Kapitel 4 - Ethik PDF

Summary

This chapter discusses inequality, factors of production, and the modern role of the state. It examines income growth trends, labor participation, and the impact of technology on jobs.

Full Transcript

Ethik 4 Ungleichheit, Produktionsfaktoren und eine moderne Rolle des Staats Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – kurz OECD – hält in einem Bericht, der bereits im Jahr 2011 veröffentlicht wurde, folgende Erkenntnis fest: „Die ungleiche Verteilung des Wachstums von...

Ethik 4 Ungleichheit, Produktionsfaktoren und eine moderne Rolle des Staats Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – kurz OECD – hält in einem Bericht, der bereits im Jahr 2011 veröffentlicht wurde, folgende Erkenntnis fest: „Die ungleiche Verteilung des Wachstums von Ar- beits- und Kapitaleinkommen, die mit dem Rückgang des Arbeitsanteils ein- herging, deutet darauf hin, dass diese Trends den sozialen Zusammenhalt gefährden könnten.“ 19 Die Einkommenszuwächse in Form von Lohneinkommen fielen in den letz- ten Jahren hinter die Einkommenszuwächse durch Kapitalerträge zurück. Die Internationale Arbeitsorganisation hat in einer Studie 2017 festgestellt, dass in 91 von 133 Ländern der Anteil der Lohnquote in den letzten Jahren vergleichsweise gesunken ist. Abbildung 10: Entwicklung der Lohnquote in den OCED Ländern (hier bezeichnet als Advanced economies), Thorwaldsson (2018) Die Lohnquote ist jene volkswirtschaftliche Kennzahl, die darlegt, welchen Anteil die Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen ausmachen. Das Volkseinkommen bemisst hingegen alle errechneten Erwerbs- und Vermö- genseinkommen, die von Staatsbürgern im In- und Ausland erworben wer- den. Je geringer also der Anteil am Volkseinkommen durch Erwerbsarbeit, desto höher die Erträge durch andere Einkünfte wie Vermögens- oder Un- ternehmenseinkommen. 19 OECD, 2011, S. 147 46 Ethik Die renommierte britische Zeitschrift Economist berechnet, dass der Rück- gang der Einkommensquote zu einer nachweislichen Verlagerung von Ver- mögenswerten führte. Seit dem Jahr 1975 sind über den Bemessungszeit- raum bis ins Jahr 2018 durchschnittlich zwei Billionen Dollar pro Jahr in den vermögenden Ländern aufgrund der unterschiedlichen Dynamiken zwischen Lohneinkommen und Kapitaleinkommen als gewachsenes Kapitaleinkom- men zu verbuchen. Auch diese soziale Entwicklung reflektiert teils einen technologischen Hin- tergrund. Der Einsatz von Maschinen und moderner Technologie hilft, die Lohnkosten zu senken und sukzessive mehr Tätigkeiten in Produktionspro- zessen automatisiert zu bewerkstelligen. Die Grundlagen der Wertschöp- fung verschieben sich: Die Boston Consulting Group analysiert für die Situa- tion in den Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 2015, dass eine Arbeits- stunde menschlicher Arbeitskraft durchschnittlich Aufwände von $ 28 ver- ursacht. Hingegen, wenn ein Roboter die gleiche Arbeitsleistung vollbringt, der Gesamtaufwand samt aller Abschreibungen, Anschaffungs- und Be- triebskosten mit rund $ 8 zu Buche schlägt. 20 Die Tendenz für die Gesamt- kostenrechnung der Roboter gibt sich fallend, die Lohnkosten steigen hinge- gen kontinuierlich. Neben der Erhöhung der Produktivität, die mit dem Ein- satz von Maschinen einhergeht, zeigen sich auch die laufenden Kosten im Vergleich als günstiger. Wenn jedoch diese Differenz kontinuierlich an Größe gewinnt, dann stellt sich die Frage, ob die konventionellen Formen der Redistribution von volks- wirtschaftlicher Wertschöpfung noch effektiv operieren. Bisher wurden durch die jährliche Erhöhung des Lohnniveaus die Arbeitnehmer an den Pro- duktivitätsgewinnen beteiligt. Ob dieser institutionalisierte Mechanismus auch dann noch greift, wenn die Disparitäten zwischen Kapital und Arbeit sich weiterhin beschleunigen, erscheint offen. Die Debatte rund um die Einführung des bedingungslosen Grundeinkom- mens, die global an aktueller Wahrnehmbarkeit zunimmt, wäre auch exakt vor diesem Hintergrund zu verstehen. Die Diskussion stellt immanent die Frage, wie faktisch mit anwachsender Wertschöpfung und Produktivitäts- steigerung umgegangen werden kann, die kontinuierlich weniger menschli- che Arbeitskraft bedarf. Wie lassen sich die Ergebnisse der Produktivitäts- fortschritte distributiv verteilen und andere Ansätze hinsichtlich der gesamt- gesellschaftlichen Arbeitstätigkeiten denken? Ein solcher gesellschaftlicher Schritt, wie es die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens 20 Sirkin (u. a.), 2015 47 Ethik darstellt, hätte gerade auch für den Bereich der Mitarbeiterführung massive Konsequenzen. Generell wird die volkswirtschaftliche Wertschöpfung als eine Funktion des Einsatzes der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital verstanden. Adam Smith, einer der ersten Theoretiker, der über die Funktionsweise der Märkte nachdachte, hat diesbezüglich im 18. Jahrhundert Leitprinzipien formuliert, die noch immer Relevanz zeigen. Der Wirkzusammenhang aus Kapital und Arbeit, den Adam Smith skizziert, wirkt noch immer wie ein praktischer Im- perativ für erfolgreiches Management. Seine Ausführungen: Jeder Kapitalbesitzer, der viele Arbeiter beschäftigt, ist ganz zwangsläufig aus eigenem Interesse bestrebt, die an- fallende Arbeit so sinnvoll aufzuteilen und zu organisieren, daß die Arbeiter in die Lager versetzt werden, das Größt- mögliche zu leisten. Darum ist er auch bemüht, sie mit den denkbar besten Werkzeugen und Maschinen auszustatten. Was im kleinen für die Arbeiter in einer einzelnen Werkstatt gilt, das trifft auch im großen und ganzen für ein ganzes Land zu. […] Da nun mehr Köpfe darüber nachdenken, wel- che Maschine und Werkzeuge für jeden Arbeitsplatz am besten geeignet sind, ist die Aussicht weit größer, daß diese auch erfunden werden. 21 Damit der Wohlstand einer Volkswirtschaft steigt, braucht es folglich die möglichst effektive Verwendung von materiellen und immateriellen Mitteln und Dienstleistungen, um effektive Wertschöpfung zu generieren. Dabei wirken also die Faktoren von menschlicher Arbeitskraft und investiertem Ka- pital zusammen, das beispielsweise die Anschaffung neuer Geräte und Ma- schinen finanziert. Diese Faktoren ließen sich jetzt fallweise intensivieren oder ihr Wert erhö- hen. Beispielsweise lässt sich der Faktor Arbeit durch die Investition in Fort- bildung intensivieren und der Faktor Kapital steigern, indem neue Geräte angeschafft werden. Wird ein Faktor gestärkt oder angehoben, dann folgt die logische Konsequenz, dass die Gesamtwertschöpfung steigt. In eine ma- thematische Formel gewandelt, würde sich die Wertschöpfung, wie folgt ab- bilden lassen: 21 Smith, 2018, S. 125 48 Ethik Y = F (A, K) Y bezeichnet in diesem Fall das Bruttoinlandsprodukt, also jene ökonomi- sche Kennziffer, die den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen misst, die eine Volkswirtschaft faktisch produziert hat. Dieser Wert bildet eine Funktion der Faktoren Arbeit (A) und Kapital (K). Je nach Höhe des Inputs der beiden Faktoren sinkt oder steigt das Bruttoin- landsprodukt. Adam Smith zählt auch den Boden als Produktionsfaktor. Die effektive Zusammenführung dieser drei Produktionsfaktoren, um Wert zu erzeugen, bildete lange die gängige Erklärung dafür, wie Wert in modernen Ökonomien geschaffen wurde. Folglich ist Wertschöpfung nichts anderes als der zielgerichtete und zweckmäßige Einsatz von Arbeit und Kapital. Es dauerte faktisch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, dass dieses Modell noch um einen weiteren, entscheidenden Faktor ergänzt wurde. Der Öko- nom Robert Solow, im Jahr 1987 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissen- schaften ausgezeichnet, erkennt, dass dieses jahrhundertealte Erklärungs- modell ergänzungsbedürftig sei. Er führt einen dritten Faktor ein, der neben Arbeit und Kapital über das Ausmaß der Wertschöpfung mitentscheidet: Den wachsenden Entwicklungsstand der Technologie. Ein Anstieg der Pro- duktion wird folglich nicht nur durch intensivierte Arbeit und erhöhte Kapi- talbildung erwirkt, sondern auch durch den Fortschritt der Technologie be- gründet. Entsprechend den Analysen von Robert Solow basiert Wertschöpfung auf der Nutzung von drei unterschiedlichen Input-Faktoren: Kapital, Arbeit, dem Entwicklungsstand der genutzten Technologie. Merksatz Die Funktion der Wertschöpfung würde sich also folgendermaßen definie- ren: Y = F(A, K, T) Für die Berechnung der Leistungskraft einer Volkswirtschaft wurde entspre- chend die Kennzahl der Totalen Faktorenproduktivität entwickelt. Sie lässt das Ausmaß an Produktivität erfassen, das eine Volkswirtschaft erwirkt, ohne den Einsatz der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit zu steigern. Die Kennzahl ließe sich folglich als Stand des technologischen Fortschritts reflek- tieren. Wertschöpfung geschieht also nicht nur, indem Arbeit und Kapital investiert werden, sondern es ist auch entscheidend, auf welchem technologischen Stand sich eine Volkswirtschaft bewegt. Es lässt sich noch so viel in Arbeit 49 Ethik und Kapital investieren, wenn der technologische Fortschritt nicht effektiv genutzt wird, dann verschleißen sich die Mühen und die Produktivität fällt hinter ihr denkbares Potenzial zurück. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Arbeit und Kapital als Ressourcen oft eng begrenzt sind. Wenn also die funktionstragenden Personen in Organisa- tionen verstanden werden sollen, die für die digitale Transformation verant- Merksatz wortlich zeichnen, dann braucht es ein manifestes Bewusstsein: Sie sind die- jenigen, die sich um die Hebung des dritten – oft vergessenen, aber immer entscheidenden – Produktionsfaktors kümmern. Sie besorgen die Nutzung der totalen Faktorenproduktivität. Ihre Aufgabe liegt in der Intensivierung dieses Faktors. Der Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin erwirkt in diesem Zusammen- hang interessante und erklärende Einsichten. Anders als üblicherweise und häufig konzipiert, erklärt Jeremy Rifkin, dass sich gegenwärtig nicht die vierte Entwicklungsstufe der industriellen Revolution abzeichnen würde, sondern sich das Zeitalter der III. Industriellen Revolution ausmachen lässt. Wie begründet Jeremy Rifkin diese Einschätzung? Er definiert nicht nur die Mechanik der genutzten Produktionsverfahren als Definitionsmerkmal der Entwicklungsschritte der industriellen Revolution. Stattdessen müssen ge- mäß seinem Verständnis unterschiedliche Komponenten zusammengeführt werden, um die eigentlichen Bedeutungsverschiebungen zu verstehen, die sich im Rahmen der industriellen Revolution entfalten. Wird die Betrach- tungsweise also auf diese Weise substantiviert, dass nicht nur die Verände- rung der Produktionsmechanik als Definitionsmerkmal herangezogen wird, dann zeigen sich mehrere Ausgangspunkte, die der Entwicklungsgeschichte der industriellen Revolution eigen wären. Jeremy Rifkin erklärt, dass bei den anfänglichen durch die industrielle Pro- duktion freigesetzten Mechanismen, mehrere Aspekte schlagend wurden: Durch Innovationen verändern sich die Raum-Zeit-Wahrnehmungen. Grö- ßere Distanzen als bisher werden plötzlich überbrückt, damit lassen sich in Folge größere soziale Einheiten in einen gesellschaftlichen Verband integrie- ren. Der Einsatz von Innovation beschleunigt außerdem die Verbreitung von Information, wissensbasierte Prozesse verändern sich. Sowohl die Struktu- ren der gesellschaftlichen Integration als auch die politischen Entschei- dungsmechanismen werden erweitert und transformiert. Die I. Industrielle Revolution bildet diesbezüglich ansehnlich ab, wie durch den Einsatz von neuen Technologien faktisch unterschiedliche Verände- rungspotenziale wachgerufen werden. Denn die Dampfmaschine revolutio- nierte nicht nur die angewandten Verfahren der Herstellungsweisen in der 50 Ethik Industrie. Ihr Beschleunigungspotenzial fand beispielsweise auch in der Pro- duktion von Druckerzeugnissen Einsatz. Beschleunigte Druckverfahren führ- ten dazu, dass Druckwerke billiger und schneller vervielfältigt werden konn- ten. Das moderne Zeitungswesen entstand. Informationen zirkulierten also schneller im größeren Rahmen als bisher der Fall. Diese Entwicklung wurde dann nochmals durch den Aufbau eines Telegraphensystems intensiviert. Dampfbetriebene Druckverfahren und die Ausbreitung des Telegraphensys- tems gingen mit der Nutzung einer neuen Energiequelle einher. Kohle wurde als Energieträger entdeckt und in unterschiedlichen Zusammenhängen in- strumentalisiert. Auch um den Abbau von Kohle voranzubringen, wurde an der Weiterentwicklung der Dampfmaschine gewirkt. Waren dann erstmal diese technischen Verfahren in Verbindung mit der Dampfmaschine perfek- tioniert, verstehen es innovative Geister, die neuen technologischen Lösun- gen auch für andere Nutzbereiche anzuwenden. Die Dampfmaschine wird in Folge beispielsweise zur Grundlage einer neuen Form der Mobilität, sie wird zum Betrieb von Zügen eingesetzt, sie wird auf Schiene gebracht. Transport und Logistik verändern sich in Folge, auch sie bekommen neue operative Grundlagen verpasst. Nach Auffassung von Jeremy Rifkin hat die Erste Industrielle Revolution gleich wie die nachfolgenden beiden industriellen Revolutionen drei Funda- mente, die ihr jeweils eigen waren. Alle Entwicklungsstufen der industriellen Revolution zeigen Besonderheiten und entscheidende Definitionsmerkmale in dreifacher Hinsicht. Eine maßgebliche Energiequelle liefert die Energie für vielfältige Pro- duktionsprozesse. Ein neues Transportsystem begründet logistische Verfahren anders. Kommunikationsverfahren beschleunigen sich und verstehen es, bis- her weite Distanzen komplikationslos zu überbrücken. Diese Veränderungen bewirken zusammen, dass die Vorstellungen und Wahrnehmungen von Raum und Zeit sich durch Erweiterung und Beschleu- nigung verändern. Auf dieser Basis entsteht als Folgewirkung eine andere Selbstwahrnehmung von Gesellschaft. Die Kombination aus Energiesyste- men, gängigen Kommunikationsverfahren und Logistiksystemen prädispo- niert auch die Art und Weise, wie Macht und gesellschaftliche Teilhabe in Gesellschaften verwirklicht werden. Für die I. Industrielle Revolution, die dem 19. Jahrhundert Gestalt gibt, fun- giert als entscheidender Energieträger Kohle. Die Eisenbahn verändert das Transportsystem grundlegend. Modernes Pressewesen und Informations- übermittlung mittels Telegraphen geben der Gesellschaft eine vollkommen 51 Ethik veränderte Kommunikationslogik. Ihren Ursprung findet diese Revolution in Großbritannien. Im 20. Jahrhundert folgt dann die II. Industrielle Revolution. Jeremy Rifkin erklärt der griffigen Einfachheit halber die Entwicklungslinie der industriel- len Revolutionen anhand des Ablaufs der Jahrhunderte. Die Bezugsgrößen Transport, Energiequelle und Kommunikation bleiben gleich, doch erhalten sie eine radikal andere Bedeutung und Wirkung verpasst. Für die II. Industri- elle Revolution, die dem 20. Jahrhundert Form gibt, wurden die Fabriken elektrifiziert. Diese Energieversorgung wurde zentralisiert organisiert und als wichtigster Energieträger nicht mehr Kohle, sondern Erdöl verwendet. Die Ausbreitung des Telefons ermöglichte es nunmehr, verbale Mitteilungen über weite Distanzen in Echtzeit zu transportieren. Dieser Bruch war mar- kant. Plötzlich konnten Mitmenschen über weite Distanzen miteinander in Echtzeit verbal interagieren, ohne dass physische Präsenz dafür Vorausset- zung wäre. In weiterer Folge kam es dann zur Ausbreitung von Fernsehen und Radio. Damit etablierte sich eine vereinheitlichte Kommunikationsarchi- tektur, wo von einem Zentrum aus mit einer gleichlautenden Botschaft ganze Gesellschaften in Direktübertragung ohne Zeitverlust erreicht werden konnten. Die Kommunikation erfolgte im Zuge dieser Massenmedien immer monodirektional – einem Absender stand eine Fülle an Empfängern gegen- über. Ergänzend findet nicht nur ein Umbruch bezüglich des meistgenutzten Energieträgers und der verwendeten Kommunikationsarchitektur statt, in weiterer Folge wird durch die von Henry Ford angestoßene Revolution die Gesellschaft auf Grundlage des eigenen Autos mobil. Transport und Logistik erhalten eine vollkommen individualisierte Grundstruktur verpasst. Der Be- griff von machbaren Distanzen erhält plötzlich einen radikal anderen Aus- gangspunkt. Symbol für die Zweite Industrielle Revolution wurden die Ver- einigten Staaten von Amerika, es war das amerikanische Jahrhundert – me- dial, hinsichtlich des Rohmaterials Erdöl, dem Auto als individueller Besitz. Die Attraktivität dieses anziehenden American Way of Life strahlte auch über den Atlantik und über den Pazifik hinweg aus. Amerika war die maßgebliche Macht, auch bezüglich der Organisation des Markts in Form von Konzern- strukturen. Laut Theorie von Jeremy Rifkin gipfelt und endet diese Entwicklungsge- schichte im Jahr 2008, als die Finanzmärkte implodieren. Den Beginn dieser Krisenentwicklung setzt Jeremy Rifkin jedoch nicht mit dem Platzen der Sub- prime-Krise und in weiterer Folge mit der Liquidierung der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 an. Stattdessen identifiziert er den Bruchpunkt im Juli 2008, als der Preis für ein Barrel Brent Rohöl auf $ 147 stieg. Dieser Rekordpreis erschütterte die Märkte, als die Energiepreise sich basierend auf Rohöl als perspektivisch unfinanzierbar erwiesen. Das 52 Ethik begriffen, schlitterten die Märkte in eine langanhaltende und tiefgreifende Krise, die zu niedriger Produktivität führte. Wie nun den Ausweg aus dieser Abwärtsspirale finden? Die Lösung findet sich in der transformativen Alter- native der III. Industriellen Revolution. Sie bildet den notwendigen Umbruch, den es braucht, um aus der ökonomischen und gesellschaftlichen Ermattung herauszufinden, die sich mit dem Ende des erschöpften Systems der II. In- dustriellen Revolution verbindet. Allein der drohende ökologische Kollaps macht aus dem Denken in Alternativen einen unumgänglichen Imperativ. Doch finden sich auch schlicht ökonomische Beweggründe, warum eine ra- dikale Transformation unumgänglich wird: Die Produktivität lässt sich auf Grundlage existierender Systematiken nicht mehr heben. Wie Robert Solow analytisch erkannt hat, hängt der Fortschritt der Produktivität eben nicht vom Einsatz der Arbeitskraft und dem Investment von Kapital in Sachanlagen oder Finanzbestände allein ab. Produktivität gründet auch auf dem Stand der Technologie, die instrumentell genutzt wird. Was sich also in der Krise im Jahr 2008 und in den nachfolgenden Jahrzehnten voller Produktivitäts- engpässe und Folgekrisen reflektiert, wäre die finale Auslastung und Er- schöpfung einer systemischen Struktur. Die ökonomische Wertschöpfung lässt sich auf Grundlage der II. Industriellen Revolution nicht mehr weiter steigern, weil die totale Faktorenproduktivität schlicht nicht weiter gehoben werden kann. Die Technologien, die in der II. Industriellen Revolution ge- nutzt werden, stoßen an die Grenzen möglicher Entwicklungspotenziale. Die volkswirtschaftliche Entwicklung wird folglich durch den Nutzungsgrad entscheidend bestimmt, der erzielt werden kann. Die Volkswirtschaftslehre spricht von der Aggregate Efficiency. Unter Aggregate Efficiency wird der Quotient verstanden, der sich zwischen der potenziellen Arbeit und der tat- sächlich effektiven Arbeit zeigt. Wieviel von der Energie und Arbeitskraft wird wahrlich genutzt, wenn ein Produkt entlang der Wertschöpfungskette von einem Stadium ins nächste gebracht wird? Denn der größte Teil des in- vestierten Aufwands geht verloren und wird verschwendet. Das Wesen der Fortentwicklung der industriellen Revolution liegt also darin, die Aggregate Efficiency zu haben. Das Wirken an der digitalen Transformation hat genau diese Aufgabe. Es steigert die Produktivität zu einem Ausmaß, wie es in be- stehenden und vergangenen Strukturen nicht möglich war. Jeremy Rifkin hält Folgendes fest: Die zweite industrielle Revolution in den USA begann 1903 mit einer Aggregate Efficiency von 3%. Das bedeutet, dass bei jedem Prozess entlang der Wertschöpfungskette (Extrahierung der Rohmaterialien, Lagerung, Transport, 53 Ethik Produktion, Verbrauch, Recycling) etwa 97% der Energie verloren gegangen sind. Bis 1990 erreichten dann die USA eine Aggregate Efficiency von etwa 13%, Deutschland von 18,5% und Japan von 20%. Seitdem hat sich an diesem Verhältnis nichts mehr geän- dert. Arbeitsmarktreformen, Marktreformen, Steuerrefor- men oder neue Arten von Anreizen oder auch die besten Technologien werden nicht dazu beitragen, dass die Ge- samteffizienz steigt, solange wir auf der Plattform der II In- dustriellen Revolution arbeiten. Wir werden nie die Ober- grenze von 20% Gesamteffizienz überschreiten, die den größten Teil der Produktivität ausmacht. 22 Die digitale Transformation einer entwickelten Volkswirtschaft wird benö- tigt, weil das Entwicklungspotenzial der II. Industriellen Revolution ausge- schöpft ist. Insofern markiert die digitale Transformation einen grundlegen- den Wandel bestehender Systeme. Ökologisch erscheint die Verschwen- dung dieser Energiemengen, der benötigen Ressourcen und Materialien fa- tal und ökonomisch wirkt sie kontraproduktiv. Aus diesem Grund braucht es nun den radikalen Wandel der bestehenden Strukturen. Die nächste Ent- wicklungsstufe der industriellen Revolution beruht also nicht nur allein auf den neuen Technologien. Die anstehenden Erneuerungen, die im Zuge der digitalen Transformation erwartet werden können, zeigen laut Jeremy Rifkin Umbrüche bezüglich aller Definitionsmerkmale der industriellen Wertschöp- fung – Transport, Energie, Kommunikation: Die Energieressource, die genutzt wird, besteht in der alternativen Energie- gewinnung. Dieser Entwicklungsschritt verlangt ein dezentralisiertes Versor- gungs- und Verteilungssystem. Datenaustausch und Energieübertragung werden neu gekoppelt, um dieses dezentrale Netzwerk zu organisieren. Transport und Logistik werden durch die Automatisierung und den Einsatz Künstlicher Intelligenz auf Basis von Elektromobilität radikal erneuert. Schließlich begründet die Fortentwicklung der Digitalisierung neue Formen der Datenerhebung und beschleunigte Verfahren der Datenübertragung. Daten von Maschinen, Gegenständen und Personen werden integriert und ausgewertet, um das Wissensaggregat einer Gesellschaft zu heben. 22 Galoppin, 2016 54 Ethik I. Industrielle II. Industrielle III. Industrielle Revolution Revolution Revolution Transportsys- autonomes Fah- Eisenbahn Auto tem ren alternative Energieträger Kohle Erdöl Energie Tageszeitung, Telefon, Radio Kommunikation Internet Telegraph und Fernsehen Die notwendige Infrastruktur, die all diesen Prozessen der III. Industriellen Revolution, dem Datenaustausch und der Datenverarbeitung zugrunde liegt, liefert das Internet der Dinge. Auf Grundlage dieser Infrastruktur entsteht eine verbesserte Logik der Wertschöpfung. Speziell im Zusammenwirken mit anderen technologischen Entwicklungen zeigt sich das Potenzial eines signi- fikanten Umbruchs, der die Grundlagen ökonomischen Handelns radikal ver- ändern wird. Auf dieser Grundlage wird sich a) die totale Faktorenprodukti- vität heben und b) die Aggregat Efficiency markant steigern. Diese Erwartungshaltung erlaubt radikale Denkmuster: Der moderne Markt ist jener Ort, an dem Angebot und Nachfrage zusammengeführt werden. So lautet die griffigste Definition. Diese Funktion braucht es, weil im Regelfall weniger Angebot als Nachfrage vorhanden ist. Insofern benötigt es Festle- gungen, die bestimmen, welche Nachfrage durch Angebote gedeckt wird und welche Bedürfnisse unbefriedigt bleiben. Eine potenzielle und denkbare Veränderung durch die enormen Produktivitätsgewinne im Zuge des Fort- schritts der digitalen Transformation kann nun darin bestehen, dass es kei- nen institutionalisierten Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage in un- terschiedlichen marktwirtschaftlichen Zusammenhängen mehr bräuchte, weil sich auf Grundlage der verbesserten totalen Faktorenproduktivität günstig genau so viel produzierten lässt, wie als Nachfrage benötigt wird. Wo heute noch der Markt als Instanz des Ausgleichs agieren muss, kann zukünf- tig günstig und durch gesteigerte Produktivität schlicht die Nachfrage selbst gedeckt werden. Warum ist also diese Signifikanz dieser Umbrüche so entscheidend? Über den Zeithorizont der industriellen Revolution hinausgedacht, entdecken die kanadischen Ökonomen Kenneth Carlaw und Richard Lipsey, 24 unterschied- liche Universaltechnologien, die den zivilisatorischen Fortschritt begründen. Eine Universaltechnologie kennzeichnen unterschiedliche Eigenschaften: 23 23 Vgl. Lipsey (u. a.), 2005, S. 131 ff. 55 Ethik Es handelt sich um eine einzigartige, klar bestimmbare, allgemein nutzbare Technologie. Sie zeigt bereits anfänglich schnelle Durchsetzungsfähigkeit, obwohl durchaus noch enormes Verbesserungspotenzial vorhanden wäre. Sie erweist Nützlichkeit in verschiedenen Anwendungsfällen. Die Universaltechnologie verursacht vielfältige und unterschiedliche Folgewirkungen. Universaltechnologie Folgewirkung Zeitraum Neolithische Revolution - Domestizierung von Pflanzen 9000 v. Chr. Beginn Ackerbau Neolithische Revolution Domestizierung von Tieren 8000 v. Chr. – Beginn Viehzucht Herstellung von einfa- Schmelzen von Erz 7000 v. Chr. chen Metallwerkzeugen Mechanisierung, Erfindung des Rads 4000 v. Chr. Potter Rad Entwicklung der Schrift Dokumentation, Handel 3300 v. Chr. neue Waffen und Werk- Nutzung von Bronze 2800 v. Chr. zeuge neue Waffen und Werk- Nutzung von Eisen 1200 v. Chr. zeuge mechanische Systeme, Erfindung des Wasserrads Mittelalter maschinelle Arbeitskraft Bau von Dreimaster-Segel- maritimer Handel, Kolo- 15. Jhdt. schiffen nialismus Wissenschaftsrevolution, Ausbreitung des Buchdrucks Umbruch im Kreditwe- 16. Jhdt. sen Austauschbarkeit und Entstehung von Fabriken Reproduzierbarkeit von 18. Jhdt. Gegenständen Erneuerung der Produk- Dampfmaschine 18. Jhdt. tionserfahrung Pendeln, Entstehung von Bahnverbindungen 19. Jhdt. Vorstädten, Logistik Globaler Agrarhandel, Dampfschiff 19. Jhdt. Tourismus Flugzeug, Automobil, Verbrennungsmotor 20. Jhdt. mobile Kriegsführung 56 Ethik telegraphische Übermitt- Elektrizität 20. Jhdt. lung, Elektrifizierung Suburbanisierung, Ein- Automobil 20. Jhdt. kaufszentren Internationalisierung des Flugzeug 20. Jhdt. Verkehrsaufkommens Massenproduktion Konsumismus 20. Jhdt. elektronische Datenver- Computer 20. Jhdt. arbeitung systematisierte Produkti- Lean Production 20. Jhdt. onsorganisation Umbrüche in der Kom- Internet 20. Jhdt. munikation Nutzbarmachung biologi- Biotechnologie 20. Jhdt. scher Prozesse papierloses Büro, Telear- Business Virtualization 20. Jhdt. beit Medizintechnik, chemi- Nanotechnologie 21. Jhdt. sche Industrie Datenauswertung, Robo- Künstliche Intelligenz 21. Jhdt. tics, autonomes Fahren Alle diese Entwicklungen veranlassen, dass gesellschaftliche Prozesse an Komplexität gewinnen. Vor dem Hintergrund dieser Innovationen gewinnen technologische Verfahren stetig an gesellschaftlicher Bedeutung und Pro- duktivität wächst. Digitale Transformation bildet folglich einen Bestandteil des technologi- schen Fortschritts, der nicht nur wesentlich zum zivilisatorischen Prozess beiträgt, sondern die entscheidende Intensivierung der Produktivität im 21. Merksatz Jahrhundert bildet. Unternehmen, Organisationen und Volkswirtschaften, die auf dieser Grundlage zu operieren verstehen, vermögen es leichter und effektiver, Produktivität zu erwirken als vergleichbare Organisationen, die darauf verzichten. Kapital ist begrenzt und manuelle Arbeit ausgeschöpft, nur wenn Gesellschaften effektiv an der digitalen Transformation wirken, dann kann die Funktion der totalen Faktorenproduktivität gehoben werden und damit effektive Verbesserungen erwirkt werden. Im Wesentlichen handelt es sich also bei der digitalen Transformation um einen Umbruch, dessen Verständnis in größere gesellschaftliche und umfas- sende zivilisatorische Zusammenhänge eingebettet werden muss. Gegen- wärtig repräsentiert dieser Wandel doch nicht nur einen ökonomischen oder 57 Ethik maschinellen Fortschritt. Er erfasst einen Ausweg aus der ökologischen Pre- käre, in die die industrielle Revolution besonders seit der Mitte des 20. Jahr- hunderts aufgrund der massenhaften Verbrennung von fossilen Energieträ- gern geführt hat. Wenn also die soziale Dimension der digitalen Transformation reflektiert wird, dann braucht es gesellschaftliches Bewusstsein, wie die volkswirt- schaftlichen Umbrüche inklusiv gestaltet werden können. Es geht um die Fragestellung, wie die neue Rasanz der technologischen Verbesserungen zu einer inklusiven Gesellschaft führt. Diese Art des Ausgleichs scheint nicht nur innerstaatlich geboten, sondern auch die Aufgabe für eine Weltgesellschaft, die sich aufgrund globaler Technologien stetig mehr integriert und engere Interdependenzen schafft. Speziell die Finanzierung öffentlicher Haushalte beruht auf der Besteuerung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, wobei der Faktor Arbeit im Re- gelfall höher besteuert wird als der Faktor Kapital. Die Frage über zeitge- mäße Finanzierungsmodalitäten stellt sich also nicht nur vor dem Hinter- grund dysfunktionaler Umverteilungsmechanismen, die einer sozialen Schere kaum entgegenwirken, sondern auch aufgrund der Notwendigkeit solider öffentlicher Ausgaben. Wie also die Erträge durch den dritten Pro- duktionsfaktor „totale Faktorenproduktivität“ zu besteuern wären – die Frage scheint wesentlich. Denn gerade eine solide Ausstattung des öffentlichen Haushalts wirkt für eine wirksame digitale Transformation entscheidend. Diese Einschätzung gründet auf zwei nachweisbaren Überlegungen: Fortschritte in der digitalen Transformation basieren auf innovativen Unternehmen. Innovatives Unter- nehmertum, das an der digitalen Transformation wirkt, benötigt aber eine belastbare und radikal erneuerte Infrastruktur. Bereits der liberale Denker Adam Smith hat erkannt, dass dem modernen Staat drei faktische Aufgaben zufallen. Dazu zählen die militärische Verteidi- gung, die Etablierung einer zivilen Ordnung im Inneren und schließlich die Bereitstellung von Services oder Institutionen, „die einzurichten und zu er- halten niemals das unmittelbare Interesse von einzelnen oder einer kleinen Zahl von einzelnen sein kann.“ 24 Eine funktionstüchtige Gesellschaft verlangt also als Voraussetzung nach Dienstleistungen, die zwar von vielen dringlich benötigt werden, die aber nicht von einzelnen Personen oder Unternehmen zur Verfügung gestellt oder organisiert werden können. Ein funktionierender Markt setzt also Bedingungen voraus, die er zwar selbst nicht direkt erwirken kann, die er jedoch für die eigene Funktionstüchtigkeit zweifellos benötigt. 24 Vgl Smith, 2018, S. 349 f. 58 Ethik In maroden Staaten oder in Gebieten, wo staatliche Herrschaft zusammen- gebrochen ist, finden sich aufgrund der Unsicherheiten und Rechtlosigkeit keine Bedingungen, die vorausschauendes Handeln und marktwirtschaftli- che Kapitalakkumulationen gestatten würden. Das allein ist Ausweis, wie sehr ein funktionierender Markt von einem effektiven Staat abhängt. Doch nicht nur innere Stabilität und außenpolitische Sicherheitsgarantien sind Faktoren, die laut Adam Smith seitens des Staates sicherzustellen wären. Er identifiziert ebenso einen dritten Bereich an öffentlichen Dienstleistungen, der besorgt werden muss, ohne den eine moderne Gesellschaft nicht ange- messen funktioniert. Eine zeitgemäße öffentliche Infrastruktur markiert exakt eine solche Vorbe- dingung, die mittels öffentlicher Hand garantiert und entwickelt werden sollte. Entwicklungen wie die Infrastruktur für das Internet der Dinge, ein funktionstüchtiges 5G Netzwerk wären beispielsweise Fundamente, auf de- nen anschließend unternehmerische Entwicklung aufbauen kann, um von den unternehmerischen Möglichkeiten tatsächlich Gebrauch zu machen, die sich im Zuge der nächsten Entwicklungsstufe der digitalen Transformation eröffnen. Wie die Durchsetzung des Autos den Bau von Straßen benötigte, so brauchen fortschrittlichere Arten der Mobilität nun sicheren Datentrans- fer durch das Internet der Dinge. Infrastruktur verändert sich also. Dafür braucht es zum einen eine erträgliche Kooperation zwischen staatli- chen und privaten Akteuren, um eine moderne Infrastruktur zu etablieren, deren Bereitstellung sich nicht unmittelbar gewinnträchtig finanzieren ließe. Allein aus diesem Grund agiert der Staat als maßgeblicher Akteur. Zum an- deren zeigt sich besonders im Rahmen der digitalen Transformation, dass innovative Durchbrüche einer Grundlagenforschung bedürfen, die beson- ders in öffentlichen Institutionen vorangetrieben und auf diese Weise durch die Öffentlichkeit finanziert wird. Die britisch-italienische Ökonomin Mariana Mazzucato hat beispielsweise den Erfolg des iPhones untersucht und überraschende Details ausmachen können.25 Das iPhone galt als maßgebliche Innovation, als es beispielsweise bei Mobiltelefonen die herkömmlichen Displays durch Touchscreens er- setzte. Eine neue Benutzerschnittstelle wurde implementiert. Nutzerinnen konnten nun das Gerät direkt am Bildschirm mittels Einsatzes der eigenen Finger navigieren. Eine andere Neuerung, die sich durch spätere Modelle des iPhones verwirklicht sah, war die Befehlseingabe durch Sprachbedienung. Beide Technologien wurden aber nun nicht von Apple entwickelt. Stattdes- sen verstand es das Unternehmen, bestehende Forschung innovativ und 25 Mazzucato, 2013, S. 115 ff. 59 Ethik ertragreich in einem massentauglichen Konsumprodukt zu integrieren, des- sen Verkaufserfolg auch das Ergebnis einer intelligenten Marketingkam- pagne ist. Wenn aber nicht das Unternehmen selbst die Forschung bestritt, die für den Erfolg mitausschlaggebend war, welche Organisationen steckten dann anfänglich dahinter? Die Anfänge des Touchscreens liegen in einem Forschungsansatz, der als Doktorarbeit in öffentlichen US-Instituten ermöglicht wurde. Ein Studien- programm der National Science Foundation (NSF) und der Central Intelli- gence Agency (CIA) erlaubte dem Doktoranten Wayne Westermann an der öffentlichen University of Delaware seinem Interesse an neuromorphen Sys- temen nachzugehen. Die Erkenntnisse der Doktorarbeit, deren Forschung aus öffentlichen Geldern finanziert wurde, führten dann weiter zur Grün- dung des Unternehmens FingerWorks. Als anfängliche Geschäftsführer wirk- ten der Doktorand und sein Doktorvater John Elias. Die gemachten Entde- ckungen wurden schließlich patentiert und das „Startup“ im Jahr 2005 von Apple übernommen. Die technische Grundlagenforschung für das Touchscreen, das sich dann in iPhones verarbeitet findet, wurde durch öffentliche Forschung finanziert und ermöglicht. Merksatz Die Anfänge der Spracherkennungssoftware Siri zeigen einen vergleichbaren Hintergrund. Siri sollte die Aufgabe eines persönlichen Assistenten erfüllen, der in das Telefon integriert ist, als mit der Software verbal kommuniziert werden kann. Die Software basiert auf Künstlicher Intelligenz, „die lernfähig ist und über einen Algorithmus zur Websuche verfügt.“ 26Auch dieses Pro- gramm hat Anfänge in staatlicher Forschung und Finanzierung. Das Forschungsprojekt, das zur Entwicklung von Siri führte, wurde anfäng- lich von DARPA (Defense Advanced Research Projekts Agency) initiiert. DARPA bildet eine Behörde des US-amerikanischen Verteidigungsministeri- ums, die Grundlagenforschung in der Absicht finanziert, moderne Technolo- gien für militärische Zwecke zu entwickeln. DARPA etabliert dabei ein Soft- ware-Ökosystem, dessen Mission darin besteht, mit privaten Partnern Soft- und Hardwareentwicklung voranzubringen. Das leitende Interesse ist dabei die militärische Nutzung der Technologie, die später oft auch ziviles Poten- zial zeigt. Siri wurde ursprünglich als virtueller Büroassistent für Militärange- hörige konzipiert, an dem 20 Universitäten in den USA unter Leitung des Stanford Research Institutes wirkten. Die Forschungsresultate wurden schließlich vom Stanford Research Institute in ein Startup Unternehmen übertragen, das den bezeichnenden Namen „SIRI“ trug und mit dem 26 Mazzucato, 2013, S. 136 60 Ethik Investment von Wagniskapital finanziert wurde. „2010 kaufte Apple SIRI für eine Summe, über die beide Seiten sich in Schweigen hüllen.“ 27 Die Chronologie der Ereignisse erscheint bedeutsam, weil sie eine generali- sierbare Logik beschreibt, wenn das Zusammenspiel zwischen privaten und öffentlichen Akteuren bzw. der entsprechenden Finanzierungslogiken reka- pituliert werden soll. Die anfängliche Grundlagenforschung kennzeichnet ein Stadium von markanter Ungewissheit. Eine wissenschaftliche Idee wird ver- folgt, die als Unterfangen mit solchen Unsicherheiten und Unbekannten be- haftet ist, dass private Anleger davor zurückscheuen und keine Anschubfi- nanzierungen wagen. Die einzigen Investoren, die sich für diese Art von For- schung finden, sind öffentliche Institutionen im Bereich von universitären, institutionellen oder öffentlichen Forschungsprogrammen. Zeigen die Be- mühungen Erfolge und bezeugen somit weitere Entwicklungspotenziale, dann erst setzt das Interesse von Wagniskapital ein. Das Unterfangen selbst, eine erfolgreiche Grundlagenforschung zu marktreifen Anwendungen zu verwandeln, wäre immer noch riskant genug. Die eigentliche und ungewisse Grundlagenforschung wird von privaten Investoren deshalb nicht getragen, weil in diesem Stadium die Ungewissheit noch schlicht zu hoch wäre, als dass darin investiert werden könnte. Zentrale technologische Durchbrüche bilden oft das Resultat einer gewagten Grundlagenforschung, die private Investoren nicht zu finanzieren vermögen. Die direkte Rentabilität wirkt zu ungewiss, das Risiko für private Investoren Merksatz oder institutionelle Anleger ist schlicht zu hoch. Stattdessen sind es öffentli- che Investitionen von Forschungseinrichtungen, die als Anschubfinanzierung wirken. Erst wenn sich weitere Nutzpotenziale von neuartigen Forschungs- arbeiten ausmachen lassen, wird das Interesse von Wagniskapitalgebern ge- weckt. Nochmals kann das iPhone als Anschauungsmaterial genutzt werden. In die- sem Gerät finden sich nicht nur eine Spracherkennungssoftware und der Touchscreen als Facetten integriert, die von öffentlicher Forschung anfäng- lich entwickelt wurden. Auch das GPS-System, Halbleiterelemente auf Silizi- umbasis, Akkus auf Lithium-Ionen-Basis, ja selbst Datenübertragung mittels Internet, all diese Entwicklungen markierten zu Beginn öffentliche For- schungsprojekte. Die unternehmerische Leistung von Apple im Hinblick auf das iPhone be- stand also darin, unterschiedliche Innovationen, die durch öffentliche For- schung angestoßen wurden, in einem massentauglichen Produkt zu 27 Mazzucato, 2013, S. 137 61 Ethik integrieren und durch geschicktes Marketing globale Absatzmärkte dafür zu kreieren. Das Problem an diesen erfolgreichen Private-Public Partnerschaften besteht nun darin, dass sie zu oft übersehen werden und die komplexe Wirkweise nicht verstanden wird. Zu oft werden technologischer Innovationsgeist schlicht dem genialen Handeln von Unternehmen zugeschrieben. Damit wird die Erzählung unzulässig vereinfacht. Vielmehr gilt es, ein institutionel- les Setting in modernen Gesellschaften zu bedenken, indem unterschiedli- che Akteure unterschiedliche Verantwortlichkeiten wahrnehmen. Erst in der ergänzenden Wirkung dieses wirksamen Handelns werden die Entfaltungs- möglichkeiten technologischer Durchbrüche vorangebracht. Vor diesem Verständnishintergrund bemängelt nun die Ökonomin Mariana Mazzucato auch das institutionelle Verhalten von Technologiekonzernen – vor allem was, euphemistisch gesprochen, die Steueroptimierung dieser Großkonzerne betrifft. Die Kritik an den Praktiken der Steuervermeidung der Technologieriesen besteht darin, dass sie einen Deal brechen, von dem sie selbst profitieren. Ihr innovativer Erfolg und ihre bemerkenswerte unterneh- merische Leistung geschieht auf Grundlage der Nutzbarmachung öffentlich finanzierter Forschung und der Integration von Forschungsprojekten, die dann weiterverfolgt werden, wenn öffentliche Institutionen über entspre- chende Ressourcen verfügen. Durch Steuervermeidung und die reine Priva- tisierung erzielter Profite wird der Kreislauf nun seitens der Unternehmen aufgekündigt und Voraussetzungen für den eigenen Erfolg kurzsichtig unter- miniert. Die öffentliche Hand finanziert Grundlagenforschung, die private Unternehmen aufgrund des damit verbundenen Risikos nicht tragen kön- nen. Damit der Staat nun diese Tätigkeiten fortsetzen kann, braucht es eine solide Finanzierungsgrundlage in Form von bezahlten Steuern. Diese lässt sich nur aufrechterhalten, wenn die Gewinner dieser Entwicklungen sich be- reit und willens zeigen, einen ansprechenden Anteil an der Finanzierung durch ihre Steuerleistung zu tragen. Nur wenn der Zirkel auf diese Weise ge- schlossen wird, lassen sich auch die Ausgaben des Staates als sinnvolle In- vestition rechtfertigen, die sich durch erzielte Steuereinnahmen selbst trägt.28 Die anfänglichen Risiken bezüglich technologischer Grundlagenforschung werden also in der Form sozialisiert, als die Gemeinschaft sie finanziell trägt. Die erzielten Profite, die auf diesen überwundenen Risiken bauen, werden Merksatz dann schließlich vollends privatisiert. Diese Logik zeigt sich als wenig nach- haltig. 28 Mazzucato, 2013, S. 231 ff. 62 Ethik Staatlichen Institutionen kommt eine wesentliche Rolle zu, wenn es um Fra- gen wie Innovation und Wachstum geht. Öffentlichen Institutionen kommt also eine entscheidende Aufgabe zu betreffend Wirksamkeit des digitalen Wandels. Dieser Zusammenhang muss im Rahmen der digitalen Transforma- tion mitbedacht sein. Wie bereits erklärt, baut volkswirtschaftliche Produk- tivität auf den drei Faktoren Arbeit, Kapital und der totalen Faktorenproduk- tivität auf. Fortschrittliche Maschinen, die als Kapitalanlage gelten, vermö- gen nur dann ihr Entwicklungspotenzial zu realisieren, wenn sie in eine fort- schrittliche Infrastruktur eingebunden werden. In all diesen Zusammenhän- gen wirkt also keine Gegnerschaft, sondern eine komplexe Abhängigkeit wird wirksam, die speziell von verantwortungsvollen, entscheidungstragen- den Personen verstanden werden muss. Doch nicht nur diese komplexe Wirkweise entscheidet über die Zukunft der digitalen Transformation. Gesellschaftliche Entwicklungen können unter de- mokratischen Rahmenbedingungen dann ihr volles Potenzial entfalten, wenn sie allgemeine Akzeptanz erfahren. Der digitale Fortschritt wird dann wesentlich und human erscheinen, wenn er merklich gesellschaftliche Ver- besserungen erwirkt. Eine wesentliche Fragestellung, der sich moderne Gesellschaften gegenwär- tig stellen sollten, lautet, wie sich der technologische Fortschritt für die öko- logische Trendumkehr nutzen lässt und wie in diesem Rahmen soziale Ver- Merksatz besserungen erwirkt werden können. Darin liegt die ethische Aufgabe, die Technologie nicht allein vollbringen kann, sondern die das Engagement von progressiven Bürgerinnen in Demokratien verlangt. Gegenwärtig zeigt sich, dass der technologische Fortschritt gesamtgesell- schaftlich mitunter eine soziale Schieflage verstärkt, ein breites Gefühl der Unsicherheit erzeugt und auf die erfolgreichen Aktivitäten einzelner, globa- ler Unternehmen verkürzt wird. Diese Versäumnisse sind jedoch nicht der Technologie selbst anzulasten. Sie symbolisieren stattdessen Veranlassun- gen, um wirksam und aktiv zu werden. Wie in einer anderen Lehrveranstal- tung bereits vermeint, hat Immanuel Kant bereits richtig erkannt, dass Un- zufriedenheit das notwendige Motiv dafür bildet, um Verbesserungen errei- chen zu wollen. Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Entwicklungen werden also Neuansätze bedacht werden müssen, wie sich die Steuereinnahmen diversi- fizieren lassen, um volkswirtschaftliche Realitäten besser abzubilden. Die Einnahmengrundlage muss sich diesbezüglich ändern bzw. ausweiten. Unter den Bedingungen, dass die manuelle Arbeitskraft durch technologische Pro- zesse zunehmend unter Druck gerät, wird dieser Effekt noch zunehmend verstärkt da manuelle Wertschöpfung in den europäischen Steuersystemen 63 Ethik im Regelfall höher besteuert wird als Profite auf eingesetztes Kapital. Die Grundzüge der Finanzierung der Sozialversicherungssysteme in Deutschland und Österreich gründen sogar auf einer Herangehensweise, die im 19. Jahr- hundert erdacht wurde. Diese Grundlagen werden sich durch die anstehen- den Umbrüche der Zukunft aller Voraussicht nach substanziell verändern müssen. Fragen der Redistribution, der Einheit aus bzw. Abhängigkeit von Einkommen und Arbeit, die Finanzierungsstruktur des verteidigenswerten und verdienstvollen Wohlfahrtsstaates, die Einführung eines bedingungslo- sen Grundeinkommens. Demokratien sind angehalten, diese Debatten offen unter neuen Zugängen und Erkenntnissen zu führen. Nicht nur dass diese Diskussionen anstehen, sie werden sich auch durch neue Rahmenbedingungen menschlicher Selbstwahrnehmung gestalten. Zum einen entsteht zusehends bei jüngeren Generationen das erfahrbare Bewusstsein, Bestandteil einer Biosphäre zu sein, deren Funktionstüchtig- keit durch menschliches Verhalten kritisch herausgefordert ist. Zum anderen stellt sich die Frage, wie sich ein aufgeklärter Begriff von Freiheit verteidigen lässt, wenn technologische Entwicklungen die Vorstellung von der Autono- mie des Menschen herausfordern. Mehr dazu liefert das nächste Kapitel. 64

Use Quizgecko on...
Browser
Browser