oder Ereignisse die wissenschaftliche Methode – eine sich selbst korrigierende vorhersagt. Vorgehensweise, Ideen zu bewerten, indem man beobachtet und untersucht. Bei ihrem Versuch, die menschliche Natur zu be­ Eine gute Theorie über die Auswirkungen von Schlafentzug auf schreiben und zu erklären, greift die psychologische Wissen­ die Gedächtnisleistung fasst beispielsweise die unzähligen Be­ schaft gerne vage Vorstellungen und plausibel klingende Theo­ obachtungen hinsichtlich des Schlafs in einer kurzen Liste von rien auf – und testet sie. Wenn eine Theorie funktioniert – wenn Prinzipien zusammen. Stellen Sie sich vor, wir beobachten im­ die Daten mit den Vorhersagen übereinstimmen – dann umso mer wieder, dass Menschen mit falschen Schlafgewohnheiten besser für die Theorie. Wenn die Vorhersagen versagen, wird die Fragen im Unterricht nicht beantworten können und bei Prüfun­ Theorie revidiert oder verworfen. gen schlecht abschneiden. Wir könnten also daraus die Theorie ableiten, dass Schlaf die Gedächtnisleistung verbessert. So weit, so gut: Unsere Schlaf-Merkfähigkeits-Annahme fasst auf elegan­ 2.2.1 Die wissenschaftliche Methode te Weise eine Liste von Merkmalen über die Auswirkungen von Schlafmangel zusammen. Doch eine Theorie kann noch so vernünftig klingen – und ??2.3 Wie bringen Theorien die Psychologie als Wissenschaft Schlafmangel scheint eine akzeptable Erklärung für geringere voran? Merkfähigkeit zu sein –, sie muss getestet werden. Eine gute In unserer Alltagssprache verwenden wir den Begriff Theorie ­Theorie führt zu überprüfbaren Vorhersagen, die wir Hypothe­ meist im Sinn von Vorstellung oder Gedanke. Eine wissen­ sen nennen. Hypothesen ermöglichen es, die Theorie zu testen schaftliche Theorie ist ein Erklärungsmodell, das auf bestimmten und dann entweder zu revidieren oder zu verwerfen und geben Prinzipien basiert. Mit Hilfe einer Theorie können Beob­ach­ dadurch der Forschung die Richtung vor. Die Hypothesen geben tungen in ein System gebracht sowie Verhaltensweisen und Ereig­ an, ­welche Resultate die Theorie stützen und welche damit nicht nisse vorhergesagt werden. Eine Theorie stellt Einzelbeobachtun­ vereinbar sind. Wenn wir unsere Theorie zum Einfluss von gen in einen Zusammenhang und vereinfacht damit die Arbeit. Schlaf auf die Merkfähigkeit testen wollen, könnten wir prüfen, Eine Theorie ist eine hilfreiche Zusammenfassung, indem sie wie gut sich Personen nach einer ausgiebigen oder verkürzten Einzelfaktoren zu tieferliegenden Prinzipien ver­bindet. Sobald Nachtruhe an Kursmaterialien erinnern (. Abb. 2.8)...Abb. 2.8 Die wissenschaftliche Methode. Eine sich selbst korrigierende Vorgehensweise, bei der Fragen gestellt und die Antworten beobachtet ­werden, die die Natur gibt 26 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie Hypothese (»hypothesis«) – meist aus einer Theorie abgeleitete überprüf­ und genauere Vorhersagen gestattet. Unsere Forschungsergeb­ bare Vorhersage. nisse könnten aber auch repliziert und durch ähnliche Befunde Unsere Theorien können unsere Beobachtungen verzerren (Bias, unterstützt werden. (Dies war der Fall für Schlaf- und Gedächt­ 2 Urteilsfehler). Da unsere Theorie lautet, dass mehr Schlaf zu e­ inem nisstudien, wie Sie in 7 Kap. 4 sehen werden.) besseren Erinnerungsvermögen führt, lässt es sich nicht aus­ Wie wir als Nächstes erfahren werden, können wir mit Hilfe schließen, dass wir sehen, was wir erwarten zu sehen: Mög­ deskriptiver Methoden (die Verhaltensweisen beschreiben, oft­ licherweise nehmen wir die Aussagen von schläfrigen Personen als mals durch Einzelfallstudien, Umfragen oder Feldbeobachtun­ weniger einsichtsvoll wahr. Der Drang zu sehen, was wir erwarten gen), Korrelationsberechnungen (die verschiedene Faktoren zu­ zu sehen, ist eine überall lauernde Versuchung, sowohl außerhalb einander in Beziehung setzen) und Experimenten (die Faktoren als auch innerhalb des Versuchsraums. So verleiteten gemäß dem manipulieren, um ihre Effekte zu erkennen) unsere Hypothesen Bericht des parteienübergreifenden U.S. Senate S­ elect Committee überprüfen und unsere Theorien revidieren. Wenn wir ver­ on Intelligence (2004) vorgefasste Erwartungen, dass der Irak breitete psychologische Behauptungen mit kritischem Verstand ­Massenvernichtungswaffen besäße, Auswerter der Geheimdienste überprüfen wollen, müssen wir mit diesen Methoden vertraut dazu, mehrdeutige Beobachtungen fälschlich so zu deuten, dass sie sein und wissen, welche Schlussfolgerungen wir mit ihrer Hilfe diese Theorie bestätigten (ähnlich wie die Meinungen, die Leute ziehen können. zum Klimawandel haben, ihre Interpretation von lokalen Wetter­ Prüfen Sie Ihr Wissen ereignissen beeinflussen könnten). Diese theoriegeleitete Schluss­ folgerung führte dann zur präventiven Invasion der USA im Irak. 55Was zeichnet eine gute Theorie aus? Um diesen Bias zu kontrollieren, veröffentlichen Psycholo­ 55Warum ist Replikation so wichtig? gen ihre Forschungsergebnisse mit eindeutigen operationalen Definitionen der Vorgehensweisen und Konzepte. Hunger kann beispielsweise als »Stunden ohne Essen« definiert werden, Groß­ zügigkeit als »gespendetes Geld«. Werden solch sorgsam formu­ 2.2.2 Beschreibung lierte Aussagen benutzt, können andere Forscher die ursprüng­ lichen Beobachtungen mit anderen Teilnehmern, anderem Test­ ??2.4 Wie nutzen Psychologen Einzelfallstudien, Feldbeobach­ material und in anderen Situationen replizieren (wiederholen). tungen und Umfragen, um Verhalten zu beobachten und zu Kommen verschiedene Forscher zu ähnlichen Ergebnissen, dann beschreiben, und weshalb ist es wichtig, Zufallsstichproben wächst das Vertrauen in die Reliabilität (Zuverlässigkeit) der Er­ zu ziehen? gebnisse. Die erste Untersuchung zum Hindsightbias weckte die Neugier der Psychologen. Heute, nach vielen er­folgreichen Re­ Der Ausgangspunkt jeder Wissenschaft ist die Beschreibung. plikationen mit jeweils anderen Menschen und anderen Fragen, In unserem Alltag beobachten wir unsere Mitmenschen und sind wir uns der Bedeutung dieses Phänomens b ­ ewusst. ­beschreiben sie; daraus leiten wir ab, warum sie sich so verhal­ ten und nicht anders. Im Wesentlichen tun professionelle Psy­ Operationale Definition (»operational definition«) – Festlegung der Vor­ gehensweise (Operation) bei der Definition der Untersuchungsvariablen. cho­logen auch nichts anderes, nur gehen sie dabei systema­ So kann Intelligenz beispielsweise operational definiert werden als »das, tischer vor und bemühen sich stärker um Objektivität. Dazu was ein Intelligenztest misst«. verwenden sie Replikation (»replication«) – Wiederholung der wesentlichen Parameter ei­ 44Einzelfallstudien (Untersuchungen bestimmter Individuen), nes Experiments, in der Regel mit anderen Versuchsteilnehmern in anderen 44Feldbeobachtung (das natürliche Verhalten vieler Individuen Situationen. Mit Hilfe der Replikation kann festgestellt werden, ob sich die Grundannahmen eines Experiments auf andere Versuchsteilnehmer und wird beobachtet und aufgezeichnet) sowie andere Situationen übertragen lassen. 44Umfragen und Interviews (den untersuchten Personen wer­ den Fragen gestellt). Unsere Theorie wird letztlich nur dann nützlich sein, wenn man mit ihrer Hilfe Einzelfallstudie 1. eine Reihe von persönlichen Berichten und Beobachtun­ Die Einzelfallstudie gehört zu den ältesten Forschungsmetho­ gen in eine effiziente Ordnung bringen kann und wenn man den überhaupt. In der Fallstudie wird ein Individuum gründlich 2. anhand der Theorie klare Vorhersagen machen kann, mit­ studiert, in der Hoffnung, dabei Dinge zu entdecken, die für alle hilfe derer jeder die Theorie überprüfen oder in der Praxis Individuen gelten. Einige Beispiele: Viel von unserem frühen einsetzen kann. (Wenn die Leute mehr schlafen, wird sich Wissen über das Gehirn stammt aus Fallstudien mit Menschen, dann die Merkfähigkeit verbessern?) die nach der Schädigung einer bestimmten Hirnregion in be­ stimmten Bereichen beeinträchtigt waren. Der Entwicklungs­ Vielleicht führt uns die Forschung zu einer revidierten Theorie, psychologe Jean Piaget beobachtete aufmerksam ein paar Kinder die das, was wir wissen, in einen besseren Zusammenhang bringt und befragte sie ausführlich; das Ergebnis waren bahnbrechende 2.2 · Wie stellen und beantworten Psychologen Fragen? 27 2 Informationen über die Art, wie Kinder denken. Untersuchun­ Prüfen Sie Ihr Wissen gen, die mit nur wenigen Schimpansen durchgeführt wurden, erbrachten den Beweis, dass die Tiere über die Fähigkeit zum 55Durch Einzelfallstudien erfahren wir nichts über gene­ Verstehen und über sprachliche Fähigkeiten verfügen. Intensive relle Prinzipien, die für uns alle gelten. Wieso nicht? Fallstudien bringen manchmal sehr viel ans Licht. Sie zeigen uns, was passieren kann, und oftmals geben sie Richtungen für die weitere Forschung vor. Beobachtung in natürlicher Umgebung (Feldbeobachtung) Einzelfallstudie (»case study«) – Beobachtungstechnik, bei der ein Indivi­ duum gründlich und intensiv beobachtet wird in der Hoffnung, auf diese Eine zweite beschreibende Forschungsmethode erfasst Verhaltens­ Weise universelle Prinzipien entdecken zu können. weisen in natürlicher Umgebung. Beobachtungen in natürlicher Umgebung oder Feldbeobachtungen reichen von der ­Beobachtung Individuelle Fälle können uns aber auch manchmal in die Irre von Schimpansengesellschaften im Dschungel bis zu nichtreak­ führen. Vielleicht ist das untersuchte Individuum untypisch. tiven Videoaufnahmen (und der späteren syste­matischen Auswer­ Eine nicht repräsentative Information kann zu irrtümlichen tung) von Eltern-Kind-Interaktionen in verschiedenen Kulturen ­Beurteilungen und falschen Schlussfolgerungen führen. Und oder der Beschreibung der Platzwahl in der Cafeteria einer Schule, auch Folgendes ist zu bedenken: Sobald ein Wissenschaftler die von Schülern verschiedener Kulturen besucht wird. ­einen Befund veröffentlicht (»Raucher sterben jünger: 95% der Die Beobachtung in einer natürlichen Umgebung beschreibt Männer über 85 sind Nichtraucher«), findet sich sicher jemand, Verhalten, erklärt es aber nicht, ebenso wenig wie die Einzel­ der widerspricht (»Nun, ich habe einen Onkel, der täglich zwei fallstudie. Trotzdem können die Beschreibungen ein Licht auf Päckchen rauchte und 89 wurde«). Dramatische Geschichten und bestimmte Dinge werfen. Beispielsweise dachte man einst, dass persönliche Erfahrungen (sogar psychologische Fall­bei­spiele) nur Menschen Werkzeuge benutzen. Die Beobachtung von erregen unsere Aufmerksamkeit und setzen sich im ­Gedächtnis Schimpansen in ihrem natürlichen Umfeld hat indessen gezeigt, fest. Journalisten wissen das. Einen Artikel über Zwangsver­stei­ dass die Tiere manchmal ein Stöckchen in einen Termitenhaufen gerungen beginnen sie daher mit der tra­gischen Geschichte einer stecken und dann ablecken. Solche nichtreaktiven Feldbeobach­ Familie, die aus ihrem Haus geworfen wurde, und nicht mit Sta­ tungen bereiteten den Weg für spätere systematische Unter­ tistiken über Zwangsversteige­rungen. Geschichten bewegen uns. suchungen zum Denken und Fühlen von Tieren sowie ihrer Aber sie können uns auch täuschen. Möglichkeiten zum Verständnis von Sprache. Diese Unter­ ­ Welche der folgenden Aussagen finden Sie denkwürdiger? suchungen haben unser Verständnis für unsere Mitgeschöpfe, die 1. »In einer Untersuchung mit 1300 Berichten über Träume, Tiere, ausgedehnt. »Beobachtungen im natürlichen Habitat zeig­ die das Schicksal eines entführten Kindes betrafen, sahen ten, dass Zusammenleben und Verhalten von Tieren weitaus tatsächlich nur 5% den Tod des Kindes vorher und hatten kom­plexer sind, als wir bislang angenommen haben«, stellte die damit Recht (Murray u. Wheeler 1937).« Schimpansenforscherin Jane Goodall fest (1998). Dank der Beob­ 2. »Ich kenne einen Mann, der träumte, dass seine Schwester achtungen von Forschern wissen wir, dass Schimpansen und einen Autounfall hätte, und zwei Tage später starb sie bei ­Paviane Täuschungsmanöver einsetzen. Die Psychologen Andrew ­einer Frontalkollision!« Whiten und Richard Byrne (1988) beobachteten wieder­holt, wie ein junger Pavian so tat, als sei er von einem anderen Pavian Zahlen können langweilig sein, aber viele Anekdoten geben noch ­angegriffen worden, eine Taktik, mit der er seine Mutter dazu lange keinen Beweis ab. Der Psychologe Gordon Allport (1954, brachte, den anderen vom Futter wegzujagen. Je weiter das Gehirn S. 9) drückte es so aus: »Einen Fingerhut voll [dramatischer] einer Primatenart entwickelt ist, desto eher werden diese Tiere ­Ereignisse verallgemeinern wir schleunigst auf Badewannen­ Täuschungsverhalten zeigen (Byrne u. Corp 2004;. Abb. 2.9). größe.« Beobachtung in natürlicher Umgebung (auch Feldbeobachtung; »» ›Nun ja, mein Lieber‹, sagte Miss Marple, ›das Wesen des »naturalistic observation«) – Beobachten und Erfassen von Verhalten in natürlichen Situationen unter Verzicht auf Manipulation oder Kontrolle Menschen ist eigentlich an allen Orten gleich, aber natürlich der Situation. hat man in einem Dorf bessere Möglichkeiten, es sich ge­ nauer anzusehen.‹ Auch bei Menschen werden Feldbeobachtungen durchgeführt. Agatha Christie, Der Dienstagabend-Klub, 1933 Im Folgenden finden Sie vier Beispiele dafür, an denen Sie, g­ laube Merken Sie sich: Aus Einzelfällen können fruchtbare Hypothesen ich, Spaß haben werden. abgeleitet werden. Was auf uns alle zutrifft, kann man schon am 44Ein witziges Ergebnis. In sozialen Situationen lachen wir Beispiel eines Einzelnen erkennen. Um aber die allgemeinen Menschen 30-mal öfter, als wenn wir allein sind. (Ist Ihnen Wahrheiten in den Einzelfällen zu entdecken, müssen wir andere schon einmal aufgefallen, wie selten Sie lachen, wenn Sie Methoden anwenden. ­allein sind?) Wenn wir lachen, verziehen 17 Muskeln 28 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie..Tab. 2.1 Einen Penny für deine Gedanken: Das innere Erleben von Universitätsstudenten* 2 Innere Erfahrung Beispiel Häufigkeit Innere Rede Susan sagte zu sich selbst: 26% »Ich muss in den Kurs gehen.« Inneres Sehen Paul stellte sich das Gesicht 34% seiner besten Freundin vor, inklusive ihres Halses und Kopfs. Symbolfreies Denken Alphonse fragte sich, ob die 26% Arbeiter die Ziegelsteine wohl fallen lassen würden...Abb. 2.9 Ein geborener Beobachter. Der Schimpansenforscher Frans Gefühl Courtney erlebte Wut und 26% de Waal (2005) sagte: »Ich bin ein geborener Beobachter … Wenn ich im die dazugehörigen körperli­ Restaurant einen Platz aussuche, möchte ich so viele Tische wie möglich chen Symptome. im Blickfeld haben. Ich liebe es, die sozialen Dynamiken um mich herum – Sinneswahrnehmung Fiona spürte die kalte Brise 22% Liebe, Anspannung, Langeweile, Antipathie – zu verfolgen. Dabei konzent­ auf ihren Wangen und wie riere ich mich auf die Körpersprache, welche ich für informativer halte als sich ihre Haare bewegten. das gesprochene Wort. Da andere zu beobachten etwas ist, das ich automa­ tisch tue, fiel es mir sehr leicht, eine »Fliege an der Wand« einer Affen­ * Es konnte mehr als eine Erfahrung zu einem Zeitpunkt angegeben kolonie zu werden.« (Bildrechte: Jack Kearse, Emory University for Yerkes werden. National Primate Research Center) ­ nseren Mund und drücken unsere Augen zusammen, und u k­ odierten und Kategorien zuordneten, fanden sie fünf ver­ wir stoßen im Abstand von jeweils einer fünftel Sekunde breitete Formen inneren Erlebens (. Tab. 2.1). eine Serie von vokalähnlichen Lauten von 75 Millisekunden 44Kultur, Klima, Lebensrhythmus. Mit Hilfe der Feldbeobach­ Dauer aus (Provine 2001). tung konnten Robert Levine und Ara Norenzayan (1999) 44Aushorchen von Studenten. Was sagen und machen Erst­ den Lebensrhythmus in 31 Ländern miteinander ver­ semester der Psychologie eigentlich den lieben langen Tag? gleichen. (Die operationale Definition von Lebensrhythmus Um das herauszufinden, statteten Matthias Mehl und James beinhaltete die Gehgeschwindigkeit, das Tempo, in dem Pennebaker (2003) 52 Studierende der University of Texas Postangestellte eine simple Bitte erfüllten und die Genauig­ bis zu vier Tage lang mit einem Kassettenrekorder aus, keit der Normaluhren.) Die Forscher kamen zu dem Er­ den sie an einem Gürtel trugen und der sich während der gebnis, dass der Lebensrhythmus in Japan und Westeuropa Wachstunden alle 12,5 Minuten 30 Sekunden lang für eine am schnellsten ist und langsamer in wirtschaftlich weniger Aufnahme einschaltete. So waren die Forscher imstande, hoch entwickelten Ländern. In einem kühlen Klima leben mehr als 10.000 eine halbe Minute lange Ausschnitte aus die Menschen tendenziell in schnellerem Rhythmus (und dem Leben der Studierenden abzuhören. Was meinen Sie, mehr Menschen sterben an Herzkrankheiten). wie viel Prozent der Zeit Studierende nach diesen Befunden mit jemandem sprachen? Und wie viel Prozent der Zeit Die Beobachtung in natürlicher Umgebung (Feldbeobachtung) ­befanden sich danach die Studierenden an der Tastatur liefert uns interessante Schnappschüsse aus dem alltäglichen ­eines Computers? Die Antwort lautet: 28 bzw. 9 Prozent ­Leben. Dies geschieht jedoch ohne Kontrolle all der Faktoren, die der Zeit. (Wie viel Prozent der Zeit, in der Sie nicht schla­ das Verhalten beeinflussen können. Es ist eine Sache, das Lebens­ fen, verbringen Sie mit diesen Aktivitäten?) tempo an verschiedenen Orten zu beobachten, eine andere je­ 44An was denkst du gerade? Um herauszufinden, was in doch, zu verstehen, weshalb manche Menschen schneller gehen den Köpfen von Studenten an der University of Nevada, als andere. Las Vegas, vorgeht, gaben Christopher Heavey und Russell Prüfen Sie Ihr Wissen Hurlburt (2008) ihnen Piepser. Ein halbes Dutzend Mal ­unterbrach ein Piepsen die täglichen Aktivitäten der 55Was sind die Vor- und Nachteile der Feldbeobachtung, ­Studenten, indem es ihnen signalisierte, ein Notizbuch wie sie Mehl und Pennebaker in dieser Studie angewandt ­herauszuziehen und ihr inneres Erleben zu diesem Zeit­ haben (. Abb. 2.10)? punkt festzuhalten. Als die Forscher die Berichte später 2.2 · Wie stellen und beantworten Psychologen Fragen? 29 2 jjFormulierungseffekte Schon ganz leichte Abänderungen in der Reihenfolge oder Wort­ stellung der Fragen können eine große Wirkung haben. Leute spre­ chen sich viel eher für »Hilfe für Bedürftige« aus als für »­Sozialhilfe«, für »Förderung« als für »bevorzugte Behandlung«, sie stimmen weit eher dafür, Zigarettenwerbung oder Pornografie im Fern­ sehen »nicht zu erlauben« als zu »zensieren« und b­ efürworten eher eine »Ausweitung der Staatseinnahmen« als »Steuererhöhun­ gen«. 2009 sprachen sich drei von vier Amerikanern in einer natio­ nalen Befragung dafür aus, der Bevölkerung »eine Wahl« zu geben zwischen einer öffentlichen, staatlichen und einer privaten Ge­ sundheitsversicherung. In einer anderen Befragung jedoch waren die meisten Amerikaner nicht dafür, »einen Plan für die öffentliche Gesundheitsvorsorge auszuarbeiten, der – verwaltet durch die Bundesregierung – direkt mit privaten Einrichtungen der Gesund­ heitsvorsorge in Konkurrenz stehen würde« (Stein 2009). Vom Wortlaut der Frage hängt sehr viel ab, deshalb hinterfragen kriti­ sche Denker immer, auf welche Weise die Fragestellung die Mei­ nung der Befragten beeinflusst haben könnte...Abb. 2.10 Feldbeobachtung mit Electronically Activated Recorder. Die Psychologen Matthias Mehl und James Pennebaker verwendeten jjZufallsstichprobe ­Kassettenrekorder, um natürliche Ausschnitte aus dem Alltagsleben ein­ zufangen. (Courtesy of Matthias Mehl) Im Alltagsdenken generalisieren wir ständig aufgrund der Stich­ proben, die wir beobachten, vor allem, wenn es um Fälle geht, die lebhaft vorgetragen werden. Nehmen wir folgendes Szenario: Befragung Dem Verwaltungsdirektor liegt (a) die statistische Zusammen­ Bei der Methode der Befragung werden viele Fälle einbezogen, fassung der Bewertung eines Professors durch seine Studenten die Fragen bleiben aber eher an der Oberfläche. Bei einer Um­ vor, und gleichzeitig hört er (b) die heftigen Proteste zweier auf­ frage werden die Menschen gebeten, Auskunft über ihr Verhalten gebrachter Studenten, die eine nicht repräsentative Stichprobe oder ihre Ansichten zu geben. Thema der Befragung kann alles bilden. Da kann der Eindruck des Verwaltungsdirektors ebenso sein, von sexuellen Praktiken bis hin zu politischen Meinungen. von den beiden Pechvögeln beeinflusst werden wie von den vie­ In neueren Studien len positiven Bewertungen dieses Professors, die in der Statistik 44gab die Hälfte aller Amerikaner an, am vorherigen Tag aufgeführt sind. Der Versuchung, den Stichprobenfehler zu igno­ mehr Glück und Freude als Sorge und Stress erlebt zu rieren und von ein paar intensiven, aber nicht repräsentativen ­haben (Gallup 2010). Eindrücken zu verallgemeinern, kann man jedoch kaum wider­ 44berichten Kanadier mit Internetzugang, neue Formen der stehen (. Abb. 2.11). elektronischen Kommunikation zu nutzen und dadurch im Merken Sie sich: Die beste Basis für eine Generalisierung ist Jahr 2010 35% weniger E-Mails zu erhalten als im Jahr 2008 eine repräsentative Stichprobe. Aber es ist nicht immer möglich, (Ipsos 2010a). jede Person einer Gruppe zu befragen. Wie erhalten Sie also eine 44gab quer verteilt über 22 Länder eine von fünf Personen an, repräsentative Stichprobe – sagen wir der Studenten Ihrer Hoch­ zu glauben, dass Aliens zur Erde gekommen sind und nun – schule? Wie könnten Sie eine Gruppe aussuchen, die repräsenta­ getarnt als Menschen – unter uns weilen (Ipsos 2010b). tiv ist für die gesamte studentische Population – die gesamte 44sagen 68% aller Menschen – das sind etwa 4,6 Mrd. Gruppe, die Sie untersuchen und beschreiben wollen? Typischer­ ­Menschen –, dass die Religion in ihrem Alltag eine wichtige weise würden Sie eine Zufallsstichprobe ziehen, eine Stich­ Rolle spielt (Diener et al. 2011). probe, bei der jede einzelne Person in der Gesamtgruppe die gleichen Chancen hat teilzunehmen. Sie würden etwa die Namen Aber die Fragen richtig zu stellen, ist eine heikle Sache; und die in einer Auflistung der Studierenden nummerieren und dann Antworten können auch von Formulierungen und von der Aus­ einige ­Zufallszahlen generieren, um die Umfrageteilnehme­ wahl der Befragten abhängen. rinnen und -teilnehmer auszuwählen. (Jedem Student einen ­Fragebogen zuzusenden, würde nicht funktionieren, denn die Befragung (»survey«) – Technik, bei der die von ihnen selbst berichteten gewissenhaften Menschen, die ihn zurückschicken, wären Einstellungen oder Verhaltensweisen der Menschen einer bestimmten Gruppe ermittelt werden; i. Allg. wird eine repräsentative Zufallsstichprobe keine Zufallsstich­probe.) Große repräsentative Stichproben sind befragt. besser als kleine; aber eine kleine repräsentative Stichprobe von 30 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie Prüfen Sie Ihr Wissen 55Was ist der Stichprobenfehler und wie vermeiden ihn 2 ­Forscher? 2.2.3 Korrelation ??2.5 Was sind positive und negative Korrelationen und wieso ermöglichen sie Vorhersagen, nicht aber Ursache-Wirkungs- Erklärungen? Die Verhaltensbeschreibung ist der erste Schritt zur Verhaltens­ vorhersage. Beobachtungen in natürlicher Umgebung und Be­ fragungen zeigen uns häufig, dass ein bestimmtes Merkmal oder ein Verhalten mit einem anderen zusammen auftritt. In solchen Fällen sprechen wir von einer Korrelation. Eine statistische Maß­..Abb. 2.11 (This modern world by Tom Tomorrow, © 1991) zahl (der Korrelationskoeffizient) zeigt uns, wie eng zwei Fak­ toren miteinander verknüpft sind und wie gut der eine Faktor den anderen vorhersagt. Wenn wir wissen, wie stark ein hoher 100 Personen ist besser als eine nicht repräsentative Stichprobe Punktwert (Score) in einem Eignungstest mit Schulerfolg korre­ von 500 Personen. liert, dann wissen wir auch, wie gut diese Punktzahl Schulerfolg Politische Meinungsforscher erhalten ihre Stichprobe für vorhersagt. ­landesweite Wählerbefragungen genau auf diesem Weg. Nur 1500 Korrelation (»correlation«) – Maßeinheit, welche das Ausmaß des Zusam­ zufällig ausgewählte Leute aus allen Teilen des Landes l­iefern ein menhangs zwischen zwei Merkmalsvariablen angibt und damit ausdrückt, bemerkenswert genaues Bild von den im Land herrschenden Mei­ wie gut eine Variable die andere Variable vorhersagt. nungen. Ohne Zufallsstichprobe führen große Stichproben – und Korrelationskoeffizient (»correlation coefficient«) – statistische Maßzahl dazu gehören auch Telefonbefragungen und Fernseh- oder Web­ des Zusammenhangs zwischen zwei Variablen (von –1 bis +1). site-Abstimmungen – oft bloß zu irreführenden Ergebnissen. In diesem Buch werden wir immer wieder die Frage stellen, wie Population (»population«) – sämtliche Fälle in einer Gruppe, aus der eine Stichprobe für eine Studie gezogen wird. (Achtung: Mit Ausnahme von stark der Zusammenhang zwischen zwei Variablen ist: Wie eng nationalen Studien ist damit nicht die gesamte Population eines Landes hängen beispielsweise die Persönlichkeitsscores eineiiger Zwil­ ­gemeint.) linge zusammen? Wie genau kann man anhand der Punktzahl in Zufallsstichprobe (»random sample«) – Stichprobe, die eine Popula­ einem Intelligenztest die berufliche Leistung vorhersagen? Wie tion weitgehend repräsentiert, weil jedes Mitglied der Population mit eng hängt Stress mit Krankheit zusammen? In solchen Fällen der ­gleichen Wahrscheinlichkeit in die Stichprobe aufgenommen wer­ den kann. können Scatterplots bzw. Punkt- oder Streudiagramme Klarheit schaffen. Merken Sie sich: Bevor man den Ergebnissen einer Umfrage Jeder Punkt in einem Streudiagramm gibt den Wert von zwei Glauben schenkt, sollte man sie kritisch hinterfragen: Betrachten Variablen an. Die drei Streudiagramme in. Abb. 2.12 illustrieren Sie die Stichprobe. Man kann die Nachteile einer nicht repräsen­ die Bandbreite möglicher Korrelationen – von einer perfekten tativen Stichprobe nicht dadurch wettmachen, dass man einfach positiven bis hin zu einer perfekten negativen Korrelation. (Per­ weitere Personen hinzunimmt. fekte Korrelationen kommen in der »realen Welt« allerdings kaum vor.) Eine positive Korrelation bedeutet, dass zwei Werte­ Schätzungen mit sehr großen Stichproben sind recht zuverlässig reihen wie etwa Körpergröße und Gewicht jeweils gemeinsam (reliabel). Der Buchstabe E hat schätzungsweise einen Anteil von größer bzw. kleiner werden. 12,7% an allen Buchstaben in englischsprachigen schriftlichen Eine negative Korrelation sagt nichts darüber aus, ob der Zu­ Texten. In Melvilles Moby Dick stellt E tatsächlich 12,3% der sammenhang zwischen zwei Variablen stark oder schwach ist; 925.141 Buchstaben des Textes, 12,4% der 586.747 Buchstaben zwei negativ korrelierende Variablen bedeuten, dass hier ein in Dickens’ A Tale of Two Cities und 12,1% der 3.901.021 Buch­ ­umgekehrter Zusammenhang vorliegt (die Punktzahl der einen staben, aus denen 12 Werke von Mark Twain bestehen (Chance Variable steigt, während die Punktzahl der anderen sinkt). Die News 1997). Studie zur inneren Rede, die an Studenten der University of 2.2 · Wie stellen und beantworten Psychologen Fragen? 31 2..Abb. 2.12a–c Streudiagramme (Scatterplots), die verschiedene Korrelationsmuster zeigen. Korrelationskoeffizienten variieren zwischen +1,00 (die Werte einer Variablen wachsen direkt proportional mit den Werten der anderen Variablen) und –1,00 (die Werte einer Variablen sinken direkt proportional mit dem Ansteigen der anderen Variablen) ­ evada durchgeführt und früher in diesem Kapitel bereits disku­ N dann verstehen wir, dass wir mögliche Zusammenhänge, die uns tiert wurde, beinhaltete ebenfalls eine Korrelationskomponente. im Alltag begegnen, leicht übersehen. Manchmal brauchen wir Die Berichte der Studenten über innere Rede korrelierten negativ die Klarheit und Deutlichkeit der Statistik, um zu erkennen, was (–.36) mit den Punkten auf einer anderen Variable: psycholo­ direkt vor unseren Augen liegt. Mit Hilfe von statistisch aufbe­ gischer Stress. Studenten, die vermehrt von innerer Rede be­ reiteten Informationen über das Anforderungsniveau der beruf­ richteten, gaben tendenziell etwas weniger psychologischen lichen Tätigkeit, Führungspositionen, Leistung, Geschlecht und Stress an. Einkommen können wir ohne Schwierigkeiten erkennen, wo Geschlechtsdiskriminierung vorliegt. Doch wir nehmen die Dis­ Streudiagramm (auch Punktdiagramm; »scatterplot«) – grafisch dar­ gestellte Punktewolke. Jeder Punkt in einem Streudiagramm gibt die Werte kriminierung häufig nicht wahr, wenn die gleiche Information in von zwei Merkmalsvariablen an. Der Verlauf der Verbindungslinie Form von Einzelfällen präsentiert wird (Twiss et al. 1989). zwischen den Punkten zeigt die Richtung des Zusammenhangs zwischen den beiden Variablen an. Die Konzentration der Punkte verweist auf die Stärke des Zusammenhangs (eng beieinanderliegende Punkte bedeuten..Tab. 2.2 Körpergröße und Temperament von 20 Männern hohe Korrelation). Versuchsperson Körpergröße in cm Temperament Mit Hilfe der Statistik können wir Dinge erkennen, die wir sonst nicht sehen würden. Probieren Sie es doch einmal mit einem 1 200 75 ­eigenen imaginären Projekt aus. Sie könnten sich fragen, ob hoch­ 2 158 66 gewachsene Männer gelassener oder nervöser sind als ­kleine. Zu 3 165 60 diesem Zweck sammeln Sie zwei Datensätze: die ­Körpergröße 4 195 90 der Männer und ihr Temperament. Sie messen die Körpergröße 5 185 60 von 20 Männern und bitten einen unbeteiligten Kollegen, das Temperament dieser Männer zu bewerten (dabei bedeutet 0 »sehr 6 173 42 ruhig« und 100 »extrem nervös«). 7 155 42 Können Sie mit diesen Daten (. Tab. 2.2) vor Augen schon 8 183 60 sagen, ob es eine positive oder eine negative Korrelation zwi­ 9 188 81 schen Körpergröße und Nervosität gibt? Oder ist die Korrelation 10 151 39 schwach oder gar nicht vorhanden? 11 163 48 Beim Vergleich der beiden Zahlenreihen in. Tab. 2.2 können die meisten Menschen kaum einen Zusammenhang zwischen 12 189 69 Körpergröße und Temperament erkennen. Tatsächlich ist die 13 178 72 Korrelation in diesem fiktiven Beispiel positiv, nämlich +0,63. 14 165 57 Das erkennen wir, wenn wir die Daten in einem Punktdiagramm 15 182 63 anordnen. Verfolgt man die Punkte in. Abb. 2.13 von links nach 16 175 75 rechts, so zeigt der nach oben führende, ovalförmige Verlauf der Punktewolke, dass die beiden Variablen (Körpergröße und Tem­ 17 159 30 perament) unseres fiktiven Untersuchungsbeispiels tendenziell 18 180 57 gemeinsam ansteigen. 19 171 84 Wenn wir schon bei der systematischen Darbietung der 20 175 39 ­Daten in. Tab. 2.2 keinen Zusammenhang erkennen können, 32 Kapitel 2 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie 2..Abb. 2.14 Drei mögliche Zusammenhänge von Ursache und Wirkung...Abb. 2.13 Streudiagramm für Körpergröße und Temperament. Die Menschen mit geringem Selbstwert werden eher von Depressionen berich­ dargestellten Daten von 20 fiktiven Personen (jede Person wird durch einen ten als Menschen mit hohem Selbstwert. Eine mögliche Erklärung für diese Punkt dargestellt) zeigen einen nach oben führenden Verlauf und weisen negative Korrelation könnte lauten: Ein schlechtes Selbstbild verursacht damit auf eine positive Korrelation hin. Die Punkte sind über das ganze ­depressive Gefühle. Doch zeigt das Diagramm, dass auch andere Ursache- ­Diagramm verstreut; das zeigt, dass die Korrelation deutlich unter +1,0 liegt Wirkungs-Zusammenhänge denkbar sind Merken Sie sich: Der Korrelationskoeffizient kann uns helfen, wie A (Waffen) B (Morde) verursacht. Ich höre aber andere Leser die Welt dadurch deutlicher wahrzunehmen, dass wir die Stärke entgegnen: »Nicht so schnell. Vielleicht kaufen Menschen, die an des Zusammenhangs zwischen zwei Faktoren erkennen können. gefährlichen Orten leben, mehr Waffen zur Selbstverteidigung – vielleicht führt B zu A.« Oder vielleicht ist auch ein dritter Prüfen Sie Ihr Wissen Faktor C für A und B verantwortlich. 55Geben Sie an, welche Studien über positive Korrela­ Ein anderes Beispiel: Das Selbstwertgefühl korreliert negativ tionen berichten und welche über negative. mit Depression (und sagt deshalb Depression vorher). (Je nied­ 1. Je mehr Kinder und Jugendliche verschiedene Medien riger der Selbstwert einer Person ist, desto größer ist ihr Risiko, nutzen, desto weniger zufrieden sind sie mit ihrem an einer Depression zu erkranken.) Bedeutet das, dass ein ge­ ­Leben (Kaiser 2010). ringes Selbstwertgefühl Depression verursacht? Sollten Sie – auf­ 2. Je mehr sexuell geprägte Inhalte sich Jugendliche grund der evidenten Korrelation – der Meinung sein, dass das im Fernsehen ansehen, desto wahrscheinlicher ist es, der Fall ist, dann befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Einer der dass sie sexuell aktiv werden (Collins et al. 2004). fast unvermeidbaren Denkfehler ist die Annahme, dass eine Asso­ziation – manchmal als Korrelationskoeffizient dargestellt 3. Je länger Kinder gestillt werden, desto besser ist später – der Nachweis für einen Kausalzusammenhang ist. Doch ganz ihre schulische Leistung (Horwood u. Fergusson 1998). gleich, wie stark der Zusammenhang auch sein mag: Korrelation ist kein Beweis für Kausalität. 4. Je stärker das Einkommen bei einer Stichprobe armer Doch wie die Optionen 2 und 3 in. Abb. 2.14 zeigen, be­ Familien anwuchs, desto weniger psychiatrische kommen wir dieselbe negative Korrelation zwischen Selbstwert ­Symptome hatten ihre Kinder (Costello et al. 2003). und Depression, wenn wir davon ausgehen, dass die Depres­sion die Ursache dafür ist, dass die betroffenen Menschen nicht viel von sich halten. Eine weitere denkbare Erklärung für die Korre­ lation wäre ein dritter Faktor: Eine ererbte Veranlagung oder eine Korrelation und Kausalität Störung der chemischen Botenstoffe im Gehirn ­könnte sowohl Korrelationen sind hilfreich bei der Vorhersage. Die New York das geringe Selbstwertgefühl als auch die Depression erklären. Times berichtet, dass US-Countys mit vielen Waffenbesitzern Dieser Punkt ist so wichtig und zeigt so grundlegend, wie tendenziell höhere Mordraten verzeichnen (Luo 2011). Waffen­ durch die Anwendung psychologischen Wissens eine genauere besitz sagt Tötungsdelikte vorher. Was könnte die Korrelation Beurteilung möglich ist, dass ich noch das Beispiel einer Be­ zwischen Waffen und Tötungsdelikten wohl erklären? fragung von über 12.000 Jugendlichen anführen möchte. Je mehr Ich kann jemanden geradezu denken hören: »Na logisch, sich Teenager von ihren Eltern geliebt fühlen, desto geringer ist wenn Waffen in greifbarer Nähe sind, werden – insbesondere im die Wahrscheinlichkeit, dass sie schädliche Gewohnheiten an­ Affekt – mehr Menschen getötet.« Dies wäre ein Beispiel dafür, nehmen: frühe sexuelle Beziehungen, Rauchen, Alkohol- und 2.2 · Wie stellen und beantworten Psychologen Fragen? 33 2 Drogenmissbrauch oder gewalttätiges Verhalten (Resnick et al. der Muttermilch die Gehirnentwicklung? Um solche Fragen 1997). »Eltern haben großen Einfluss auf das Verhalten ihrer zu beantworten – um Ursache und Wirkung voneinander zu Kinder während der gesamten Highschool-Zeit«, schwärmte trennen – können Forscher experimentieren. Mit Hilfe eines ­daraufhin eine Meldung der Associated Press (AP) über diese Experiments können sich Forscher auf die möglichen Wirkun­ Studie. Doch die Korrelation beinhaltet nicht automatisch einen gen eines oder mehrerer Faktoren konzentrieren, indem sie Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Die AP hätte mit ebenso 1. die interessierenden Faktoren manipulieren und viel Berechtigung titeln können: »Jugendliche, die sich vernünf­ 2. andere Faktoren konstant halten (»kontrollieren«). tig verhalten, fühlen sich von ihren Eltern geliebt und anerkannt, während Jugendliche, die zu Grenzüberschreitungen neigen, ihre Dazu schaffen sie oft eine Versuchsgruppe, bei der die Teil­ Eltern für verständnislose Trottel halten.« nehmer eine Behandlung bekommen, und eine Kontrollgruppe, bei der dies nicht der Fall ist. Um irgendwelche vorher be­ Prüfen Sie Ihr Wissen stehenden Unterschiede zwischen den zwei Gruppen gering zu 55Die Dauer einer Ehe korreliert mit dem Verlust von ­Haaren halten, ­weisen die Forscher die Teilnehmer nach dem Prinzip der bei Männern. Bedeutet das, dass die Ehe den Haarverlust Randomisierung den zwei Bedingungen zu. Die rando­misierte verursacht (oder dass kahl werdende Männer die besse­ Zuweisung macht die zwei Gruppen vergleichbar. Wenn ein ren Ehemänner sind)? Drittel der Personen, die freiwillig an einem Expe­riment teil­ nehmen, mit den Ohren wackeln kann, dann wird ungefähr ein ­Drittel der Teilnehmer in jeder Gruppe zu der S­ pezies der Ohren­ Merken Sie sich (passen Sie jetzt besonders gut auf): Assoziation wackler gehören. Auch in Bezug auf andere Faktoren – Alter, ist kein Beweis für Kausalität.3 Eine Korrelation weist auf die Einstellung und weitere Merkmale – werden die Experimental- Möglichkeit eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs hin, und Kon­trollgruppe ähnlich sein. Deshalb können wir, wenn sich doch sie ist kein Nachweis für einen Kausalzusammenhang. die Gr

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