Neurotoxine: Definition, Wirkungsweise und Klassifizierung - PDF

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This document provides a detailed explanation of neurotoxins, their different types, and the effects they have on the human nervous system. Various examples of natural and man-made neurotoxins are included as well as various classifications.

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46 / 55 11387 Das Nervensystem des Menschen: Neurotoxine Filmtext – Seite 1/7 Neurotoxine Filmtext Neurotoxine – Definition und Wirkungsweise (Filmsequenz...

46 / 55 11387 Das Nervensystem des Menschen: Neurotoxine Filmtext – Seite 1/7 Neurotoxine Filmtext Neurotoxine – Definition und Wirkungsweise (Filmsequenz 3:20 min) Schon in geringer Dosis können sie großen Schaden anrichten: Nervengifte. Das sind Giftstoffe, die bei Tieren und Menschen vor allem Nervenzellen schädigen, ihre Funktion beeinträchtigen oder sogar abtöten. Sie werden auch Neurotoxine genannt. Diese giftigen – also toxischen – Substanzen können sowohl anorganisch als auch organisch sein. Nervengifte stammen aus der unbelebten Natur oder von Lebewesen. Sie können aber auch vom Menschen künstlich hergestellt werden. Fast alle Neurotoxine wirken von außen auf den Körper ein. Diese nennt man exogene Toxine. Es gibt aber auch Substanzen, die der Körper zwar selbst produziert, die aber eine giftige Wirkung haben – sogenannte endogene Toxine. Ein Beispiel ist der Neurotransmitter Glutamat. Wird im Nervensystem, etwa an den Synapsen, zu viel Glutamat freigesetzt, kommt es zur Schädigung oder zum Absterben von Nervenzellen. Die meisten Neurotoxine sind flüssig oder fest, einige wenige kommen als Gase vor. Nervengifte sind meist sehr komplexe chemische Verbindungen und greifen bestimmte Strukturen der Nervenzellen an. Man unterscheidet allgemeine Neurotoxine, die zum Beispiel besonders das Axon der Nervenzellen angreifen. Und spezielle Synapsengifte, die die Übertragung an den chemischen Synapsen zwischen zwei Neuronen oder Neuronen und Muskelzellen stören. Alle Nervengifte wirken also direkt an den Neuronen. Dadurch lösen sie im Körper von Tieren oder Menschen Vergiftungssymptome verschiedenster Erkrankungen aus. Neurotoxine lassen sich in verschiedene Klassen einteilen – Bakteriengifte, Tiergifte, Pflanzengifte, Schwermetalle und Nervenkampfstoffe. Alkoholische Getränke und einige Medikamente wirken sich bei übermäßigem Konsum ebenfalls negativ auf das Nervensystem aus. Ethanol zum Beispiel ist ein Zellgift und kann im Nervensystem Lähmungen, Schwindel oder Demenz verursachen. Die genaue Wirkungsweise vieler Neurotoxine ist noch nicht genau bekannt. An ihnen wird aber intensiv geforscht. Das Ziel ist es, sich die Wirkungsweise der verschiedenen Toxine zunutze zu machen. Damit können Medikamente und Schmerztherapien entwickelt werden, um eine bessere Behandlung bei Vergiftungen zu ermöglichen. Bakterientoxine (Filmsequenz 4:00 min) Ihre Toxine sind für höhere Lebewesen die giftigsten – Bakterien. Einige Bakterien können für Pandemien verantwortlich sein. Das Tetanustoxin zum Beispiel löst Wundstarrkrampf aus. Das Choleratoxin sorgt für eine schwere Erkrankung des Magen-Darm-Trakts. Cholera tritt auch heute noch vor allem in Regionen auf, die mit durch Cholerabakterien verunreinigtem Trinkwasser zu kämpfen haben. 46 / 55 11387 Das Nervensystem des Menschen: Neurotoxine Filmtext – Seite 2/7 Das Diphtherietoxin löst eine akute bakterielle Infektionskrankheit der oberen Atemwege aus, die Diphtherie. Gegen sie gibt es heutzutage eine schützende Impfung – in Europa gilt Diphterie als fast ausgerottet. Weitere Bakterientoxine sind Botulinustoxine. Das sind mehrere sehr ähnliche Neurotoxine, die von verschiedenen Stämmen des im Boden vorkommenden Bakteriums Clostridium botulinum abgesondert werden. Abgekürzt als „Botox“ kennt man es in der ästhetischen Chirurgie als Mittel gegen Falten. Aber eigentlich ist es ein schweres Synapsengift. In seltenen Fällen gelangen Botulinumbakterien bei der Konservierung von Lebensmitteln in Konservendosen oder Einweckgläser. Hier produzieren die Bakterien anaerob Botulinustoxine – die Lebensmittel verderben lassen. Isst man mit Botulinustoxin kontaminierte Speisen, führt das zu Symptomen wie bei einer Lebensmittelvergiftung. Botulinustoxine entfalten im Nervensystem des Menschen ihre Wirkung direkt an der motorischen Endplatte der chemischen Synapsen. Normalerweise verschmelzen hier die Vesikel mit dem darin enthaltenen Neurotransmitter Acetylcholin mit der präsynaptischen Membran. Das Acetylcholin wird in den synaptischen Spalt ausgeschüttet. Doch das Botulinustoxin spaltet die Proteine, die die Vesikel mit der Membran fusionieren lassen. So wird kein Acetylcholin in den synaptischen Spalt entlassen. Damit können die Rezeptoren an der postsynaptischen Membran nicht besetzt werden. In der Folge strömen keine Natriumionen in die Postsynapse ein und es wird kein Aktionspotential ausgelöst. Entsprechend werden keine Signale mehr übertragen und die direkte Erregungsweiterleitung auf die Muskulatur ist unterbrochen. Somit löst das Botulinustoxin nach dem Verzehr eine Muskellähmung aus. Meist sind zunächst Augen-, Lippen- und Kehlkopfmuskeln betroffen. Vom Kopf absteigend breiten sich die Lähmungen im Körper weiter aus, im schlimmsten Fall bis zur Muskulatur der inneren Organe. Und das kann zum Atemstillstand führen. Es gibt aber ein Gegenmittel: Das Botulismus-Antitoxin, das aus dem Immunserum von Pferden gewonnen wird. Es kann intravenös verabreicht werden. In den häufigsten Fällen erfolgt dies aber zu spät. Denn man kann eine solche Vergiftung nur schwer von einer Lebensmittelvergiftung abgrenzen. Entsprechend wird sie oft zu spät erkannt. Dann hat sich das Botulinustoxin meist schon zu stark im Blutkreislauf verteilt und eine Heilung ohne Folgeschäden ist nicht mehr möglich. Botulinustoxine können aber auch als Medikament eingesetzt werden, zum Beispiel bei der Behandlung von Krämpfen, Bewegungsstörungen und Spastiken. Tiergifte (Filmsequenz 6:10 min) Manche Tiere bilden in ihrem Organismus Neurotoxine, um sich zu verteidigen. Oder, um Beutetiere zu jagen und mit ihrem Gift zu töten. Tierische Nervengifte bestehen häufig aus unterschiedlichen, komplex gebauten Enzymen. Wie die Toxine der räuberischen Kegelschnecken der Gattung Conus. 46 / 55 11387 Das Nervensystem des Menschen: Neurotoxine Filmtext – Seite 3/7 Zum Beispiel Conus textile, die in Korallenriffen in den Tropen heimisch ist. Die zahlreichen Arten der Kegelschnecken besitzen spezifische Conotoxine. Sie bestehen aus mehreren hundert kurzen Aminosäureketten, sogenannten Oligopeptiden. Kegelschnecken lauern vergraben im Sand oder Schlamm am Meeresboden und locken mit ihrem Schlundrohr als Köder ihre Beute an – Würmer, Schnecken oder kleine Fische. Ist ein Opfer gefunden, feuert die Kegelschnecke aus einem Hohlzahn einen mit Widerhaken versehenen Pfeil auf den Fisch. Dieser Pfeil enthält einen Giftcocktail aus vier verschiedenen Conotoxinen, der die Beute wegen der toxischen Wirkung sofort lähmt. Delta- und Kappa-Conotoxin wirken als Nervengifte unmittelbar an der Einstichstelle. Sie verhindern eine Repolarisation, sodass an den Ranvier’schen Schnürringen eine Dauerdepolarisation ausgelöst wird. Alpha- und Omega-Conotoxin unterbrechen als Synapsengifte die Erregungsübertragung. In den Synapsen werden keine Neurotransmitter mehr in den synaptischen Spalt ausgeschüttet. Und die Acetylcholinrezeptoren an der postsynaptischen Membran werden blockiert. Die Toxine lassen die Muskeln der Beute verkrampfen und lähmen sie. Dies nutzt die Kegelschnecke aus. Sie verschluckt den nun wehrlosen Fisch, der eigentlich viel größer ist als sie selbst. Menschen greift die Kegelschnecke äußerst selten an – nur, wenn sie sich bedroht fühlt. Sollte ein Mensch von einem Giftpfeil mit Conotoxinen getroffen werden, kann es auch für ihn tödlich sein. Ein Antitoxin gibt es nicht. Ein weiteres hochwirksames Tiergift ist Tetrodotoxin, auch TTX genannt. Dieses Toxin – eines der stärksten weltweit bekannten natürlichen Nervengifte – kommt in den unterschiedlichsten Tiergruppen vor, insbesondere bei Vertretern der Familien der Igelfische und Kugelfische. Im Vergleich zur bereits hochgiftigen Blausäure ist TTX noch 1000mal giftiger. Nur etwa 0,5 Milligramm aufgenommenes Gift töten bereits einen Erwachsenen. Kugelfische gelten in Japan als teure Delikatesse und sind unter dem Namen „Fugu“ bekannt. Für die Verarbeitung dieser Spezialität braucht ein Koch eine besondere Ausbildung. Die Kunst besteht darin, die Giftdosis in einer Portion aus dem Muskelfleisch des Kugelfischs so zu dosieren, dass man nach dem Verzehr ein leicht berauschendes Gefühl hat, aber nicht mit zu viel Tetrodotoxin vergiftet wird. TTX blockiert die spannungsgesteuerten Natrium-Ionen-Kanäle. Dadurch können keine Aktionspotentiale mehr ausgelöst und weitergeleitet werden. Das behindert die Nerven- und Muskelerregung. Ein passendes Gegengift gibt es nicht. Wird aber sehr zeitnah Aktivkohle oral verabreicht, kann diese das TTX im Verdauungstrakt binden und hemmt die Ausbreitung des Toxins im Körper. Damit kann eine Lähmung der Atemmuskulatur bis hin zum Erstickungstod häufig verhindert werden. Genauso wie im Wasser gibt es auch an Land Gifttiere, zum Beispiel bei den Spinnentieren. Diese circa ein Zentimeter große Spinne kann sogar ein viel größeres Tier wie etwa eine Ratte töten. Es handelt sich um eine Schwarze Witwe, eine Spinnenart aus der Gattung der Echten Witwen. Die etwa vier Zentimeter große Webspinne mit ihren auffälligen roten Flecken lebt in trockenen Gebieten rund um das Mittelmeer sowie in Zentralasien. 46 / 55 11387 Das Nervensystem des Menschen: Neurotoxine Filmtext – Seite 4/7 Ihr Beutegift ist das sogenannte Alpha-Latrotoxin, ein großmolekulares Protein mit etwa 1400 Aminosäuren. Das Toxin öffnet die Calcium-Ionen-Kanäle an den präsynaptischen Endknöpfchen dauerhaft, obwohl keine Aktionspotentiale an der Präsynapse eingegangen sind. Entsprechend fließen nun ununterbrochen Calcium-Ionen in die Endknöpfchen. Und der Neurotransmitter Acetylcholin wird in den synaptischen Spalt ausgeschüttet. In der Folge steigt hier die Konzentration des Acetylcholins stark an. Viele Natrium-Ionen strömen an der Postsynapse ein. Dadurch entwickeln sich dort Aktionspotentiale. Es kommt zu einer ständigen Erregungsweiterleitung an die nachfolgenden Neuronen – und damit zu extremen Muskelkrämpfen und Lähmungen. Der Biss dieser Giftspinne ist für viele Tiere tödlich – für den Menschen normalerweise nicht. Erst einige Stunden nach dem Biss treten erste Symptome des Alpha-Latrotoxins auf und dauern unbehandelt mehrere Tage an. Einige Spinnenarten haben hochwirksame Toxine, die dem Menschen Schaden zufügen könnten. Allerdings können nur wenige Spinnen mit ihrem Biss die Haut des Menschen durchdringen. Somit gelangt selten Gift in die Blutbahn. Auch andere Tiere tragen tödliches Gift in sich: zum Beispiel einige Schlangenarten der Vipern oder Kobras. Und auch Skorpione führen zu vielen Vergiftungsfällen. Pflanzengifte (Filmsequenz 3:20 min) In der Natur kommen neben Tiergiften auch zahlreiche Pflanzengifte vor. Unterschiedliche Gewächse versuchen mit ihren Toxinen zu verhindern, gefressen zu werden. Pflanzen besitzen als giftige Inhaltsstoffe meistens sogenannte Alkaloide. Zu diesen gehören auch die beiden bekanntesten Neurotoxine: Atropin und Curare. Auch Morphin als Schmerzmittel oder Nicotin in Tabak zählen zu den Alkaloiden und haben Auswirkungen auf die Steuerung des Nervensystems beim Menschen. Atropin findet sich bei einigen Arten der Nachtschattengewächse. Das bekannteste Atropin stammt aus der Schwarzen Tollkirsche Atropa belladonna. Für einen erwachsenen Menschen sind etwa 100 Milligramm Atropin tödlich, das entspricht etwa zehn Tollkirschen. Bei einem Kind können bereits drei dieser Beerenfrüchte tödlich sein. Atropin ist ein Synapsengift, das in chemischen Synapsen mit dem Neurotransmitter Acetylcholin konkurriert. Die einlaufenden Aktionspotentiale an der präsynaptischen Membran führen zu einer Ausschüttung von Acetylcholin in den synaptischen Spalt. An der postsynaptischen Membran wurden dessen Rezeptoren aber schon von Atropin besetzt. So können die Natrium-Ionen-Kanäle nicht geöffnet werden. Nachfolgende Neuronen erhalten keine Signale mehr. Die Erregungsweiterleitung von den Neuronen zu den Muskelzellen wird abgebrochen. Das Toxin wirkt sehr schnell. Zunächst erregend in Form von Herzrasen, dann lähmend mit Halluzinationen und Atemproblemen. Grundsätzlich muss ein Mensch nicht an einer Vergiftung durch Pflanzen sterben, denn die Wirkung dieser Toxine ist zeitlich begrenzt. 46 / 55 11387 Das Nervensystem des Menschen: Neurotoxine Filmtext – Seite 5/7 Um aber einem Atemstillstand vorzubeugen, muss das Opfer künstlich beatmet und das Gegengift Physostigmin verabreicht werden. Dieses hilft, den Abbau von Acetylcholin durch die Acetylcholinesterase zu verlangsamen und so das Acetylcholin länger in der Synapse zu halten. Damit wird das ZNS gestärkt und etwa ein Zusammenfallen der Lunge verhindert. Mit der Zeit klingen die Lähmungen ab und es bleiben keine Schäden im Körper zurück. Atropin wird in schwacher Dosierung auch in der Medizin eingesetzt: Zum Beispiel als Augentropfen, um für Untersuchungen die Pupille zu erweitern. Weitere Pflanzengifte sind Neurotoxine, die unter der Sammelbezeichnung Curare bekannt sind. Dies sind verschiedene alkaloide Gifte. Curare wird aus der Rinde von Brechnussarten und Mondsamengewächsen gewonnen. Diese Gewächse gehören größtenteils zu den Schlingpflanzen, sogenannten Lianen, die im tropischen Regenwald wachsen. Indigene Völker, die in Brasilien im Amazonastiefland leben, beschichten ihre Pfeile damit, um Tiere zu jagen. Deswegen ist Curare auch als Pfeilgift bekannt. Es wirkt wie Atropin. Auch die Therapie ist identisch. Schwermetalle (Filmsequenz 1:50 min) Schwermetalle kommen auf der Erde natürlicherweise vor, aber meist in nur kleinen Spuren. Sie haben eine hohe Dichte von über sieben Gramm pro Kubikzentimeter. Zum Beispiel Blei, Quecksilber, Kupfer, Zink, Chrom oder Nickel. Einige von ihnen sind für Pflanzen, Tiere und den Menschen als Spurenelemente überlebenswichtig. Wenn man davon aber nur winzige Mengen zu viel zu sich nimmt, kann das für den Organismus toxisch sein. Mit Schwermetallen kommt der Mensch zum Beispiel bei der Arbeit mit ihnen in Kontakt. Oder beim Verzehr von Meeresfischen. Manchmal atmet man sie auch ein. Auch über die Haut können Schwermetalle, etwa über Haarfärbemittel, in den Körper gelangen. Quecksilber wird in Amalgam-Zahnfüllungen verwendet. Hier ist es aber so gering dosiert, dass es nicht zu Vergiftungen führt. Früher wurden in Häusern Wasserleitungen aus Blei verbaut. Das Trinkwasser war mit Blei angereichert. Das führte bisweilen zu schweren Bleivergiftungen. In den USA nahmen Menschen noch bis vor wenigen Jahren über das Trinkwasser Blei auf und erkrankten schwer. Schwermetallvergiftungen äußern sich nicht spontan. Meist reichern sich Schwermetalle über einen längeren Zeitraum in den inneren Organen wie Leber und Nieren an und verursachen Organschäden. Mithilfe von organischen Verbindungen, sogenannten Chelatoren, können die toxischen Schwermetallionen gebunden werden. Damit werden sie chemisch inaktiv und können über die Nieren ausgeschieden werden. So haben sie keine giftige Wirkung mehr auf den menschlichen Körper. Nervenkampfstoffe (Filmsequenz 4:50 min) Zu den Nervengiften gehören Nervenkampfstoffe. Sie sind eine Klasse von chemischen Waffen. Man unterscheidet verschiedene Reihen – die G-Reihe, die V-Reihe und die Nowitschok-Reihe. 46 / 55 11387 Das Nervensystem des Menschen: Neurotoxine Filmtext – Seite 6/7 Nervengifte der G-Reihe wurden während des Zweiten Weltkriegs von 1939 bis 1945 in Deutschland entwickelt. Die bekanntesten Vertreter sind Tabun, Soman und Sarin. Die V-Reihe entstand 1954 in Großbritannien auf Basis der G-Reihe. Ihre Stoffe sind jedoch stabiler und etwa zehnmal so giftig. Eigentlich waren sie als Pflanzenschutzmittel gedacht. Da ihr Einsatz hierfür jedoch deutlich zu gefährlich war, nutzten es Großbritannien und die USA illegal bei militärischen Aktionen. Zur V-Reihe zählen die Stoffe VG, VP sowie der am besten erforschte Stoff VX. Zur Nowitschok-Reihe gehören neuere Nervenkampfstoffe, die zwischen 1970 und 1990 in der Sowjetunion entwickelt wurden. Sie zählen zu den tödlichsten der Welt. Im Vergleich zum Stoff VX aus der V-Reihe gilt Nowitschok um etwa fünf- bis achtmal stärker. Insgesamt gibt es über 100 Varianten in dieser Reihe. Die meist flüssigen und manchmal gasförmigen Nervenkampfstoffe können über die Haut oder die Atmung in den menschlichen Körper eindringen. Nervenkampfstoffe sind meistens organische Phosphorverbindungen und gehören zur Gruppe der Acetylcholinesterasehemmer. Dieses Enzym baut normalerweise den Neurotransmitter Acetylcholin an der postsynaptischen Membran in der Synapse ab. Durch den Einfluss der Nervenkampfstoffe geschieht dies jedoch nicht mehr. So häufen sich im synaptischen Spalt große Mengen Acetylcholin an. Das führt zu einer erhöhten Aktivität des Nervensystems. Die Vergiftungssymptome äußern sich in Übelkeit, Erbrechen und krampfartigen Anfällen. Insbesondere die Atmung mit dem Zwerchfell wird gelähmt. Es kommt zu Muskelkrämpfen und Kontraktionen, die zum Tod führen können. Als Gegenmittel können die Wirkstoffe Atropin oder Lorazepam verabreicht werden. 1997 haben sich fast alle Staaten der Erde der Chemiewaffenkonvention angeschlossen, laut der die Entwicklung, Herstellung, Lagerung, der Einsatz und die Vernichtung solcher chemischer Waffen verboten ist. Daher kann ein Mensch nur unter besonderen Umständen in Kontakt mit einem Nervenkampfstoff kommen. Weltweit haben nur Nordkorea, Ägypten und der Südsudan das Abkommen nicht unterzeichnet. Als eines der letzten Länder trat im September 2013 Syrien der Konvention bei. Dieser Staat hielt sich jedoch nicht an die Regeln: Inzwischen gilt es laut der Organisation für das Verbot chemischer Waffen OPCW als sicher, dass zwischen 2013 und 2017 während des Bürgerkriegs in Syrien der gasförmige Nervenkampfstoff Sarin aus der G-Reihe bei Militärangriffen auf einige Städte eingesetzt wurde. Viele Zivilisten wurden getötet oder schwer verletzt. Im März 2018 wurde mithilfe eines Stoffs aus der Nowitschok-Reihe ein Anschlag auf einen ehemaligen russisch-britischen Doppelagenten verübt. Bei den Nachforschungen über die Herkunft dieses Neurotoxins führt die Spur nach Russland. Dort und in einigen anderen Staaten werden trotz der Chemiewaffenkonvention Anlagen für die Produktion und die Lagerung von Nervengiften vermutet. Im Falle militärischer Auseinandersetzungen besteht die Möglichkeit, dass Nervenkampfstoffe als politisches Druckmittel eingesetzt werden können. 46 / 55 11387 Das Nervensystem des Menschen: Neurotoxine Filmtext – Seite 7/7 Nutzen für die Medizinforschung (Filmsequenz 1:10 min) In der Natur erfüllen Neurotoxine – unabhängig, ob sie von Bakterien, Tieren oder aus Pflanzen stammen – meist eine Funktion als Jagdgift oder Fraßschutz. Dabei können sie mit ganz unterschiedlichen Wirkstoffen und Wirkmechanismen die Neuronen empfindlich aus dem Gleichgewicht bringen. In den meisten Fällen wird die Erregungsweiterleitung auf Muskeln und Nervenbahnen an der Synapse angegriffen und geschädigt. Daher kann eine Vergiftung mit einigen Neurotoxinen tödlich sein. In den Neurowissenschaften sind die Gifte von Tieren, Pflanzen oder Bakterien wertvolle Hilfsmittel, um die Eigenschaften der Neuronen und zum Beispiel deren Ionenkanäle zu erforschen. Das hilft uns, Prozesse im Körper besser zu verstehen. So können Medikamente, zum Beispiel gegen Krebs oder zur Linderung von Schmerzen entwickelt werden. Damit kann in Zukunft auch jeder Mensch indirekt von den Neurotoxinen profitieren …

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