Summary

This document discusses business ethics, particularly focusing on the disruptive business model of Uber. It dissects the company's tactics and their potential ethical implications, contrasting them with traditional business practices. The paper also analyzes broader societal effects of platform companies and the ongoing technological revolution.

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Ethik vernachlässigenswert, als Regulatoren und öffentlichen Autoritäten eine ge- ballte und erprobte Verteidigung entgegengehalten wird. Neben diesem wirkmächtigen Vorgehen vervollständigt sich die Vorgehens- weise um eine zweite Erfahrung: Kunden selbst beginnen die Dienste wert- zuschätzen. Die...

Ethik vernachlässigenswert, als Regulatoren und öffentlichen Autoritäten eine ge- ballte und erprobte Verteidigung entgegengehalten wird. Neben diesem wirkmächtigen Vorgehen vervollständigt sich die Vorgehens- weise um eine zweite Erfahrung: Kunden selbst beginnen die Dienste wert- zuschätzen. Die illegale oder dubiose Geschäftspraxis erfährt Popularität, weil eine wachsende Anzahl an Personen, die Services zu nutzen beginnen. Jene Behörden, die also die Achtung von Gesetzen einfordern, sehen sich plötzlich nicht nur einem erfolgreichen Konzern gegenüber, sondern sie er- leben auch Widerspruch seitens einer partikularen Öffentlichkeit, die sich mittlerweile an die angebotenen Dienstleistungen gewöhnt hat und in Zu- kunft nicht mehr darauf verzichten möchte. Aus dieser Position der populä- ren Stärke agiert das Unternehmen dann gegen öffentliche Regulatoren, diese wiederum werden dafür angegriffen, dass sie bestehendem Recht Gel- tung verschaffen. Disruption meint im Falle von Uber, ein Geschäftsmodell zu initiieren, das faktisch bewusst gegen Gesetze verstößt und diesen praktizierten Unterneh- mensgeist als disruptive Avantgarde sowohl in der internen wie externen Kommunikation darstellt. Je größer der erzielte Erfolg, als umso unwahr- scheinlicher wird es in strategischer Folge erachtet, dass die Regulatoren nicht darauf hinwirken könnten, ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen und die Geschäftstätigkeiten einschränken oder gar einstellen würden. Disruption wird häufig als Synonym für kreatives, gewagtes, innovatives, vielversprechendes Unternehmertum verstanden. Der Fall Uber zeigt, wie verwegen die faktischen Hintergründe jedoch auch sein können. Wenn das Merksatz Prinzip von Disruption zur Ideologie verkommt, die nicht mehr hinterfragt wird, lassen sich selbst zweifelhafte und illegale Maßnahmen legitimieren und die Effektivität vernünftiger Regulierungen unterminieren. Uber ist in diesem Fall Symbol für ein ideelles Phänomen. Vor diesem Verständnishintergrund lassen sich vermutlich bereits die nächs- ten Schritte antizipieren, die das Unternehmen perspektivisch setzen wird. Uber ist weitestgehend ein defizitäres Unternehmen. Im Jahr 2016 wurde ein Bilanzverlust von drei Milliarden Dollar ausgewiesen. Nur in einigen we- nigen Städten konnte ein operativer Profit erwirtschaftet werden. Markt- analysten sagen, dass die Geschäftstätigkeit von Uber nur dann Gewinn er- zielen könnte, wenn sich die technologische Entwicklung des autonomen Fahrens in naher Zukunft realisieren ließe. Nur durch eine veränderte Kos- tenstruktur, die mittels Einsatzes dieser Technologie wirksam werden würde, ließe sich Profitabilität bei Uber erwirken und der Fahrpreis um 80 % 82 Ethik senken. 35 Weil es die Nutzung dieser Technologie benötigt, um eine profi- table Existenz des Unternehmens zu sichern, lässt sich unter Kenntnisnahme vergangener Verhaltensweisen vermuten, dass der Konzern illegale Praxis auch dann einsetzen wird, wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen für das autonome Fahren noch vage oder ungenügend erscheinen. Auch im Hinblick auf einen anderen Trend wird Uber als disruptive Macht erachtet: Es handelt sich dabei um die Transformation der Arbeitswelt, noch bevor die absehbaren Konsequenzen des autonomen Fahrens schlagend werden. Der praktizierte Ansatz besagt, dass jede Person faktisch ungebun- den ins Mobilitätsgeschäft einsteigen kann und sei es auch nur, um Fahrten anderen anzubieten, die sowieso absolviert werden müssen. Diese Form der Flexibilität soll es sowohl Anbieterinnen als aus Nutzerinnen von Diensten flexibel erlauben, vorhandene Ressourcen effektiv zu teilen – im Falle von Uber wären das nun die Zeitressource, ein Vehikel, Geld oder Wege, die zu bewältigen wären. Bei Airbnb, das den Nächtigungsmarkt umkrempelt und eine ähnliche disruptive Strategie in Europa wie Uber verfolgt, wären es dann Wohnraum, Geld und Übernachtungsmöglichkeit. Beide Unternehmen, wie unzählige andere auch, betrachten sich als reine Plattformen. Ihrem Argument nach agieren sie als schlichte Vermittler von Dienstleistungen. Das geschieht deshalb, weil sie sonst, wenn sie wie andere Branchenreisen erschienen, anderen Branchenregulierungen Folge leisten müssten und in den USA andere Steuertarife wirksam wären. Entscheidend wirkt es, den Erfolg dieser Plattformen auch vor dem Hinter- grund sozialer Entwicklungen zu sehen. Bereits in Kapitel 4 dieser Lehrver- anstaltung wurde dargestellt, wie im Verlauf des letzten Jahrzehnts der so- ziale Ausgleich abgenommen hat, Lohneinkommen gegenüber Kapitalerträ- gen markant zurückgehen. Diese gesellschaftliche Disparität verstärkte zwei- fellos die erwiesenen Erfolgspotenziale der Plattformen: Airbnb bietet als willkommener Service viele Vorteile. Es flexibilisiert Reisen und modernes Wohnen, setzt gerade der zyklischen Preisentwicklung im Hotelsektor bei beliebten Destinationen eine wirksame Kraft im Interesse der Touristen ent- gegen. Doch sollte diese Perspektive nicht übersehen, dass für viele Airbnb schlicht eine notwendige Lösung dafür darstellt, mit stagnierenden Löhnen und steigenden Mietpreisen in Ballungszentren umzugehen. Wenn ein Zim- mer nicht aus freien Stücken vermietet wird, sondern deshalb, weil sonst die Kosten für die eigene Wohnung nicht mehr bestritten werden können, dann zeigt sich ein ganz anderes Bild: Soziale Schieflagen und verschobene politi- sche Machtverhältnisse würden nicht mehr als gesellschaftliche Unzuläng- lichkeiten erkannt, die offen diskutiert werden sollten, sondern schlicht als 35 Coren, 2018 83 Ethik eine unternehmerische Chance genutzt, der disruptiv entgegengewirkt wer- den muss. Darin besteht die Kommerzialisierung aller gesellschaftlichen Her- ausforderungen in Form einer Business-Opportunity und die Entpolitisierung sozialer Schieflagen. Der Erfolg von Plattformen zeigt sich beispielsweise in den USA gerade darin, „angesichts stagnierender Einkommen und einer Beschrän- kung der Konsumentenkredite nach erschwinglichen Mög- lichkeiten zu suchen. Die Reallöhne der amerikanischen Ar- beiter sind seit 1979 niedrig. Ein beträchtlicher Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads, die Auslage- rung der Produktion im Rahmen der Globalisierung und die Verringerung des Anteils der Arbeitseinkommen sind Fak- toren, die zu dieser Stagnation beigetragen haben. [Weiters, Anm.] […] gibt es ein auf Abruf verfügbares Ar- beitskräftepotential. In Amerika sind 37 Prozent der arbei- tenden Bevölkerung, also 92 Millionen Menschen, ohne dauerhafte Beschäftigung und scheinen die Suche nach Vollzeitjobs aufgegeben zu haben. Daneben gibt es viele andere, die von einem einzigen Job nicht leben können.“ 36 Die vermeintliche Flexibilität, die Plattformen bieten – oft auch Plattform- Ökonomie genannt - werden vor diesem Erklärungshintergrund zu einer Ökonomisierung des Umgangs mit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Sharing Economy hätte zweifellos das Potenzial, unsere Gesellschaften nach- haltiger, ressourceneffizienter, egalitärer, flexibler, wohlhabender zu ma- chen. Die Idee würde auch mit der gelebten Einstellung von Personengrup- pen oder Generationen korrespondieren, die es für ein einleuchtendes Kon- zept halten, dass Gegenstände nicht unbedingt als Besitz benötigt werden, nur um sie zu brauchen. Doch markiert es einen bedeutsamen Unterschied, ob diese Entscheidung aus überlegten und freiwilligen Motiven heraus ge- schieht oder ob sie ein Anzeichen wachsender Bedrängnis ist. Vermietet jemand sein Gästezimmer, um mit Leuten aus aller Welt in Kon- takt zu kommen, einladend in der eigenen Stadt zu wirken, ein flexibles Zu- satzeinkommen nach Wunsch zu generieren, dann stellt sich die Situation radikal anders da, als wenn jemand den Schlafplatz deshalb regelmäßig an- bietet, weil sonst die eigenen Wohnkosten nicht mehr bestritten werden können. Die eine Entscheidung bildet eine Wahl in Freiheit, die andere wäre 36 Zuboff, 2015 84 Ethik Ausdruck einer objektiven Notwendigkeit und damit Gängelung der Unfrei- heit. Der weißrussische Publizist Evgeny Morozov definiert den Wesenszug, jede gesellschaftliche Schieflage vor allem als ein potenzielles Anwendungsfeld wirksamer Technologie zu erachten, als Solutionismus. Solutionismus meint dabei die ideologische Auffassung, dass allen existie- renden Problemen eine klar definierbare und eindeutige technologische Lö- sung zugedacht werden kann 37. Merksatz Dieser Ansatz verkennt, dass manche gesellschaftlichen Mechanismen schlicht vermeintliche und merkliche Ineffizienzen begründen. Nicht alle Phänomene, die schwerfällig wirken, können sinnvoll beschleunigt werden. Die Verfahrensweisen demokratischer Institutionen sind beispielsweise be- wusst auf Ausgleich und damit Verzögerung angelegt. Um es übertrieben, aber eindrücklich zu formulieren: Wenn Schnelligkeit also zum einzigen Ge- bot wird, dann macht die zweite und dritte Lesung eines Gesetzes in parla- mentarischen Kammern keinen Sinn. Insofern erscheint es wichtig, anzuer- kennen, warum manche Verfahren schlicht ihre eigene Logik durchlaufen und manche Ineffizienz durchaus ihre Berechtigung hätte und Bedeutung er- fährt. Das soll nun nicht dahin führen, dass alle existierenden Prozesse sich damit immunisieren lassen, dass sie bereits gelebte Praxis und somit erzielbares Optimum darstellen. Aber das andere Extrem liegt in dem technophilen An- satz des Solutionismus, dass sich alles radikal aufgrund von Technologie er- neuern muss, weil beispielsweise jede Prozessverzögerung ausgemerzt ge- hört. Warum Berufungsgerichte, wenn anhand einer Software bereits im ersten Verfahren, ein Urteil gefunden werden kann? Diese Art zu denken wäre fatal, ideologisch vernebelt und würde einen radikalen Rückbau ziviler Grundlagen unserer Gesellschaft bewirken. Wie gesagt, demokratische Ver- fahren benötigen ihre Reflexionszeit und wo Menschen gestalterisch wirken, da werden ihre Eigenarten erkenntlich. Das gilt es zu berücksichtigen. 37 Vgl. Morozov, 2013, S. 605 ff. 85 Ethik 7 Fazit Ethik und Technologie stellt die Gesellschaft vor neue zentrale Überlegun- gen, die im Geiste gesellschaftlichen Denkens und Fortschritts bedacht wer- den müssen. Es stellt sich die Frage nach einem neuen Ausgleich zwischen öffentlichen Akteuren und unternehmerischem Handeln, geleitet von der Frage, wie eine wirksame Arbeitsteilung zwischen diesen Kräften beschaffen sein kann. Der klassische Begriff von Informationsethik selbst würde anfänglich darauf zielen, konkrete Festlegungen zu treffen, wie Daten sicher übertragen, ge- speichert und genutzt werden können. Diese Frage stellt sich gerade im Rah- men des Ausbaus des Internets der Dinge wesentlich. Die Anzahl an Daten, die durch Kommunikation zwischen Maschinen und der Anwendungen von Sensoren erhoben wird, erreicht ein davor unbekanntes Ausmaß. Informati- onsethik würde also vor allem darauf fokussieren, legale Sicherheitsstan- dards für diesen Sachverhalt zu erwirken. Die Datenschutzgrundverordnung, die von der Europäischen Union lanciert wurde, bildet diesbezüglich bereits einen globalen Standard. Informationsethik gemäß eines weiteren Begriffsverständnisses reicht über diese Perspektive hinaus. Es ist wie der Unterschied zwischen Digitalisierung und digitaler Transformation selbst. Digitalisierung meint den schlichten Prozess, Informationen in Form von Da- ten abzulegen, sie in Form von Bits und Bytes zu speichern, verfügbar und zugänglich zu halten. Merksatz Digitale Transformation hingegen bezeichnet die gesellschaftlichen und un- ternehmerischen Wandlungsprozesse, die sich auf Grundlage dieses techno- logischen Fortschritts materialisieren. Informationsethik in dieser Lehrveranstaltung nimmt genau diese Phäno- mene in Betracht. Die digitale Transformation verlangt von demokratischen Gesellschaften sich selbst zu befragen, wie von den technologischen Mög- lichkeiten abseits ideologischer Rhetorik nützlich Gebrauch gemacht werden kann. Es stellt sich die wesentliche Frage, welche Entscheidungen privaten Akteuren überlassen werden und wann gesellschaftliche Rahmenbedingun- gen festzulegen sind, die einen gemeinsamen Standard definieren. Gerade für Europa zeigt sich, dass entsprechende allgemein verbindliche Prinzipien entscheidend wären. Oft wird die technologische Zukunft als eine Konfrontation der wiederaufstrebenden Supermacht China und der ver- meintlich absteigenden Supermacht USA gelesen. Während amerikanische Technologiekonzerne den europäischen Binnenmarkt in einer Form bespie- len, dass die europäische Konkurrenz kaum zum Zuge kommt, agiert das 86 Ethik zentralistische China in Form von Privat-Public Partnerschaften, um die ei- gene digitale Transformation voranzubringen. Die chinesische Vorgehens- weise zielt darauf, möglichst viele Daten über gesellschaftliche Vorgänge zu aggregieren, um a) die Vormachtstellung der kommunistischen Staatspartei abzusichern, b) durch das bessere Verständnis von Kundenwünschen die entstehende Mittelklasse mittels eigener Unternehmen zu bedienen und c) über exorbitante Datenmengen zu verfügen, um die beste Künstliche Intelli- genz zu entwickeln – alles in der Absicht, bei dieser industriellen Revolution Vorreiter zu sein und nicht wie bei der I. Industriellen Revolution von ande- ren Mächten überholt zu werden und zwei Jahrhunderte lang in den Rück- stand zu geraten. Diese strategische Überlegung führt die Entscheidungen. Wo also könnte sich Europas Perspektive finden? Das entscheidende Expe- riment für Europa mag darin liegen, die Vorteile der technologischen Revo- lution eigenständig so anzuwenden, dass sie mit den Grundprinzipien demo- kratischer Gesellschaften einen lebenswerten Ausgleich findet. Diese Auf- gabe und der Imperativ, dass Technologie dann Sinn ergibt, wenn sie vor al- lem dabei unterstützt, den ökologischen Kollaps abzuwenden, mögen Leit- planken des eigenen Entwicklungshorizonts sein. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt: Die Nutzung von Technologie reflek- tiert immer die politische Ökonomie bestehender Verhältnisse. Sie wird durch manifeste Interessen strukturiert. Wenn heute grundsätzliche Funkti- onen des Internets, seien es die Suche nach Informationen oder die Vernet- zung von Personen vor allem privatisiert, monopolisiert und ökonomisiert wurden, stellt sich die Frage, ob das weiter so gehandhabt werden soll oder ob es sich um einen so notwendigen Service handelt, dass er öffentlich und nicht kommerziell organisiert werden sollte. In diesem Zuge wird der oligo- polistische Zugang, den die dominanten US-Konzerne zeigen anders sein als der zentralistische Instanzenzug in China. Europa wird auf Basis eines eige- nen Selbstbewusstseins womöglich eigenständig herausfinden müssen, wel- chen Anforderungen Technologie zu entsprechen hat. Diese resultierenden Lösungen können nicht nur Interesse am Weltmarkt wecken, sondern auch den Fortschritt in ein besseres Zeitalter weisen. Das darf nicht im Geiste ei- nes solipsistischen Übermuts geschehen, der meint, Europa wäre weiterhin das eigentliche Zentrum der Welt. Weit gefehlt. Vielmehr geht es darum, sich eine mutige Rolle zuzumessen, in unternehmerische Vielfalt zu ver- trauen, öffentliche Akteure mit Selbstbewusstsein auszustatten, um der di- gitalen Weltgemeinschaft einen interessanten Selbstversuch zu präsentie- ren. Denn eines gilt es auch schonungslos anzuerkennen: Momentan machen wir von den vorhandenen Möglichkeiten nicht nur zu wenig, sondern vor allem zu unreflektiert Gebrauch. Technologischer Fortschritt führt zur sozialen 87 Ethik Ausdifferenzierung, soziale Netzwerke begründen politische Radikalisie- rung, Mobilität belastet das Ökosystem, Software unterstützt manchmal den menschlichen Geist weniger, als dass sie verlangt, gegen ihn erfolglos zu kon- kurrieren. Außerdem fordern uns zwei grundlegende und abweichende Erzählungen darüber heraus, was die anstehenden Veränderungen bedeuten. Das eine Narrativ, dass die Gegenwart von sich selbst in Bezug auf die digitale Trans- formation erzählt, besagt, dass die Gesellschaft am Beginn eines exzeptio- nellen Zeitalters stehe. Die ubiquitäre Verfügbarkeit von Information und Wissen wäre in der Geschichte menschlicher Zivilisation ohne Vorbild und kenne keine ähnlich gelagerte Erfahrung. Die Überzeugung, ohne Vorbild zu agieren, verursacht den Eindruck, nicht nur einen Bruchpunkt in der ge- schichtlichen Entwicklung menschlicher Gesellschaften zu markieren, son- dern aus der bisherigen Geschichte selbst auszutreten. Was meint diese Hypothese? Als technologische Zivilisation betrachten wir uns weniger als Teil eines historischen Prozesses, sondern als eine Art Neu- start und Neubeginn. Als ökonomisches Erklärungsmuster mag diese Auffas- sung Berechtigung haben, auch wenn sich hier immanente und beschleu- nigte Kontinuitäten ausmachen. Als historische Entwicklungsgeschichte hin- gegen erscheint die Auffassung irreführend. Bezeichnenderweise lässt sich anhand der Argumentationslinien von zwei renommierten Historikern ein zweiter Erklärungshorizont ausmachen. Der Ansatz besagt, dass sich auch die heutigen Transformationen sowohl durch historische Vergleiche kanonisieren ließen, als auch durch die Permanenz klassischer Realpolitik ein Erklärungsmuster findet. Timothy Snyder, ein in Yale lehrender Historiker, erklärt, wie die Ausbreitung des Internets und die Entwicklung von Demokratien zusammenhängen. Aus- gehend vom Jahr 2018 stellt er rückblickend fest, dass in den zwölf Jahren davor der Anteil der Weltbevölkerung, der regelmäßig im Internet surft, von knapp 20 % auf rund 60 % angestiegen sei. Im selben Zeitraum lässt sich ge- mäß der Analyse von Freedom House, eine renommierte und unabhängige NGO, ein globaler Rückzug demokratischer Standards und der verstärkte Aufstieg des Autoritarismus beobachten. Die einzige Region, die diesbezüg- lich eine Ausnahme darstellen würde, wäre der afrikanische Kontinent. Inte- ressanterweise jener Erdteil, wo der Zugang zum Internet noch am wenigs- ten ausgebaut ist. Hier lässt sich zumindest eine Korrelation feststellen, wenn nicht sogar eine Kausalität ausmachen. Der Historiker führt diese ein- schneidende Entwicklung unter anderem darauf zurück, dass Austausch im Internet unter anderem den faktenbasierten Diskurs zerstören würde, der demokratisches Agieren ermöglicht. Fakten und die Relevanz von Fakten 88 Ethik wären aber auch die Voraussetzung dafür, machthabende Institutionen für ihr Handeln verantwortlich zu halten. Nur wenn Fakten Bedeutung haben, lassen sich Mächtige zur Verantwortung ziehen. Form und Handhabung des Internets wirken diesem faktenbasierten Diskurs aus zwei Gründen entge- gen: Internetbasierte Kommunikation fördert Ablenkung. Wenn beispiels- weise der eigene Newsfeed auf den sozialen Plattformen betrachtet wird, dann zeigt sich, dass dort entscheidende Nachrichten gleichgereiht mit Tri- vialität und schlichten Falschbehauptungen rangieren. Das führt zur Ablen- kung, verunmöglicht Konzentration und begründet die Verkennung der Be- deutung von wahren Sachverhalten. Die demokratische Urteilskraft kriti- scher Bürger schwindet. Der andere entscheidende Grund liegt seiner Auf- fassung nach in der bereits beschriebenen Stärkung der eigenen Vorurteile durch die Darstellung bevorzugter Suchresultate und Inhalte entsprechend eigener Vorlieben. Das Internet wird also nicht mehr zum geteilten Gemein- schaftsraum, sondern zersplittert in individualisierte Erfahrungswelten auf- grund von algorithmischer Segregation. Diese Faktoren erschweren die de- mokratische Auseinandersetzung und stützen eher autoritäre Strömungen, die gerade auch bei freien Wahlen vor allem soziale Medien mit entspre- chenden Botschaften geschickt zu bespielen verstehen. Sie profitieren von der Polarisierung. Was also heute den Internet-Diskurs bestimmt, wäre eine politische Auseinandersetzung, die dem zivilen Austausch besserer Argu- mente entgegensteht. 38 Die Grafik unten visualisiert die entsprechenden Ergebnisse einer Studie, die dokumentiert, wie oft und von wem Tweets mit moralischen Aussagen zu Themen wie dem Klimawandel, Schusswaffenkontrolle und gleichge- schlechtlicher Ehe in den USA geteilt werden. 563.312 Tweets von amerika- nischen Twitter-Nutzern wurden dabei ausgewertet. Die roten Punkte sind einer konservativen Einstellung zuzuordnen, die blauen einer liberalen. Es zeigt sich, dass nur die wenigsten Botschaften übergreifend geteilt werden, vielmehr finden die Messages innerhalb der klar teilbaren, fast hermeti- schen Präferenzgruppen Verbreitung, eine ausgleichende Mitte erodiert. 39 38 Vgl. Snyder, 2018, S. 111 ff. 39 Vgl. Goldhill, 2017 89

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