Psychoanalyse und Film: Methodische Zugänge zur latenten Bedeutung PDF

Summary

This book provides an introduction to psychoanalytic methods and their application to film. The author presents various approaches, methods, and examples for interpreting films through a psychoanalytic lens. It offers a framework for film analysis. The book also covers methodological issues and solutions in film psychoanalysis.

Full Transcript

Timo Storck Psychoanalyse und Film Methodische Zugänge zur latenten Bedeutung essentials Essentials liefern aktuelles Wissen in konzentrierter Form. Die Essenz dessen, worauf es als „State-of-the-Art“ in der gegenwärtigen Fachdiskussion oder in der Praxis ankommt. Essentials informieren schnell,...

Timo Storck Psychoanalyse und Film Methodische Zugänge zur latenten Bedeutung essentials Essentials liefern aktuelles Wissen in konzentrierter Form. Die Essenz dessen, worauf es als „State-of-the-Art“ in der gegenwärtigen Fachdiskussion oder in der Praxis ankommt. Essentials informieren schnell, unkompliziert und verständlich als Einführung in ein aktuelles Thema aus Ihrem Fachgebiet als Einstieg in ein für Sie noch unbekanntes Themenfeld als Einblick, um zum Thema mitreden zu können Die Bücher in elektronischer und gedruckter Form bringen das Fachwis- sen von Springerautor*innen kompakt zur Darstellung. Sie sind besonders für die Nutzung als eBook auf Tablet-PCs, eBook-Readern und Smartphones geeignet. Essentials sind Wissensbausteine aus den Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften, aus Technik und Naturwissenschaften sowie aus Medi- zin, Psychologie und Gesundheitsberufen. Von renommierten Autor*innen aller Springer-Verlagsmarken. Timo Storck Psychoanalyse und Film Methodische Zugänge zur latenten Bedeutung Timo Storck Psychologische Hochschule Berlin Berlin, Deutschland ISSN 2197-6708 ISSN 2197-6716 (electronic) essentials ISBN 978-3-662-68612-6 ISBN 978-3-662-68613-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-68613-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio- grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2024 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustim- mung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografis- che Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Monika Radecki Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar. Was Sie in diesem essential finden können eine knappe Einführung in die psychoanalytische Methode den Vorschlag für einen Transfer der psychoanalytischen Methode auf die Betrachtung von Spielfilmen oder Serien die Vorstellung einiger wichtiger Ansätze den Vorschlag eines Leitfadens für eine filmpsychoanalytische Interpretation zahlreiche Beispiele V Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung..................................................... 1 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer auf den Bereich Film.......................................................... 7 2.1 Skizze der Methodologie der Psychoanalyse................... 8 2.1.1 Psychische Konflikte................................. 8 2.1.2 Struktur der Psyche.................................. 10 2.1.3 Das Unbewusste verstehen durch die Betrachtung von Übertragung und Gegenübertragung................... 10 2.1.4 Szenisches Verstehen................................ 12 2.1.5 Deutung............................................ 13 2.1.6 Psychoanalytische Haltung........................... 14 2.2 Methodische Probleme und Lösungsversuche der Filmpsychoanalyse......................................... 15 2.2.1 Übertragung und Film............................... 16 2.2.2 Gegenübertragung und Film.......................... 17 2.2.3 Deutung und Film................................... 19 2.2.4 Individuelles und Soziales............................ 20 2.3 Gängige methodische Vorgehensweisen....................... 21 2.3.1 Drei psychoanalytische Zugangswege zum Film......... 22 2.3.2 Die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft: A. Lorenzer......................................... 25 2.3.3 Film und Ideologiekritik: S. Žižek, W. M. Schmitt....... 27 2.3.4 Weitere filmpsychoanalytische Methoden: T. McGowan, M. Zeul, G. Schneider, R. Zwiebel, A. Hamburger, H. König................................ 30 VII VIII Inhaltsverzeichnis 2.3.5 Die Brücke zur Filmwissenschaft: D. Blothner, M. Stiglegger.......................................... 33 2.3.6 Weitere Aspekte einer filmpsychoanalytischen Betrachtung......................................... 34 2.4 Weitere methodische Probleme und Lösungen................. 35 2.4.1 Wissen um „Kontexte“............................... 35 2.4.2 Zum Einbezug der filmischen Form.................... 36 2.4.3 Irritationen als Verstehenslücken, affektive Verdichtungen, Knotenpunkte......................... 38 2.4.4 Deutungsoptionen................................... 40 2.4.5 Die Möglichkeit der Nicht-Bedeutung.................. 41 2.4.6 Validierung und Gruppenzusammenhänge.............. 42 3 Methodischer Leitfaden für eine Filmpsychoanalyse............... 45 3.1 Rahmen und Haltung....................................... 45 3.2 Erstellen eines Protokolls................................... 46 3.3 Identifizieren von Irritationen................................ 47 3.3.1 Vorgehen in einer Gruppe............................ 47 3.3.2 Vorgehen in einer individuellen filmpsychoanalytischen Betrachtung......................................... 48 3.4 Analyse der Quasi-Objektbeziehung.......................... 48 3.4.1 Beziehungs- und Identifizierungsangebote prüfen........ 49 3.4.2 Latente Ebenen der Bedeutung........................ 50 3.5 Ausformulieren einer Interpretation und potenziellen Deutung... 50 3.6 Zusammenfassung des Vorgehens............................ 52 4 Beispiel: I’M THINKING OF ENDING THINGS..................... 53 Was Sie aus diesem essential mitnehmen können..................... 59 Literatur......................................................... 61 Einleitung 1 Der Film Alles was wir geben mussten (2010, Regie: Mark Romanek) ist die Adaptation eines Romans (2005) von Kazuo Ishiguro, der 2017 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Im Film (vgl. a. Storck 2016) geht es um ein (Zukunfts-) Szenario, in dem es möglich geworden ist, die Lebenserwartung der Menschen deutlich zu erhöhen, indem ihnen Organe transplantiert werden, welche zu diesem Zweck „gezüch- teten“ Klonen entnommen werden, sobald diese das Erwachsenenalter erreicht haben. Wir begleiten drei dieser Klone in ihrem Heranwachsen: Kathy, Ruth und Tommy. Sie haben auf den ersten Blick eine „normale“ Kindheit, allerdings wachsen sie in einem Internat auf, ohne Körperkontakt durch die Erzieherinnen und Erzieher bzw. Lehrerinnen und Lehrer – versinnbildlicht dadurch, dass die Kinder sich ihre Milchflaschen von einem Tisch abholen, auf dem diese bereit- gestellt sind: Ihr körperlichen Bedarfe werden gestillt, ohne dass es emotionalen oder leiblichen Kontakt oder Zuwendung gibt. Den Kindern ist es untersagt, den Bereich der Schule zu verlassen und alle halten sich daran. Bei einem Bazar erhält Kathy eine Musikkassette der Künstlerin Judy Bridgewater und hört sehnsuchts- voll den Song „Never let me go“ an (das ist auch der Titel des Buchs und Films im englischen Original). Sie ist in Tommy verliebt, der allerdings eine Beziehung mit Ruth beginnt. Eine neue Lehrerin erzählt den Kindern die Wahrheit: Dass sie das junge Erwachsenenalter vermutlich nicht überleben werden, weil ihr Exis- tenzzweck darin besteht, mit ihren Organen das Leben der („echten“) Menschen zu verlängern. In der Jugend wechseln die Klone auf ein anderes Internat. Sie sind faszi- niert vom Gedanken, dass sie jeweils nach einem „Original“ geformt sind und © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 1 von Springer Nature 2024 T. Storck, Psychoanalyse und Film, essentials, https://doi.org/10.1007/978-3-662-68613-3_1 2 1 Einleitung begeben sich auf die Suche nach diesen. So gewinnen sie jedoch die Erkennt- nis, dass sie nicht nach den Schönen, Beliebten oder Erfolgreichen unter den Menschen geformt sind, sondern nach dem „Abfall“. So finden wir auch eine Erklärung dafür, dass Kathy bereits als junges Mädchen kompulsiv wirkend in Pornomagazinen geblättert hat: Sie hat versucht, dort ihr Original zu finden. Unter den Jugendlichen verbreitet sich ein Gerücht: Wenn zwei von ihnen einander wirklich liebten, dann sei es möglich, bei der Leiterin der Schule(n) einen Aufschub zu beantragen, also noch nicht spenden zu müssen. Das Gerücht besagt auch, dass die Leiterin aus diesem Grund auch immer Zeichnungen oder Malereien der Kinder habe sehen wollen, um zu prüfen, ob jemand diese Liebe in sich trage. Im Erwachsenenalter arbeitet Kathy als „Betreuerin“, was bedeutet, sie begleitet die spendenden Klone durch den Prozess, muss aber selbst noch nicht spenden. Den anderen beiden, Ruth und Tommy, geht es nach mehreren Spenden bereits sehr schlecht. Ruth hat erkannt, dass sie Kathy und Tommy in der Jugend voneinander ferngehalten hat, sodass nun die beiden eine Liebesbeziehung beginnen. Kathy und Tommy entschließen sich, zur Leiterin zu fahren, um dort ihre Liebe zueinander zu bekunden, zahlreiche von ihm angefertigte Zeichnungen vor- zulegen und auf diese Weise einen „Aufschub“ des weiteren Spendeprozesses zu beantragen. Bei diesem Besuch stellt sich heraus, dass es nie den Gedanken eines Aufschubs gab und dass die Leiterin die Zeichnungen der Klone während deren Kindheit sammelte, um belegen zu können, dass die Klone eine Seele hätten (kreativ und empfindsam erleben können). Der Film endet damit, dass Kathy Tommy zu dessen letztlich letaler letzter Spende begleitet. Ganz am Ende berich- tet sie, dass nun auch sie ihren „Bescheid“ bekommen habe und zu spenden beginnen werde. Neben einer solchen Zusammenfassung des filmischen Narrativs kann man einiges über die Form des Films sagen, neben der beeindruckenden schauspie- lerischen Leistung von Andrew Garfield, Keira Knightley und Carey Mulligan. Mark Romanek hatte sich vorher als Regisseur von Musikvideos einen Namen gemacht und das merkt man dem Film an – es wirkt in Teilen so, als hätte Cas- par David Friedrich einen Clip für MTV gedreht. Alles und alle sehen in der Regel sehr gut aus, es hat etwas von einer sterilen Schönheit. Und in vielen Ein- stellungen erscheinen die menschlichen Figuren einsam und verloren in weiten Landschaften. Es hat etwas Erhabenes und Verlorenes zugleich. Irritierend ist in der Wirkung des Filmes auf Zusehende, dass es keinerlei Auf- begehren oder Verweigerung der Klone gibt, in keiner Altersphase – sie nehmen die Regeln hin, zum Beispiel im ersten Internat das Schulgelände nicht zu ver- lassen oder sich später nicht schlicht physisch (oder womöglich rechtlich!) gegen 1 Einleitung 3 den Spende-Prozess zu wehren. Und ferner: Die Klone haben guten Grund, das Gerücht anzuzweifeln, dass Liebende einen Aufschub hinsichtlich des Spendens erhalten, und trotzdem glauben sie daran bzw. wollen sie daran glauben. Eine psychoanalytische Interpretation kann diese Irritationen zum Ausgangs- punkt nehmen und eine Lesart entwickeln, dass der Entzug körperlicher und sonstiger liebevolle Nähe durch das vollkommene Fehlen primärer Bezugsper- sonen (besonders einfühlbar in Kathys Sehnsucht im Hören des Songs „Never let me go“, was so wirkt, als würde sie sich selbst wiegen/trösten) zu einer Entmi- schung führt: Es gibt keine integrierte Aggression, nur die Destruktivität, die den Klonen zustößt. Und auch die Sexualität wirkt abgetrennt, im Pornoheft enthalten, in denen nach den Originalen gesucht wird, aber ohne Lust. Der Versuch einer Sublimierung (in der Malerei) gelingt einerseits (es wird ein Ausdruck gefunden), aber andererseits kann kein Gegengewicht gegen das Destruktive gefunden wer- den, die Protagonisten bleiben in einer auch filmisch inszenierten übermächtigen Welt verloren und ausgeliefert. Die Psychoanalyse liefert einen Zugang zu Filmen, ebenso wie sie es zu anderen Kunstwerken, kulturellen Prozessen oder Erzeugnissen oder gesell- schaftlichen Entwicklungen tut. Warum beansprucht sie das eigentlich? Andere psychotherapeutische Verfahren widmen sich dem ja nicht, es gibt keine verhal- tenstherapeutische Betrachtung von Filmen o. ä. Und in der Tat geht es bei einer psychoanalytischen Filmbetrachtung ja auch nicht darum, dasselbe zu tun wie in einer psychotherapeutischen Behandlung oder einer einzelnen Stunde. Das hat damit zu tun, dass die Psychoanalyse in dreierlei Weise verstanden werden kann (vgl. Freud 1923, S. 211): als Theorie des Psychischen als eine Methode zur Untersuchung des Psychischen (d. h. des Erlebens und Handelns von Menschen) ein Behandlungsverfahren bei psychischen Erkrankungen Das unterscheidet die Psychoanalyse von anderen Psychotherapie-Verfahren, denn es bedeutet auch: Die Psychoanalyse verfügt über eine eigene (Meta-) Theorie der Methode, eine Methodologie, sowie über eine eigene Erkenntnistheorie. Das ermöglicht es ihr, aus dem Behandlungszimmer herauszutreten und ihre Methode auch in anderen Feldern, so im Kino, zur Anwendung zu bringen. Darum, wie ein solcher Transfer der Methode aussieht und zu welchen Erlebnissen er führt, geht es im vorliegenden Buch. 4 1 Einleitung Denn das ist der entscheidende Punkt: Psychoanalyse auf einen Film „anzu- wenden“, bedeutet gerade nicht, ihre Theorie zur Anwendung zu bringen. Auch das geschieht in einer therapeutischen Psychoanalyse ja auch nicht bzw. allenfalls mittelbar oder sekundär. Mit einem Patienten oder einer Patientin zu arbeitet, bedeutet nicht, ihnen theoretische Konzepte überzustülpen, sondern methodisch geleitet eine Behandlung durchzuführen. Auch in der Anwendung der Psycho- analyse auf einen Film geht es also um eine Anwendung, einen Transfer der Methode. Ich werde dazu in einem zweiten Kapitel kurz skizzieren, was methodisch und methodologisch unter „Psychoanalyse“ zu verstehen ist. Im Anschluss daran werde ich erörtern, welche Probleme sich ergeben, wenn psychoanalytisch außer- halb des Behandlungszimmers vorgegangen wird: Hier werden Fragen danach eine Rolle spielen, ob in der Betrachtung eines Films von Prozessen der Übertra- gung und Gegenübertragung gesprochen werden kann oder welcher Stellenwert einer Deutung in der Filmpsychoanalyse zukommt. Danach werde ich einige der gängigen psychoanalytischen Vorgehensweise in der Filmbetrachtung vorstellen sowie auf einige weitere Hinweise aus psychoanalytischer Richtung eingehen, die auch jenseits ausformulierter methodischer Programme hilfreich für die Filmpsychoanalyse sein können. Ferner werde ich unterstreichen, dass und wie Filmpsychoanalyse notwendigerweise ein interdisziplinärer Vorgang ist, in den die Filmwissenschaft einbezogen ist. In Kap. 3 werde ich einen methodischen Leitfaden zur filmpsychoanalytischen Interpretation und Deutung vorstellen sowie daran anschließend das Vorgehen in Kap. 4 an einer beispielhaften Interpretation des Films I’m thinking of ending things (2020, Regie: Charlie Kaufman) veranschaulichen. Ich spreche im Weiteren von Filmpsychoanalyse, um den psychoanalytischen Zugang zum Film zu kennzeichnen. Diesen Ausdruck verwendet auch Hamburger (2018) in seinem kanonisch zu nennenden Buch, ein Ansatz, dem meine eigenen Überlegungen sehr viel verdanken. Ferner nehme ich in meinem eigenen Ansatz und methodischen Vorgehen Bezug auf die tiefenhermeneutische Kulturanalyse Lorenzers (1986; vgl. König 2000; Reinke 2013). Bedanken möchte ich mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen der Herausgebenden-Gruppe der Buchreihe „Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie“: Peter Bär, Andreas Hamburger, Karin Nitzschmann und Gerhard Schneider, mit denen der Austausch eine zentrale Bedeutung für meine eigenen filmpsychoanalytischen Überlegungen gehabt hat und nach wie vor hat. Ellen Reinke hat mich erstmals mit dem Gedanken einer psychoanalytischen Betrach- tung von Filmen vertraut gemacht. Mit Marie-Luise Althoff und Lars Friedel 1 Einleitung 5 (sowie Jochen Schade) habe ich seit einigen Jahren Veranstaltungen zu Psycho- analyse und Film während der Erfurter Psychotherapiewoche geleitet, auch dieser beständige Austausch ist hier eingeflossen, ebenso wie die Reihe „Psycho-Kino“, die ich an der Psychologischen Hochschule Berlin zusammen mit Korinna Fritze- meyer durchführe. Ferner ist die Zusammenarbeit und der Austausch mit Gilbert Beronneau in gemeinsamen Lehrveranstaltungen und Diskussionen zu nennen, die meinen Horizont ebenfalls erweitert haben. Schließlich gebührt dem Käte Hamburger Centre for Apocalyptic and Postapo- calyptic Studies der Universität Heidelberg unter der Leitung von Robert Folger und Thomas Meier Dank. Im Rahmen eines dortigen Fellowships war es mir möglich, die Arbeit an diesem Buch abzuschließen. Seitens des Springer-Verlags möchte ich mich noch bei Monika Radecki für die sehr angenehme Zusammenarbeit bedanken. Timo Storck Berlin und Heidelberg Oktober 2023 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer auf den Bereich Film 2 Eine psychoanalytische Betrachtung des Films No country for old men (2007, Regie: Joel und Ethan Coen; ebenfalls die Verfilmung eines Romans, nämlich von Cormac McCarthy, 2005, erlaubt es, Überlegungen zur Depression im Alter anzustellen (vgl. a. Storck 2010). Das ist nicht deshalb der Fall, weil man die Hauptfigur Sheriff Ed Tom Bell diagnostizieren könnte. Dazu fehlen die methodischen Möglichkeiten (man müsste ja einen diagnostischen Test oder ein diagnostisches Interview in einer Begegnung mit dieser Person zur Anwendung bringen), aber auch die methodologischen Möglichkeiten (es würde ja aus einem Film ein Element vermeintlich isoliert und interpretiert). Ebenso fehlt natürlich auch der Auftrag dazu. Weder der Schauspieler, noch die Figur, noch die Regis- seure haben uns darum gebeten, eine Diagnose zu stellen. Der mögliche Bezug von No Country for old men zur Altersdepression ist vielmehr das Ergeb- nis eines methodischen Zugangs. Und dieser sowie seine Ergebnisse richten sich auch nicht auf die Figur Sheriff Bell, sondern auf die Struktur des Films in seiner Gesamtheit und seine Wirkung auf Zuschauerinnen und Zuschauer. In No Country for Old Men geht es um den Killer Anton Chigurh, der ohne jeglichen ersichtlichen Sinn mordend durch Texas zieht. Sheriff Bell steht kurz vor seiner Pensionierung, in einem Voice Over zu Beginn des Films berichtet er von der Veränderung in der Art der Gewalt, die ihn umgibt. Außerdem sehen wir Llewelyn Moss, der Zeuge der Folgen eines Überfalls einer mexikanischen Gang wird und das dort zurückgelassene Geld auf die Seite schafft. Es gibt also drei, zum Teil miteinander verschlungene Erzählstränge: Chigurh mordet (wieder- holt versinnbildlicht im Münzwurf: Er lässt den Zufall entscheiden, wen er am Leben lässt und wen nicht), Moss wird von den Mexikanern gejagt und aufge- spürt, schließlich aber von Chigurh getötet, Bell versucht, Chigurh zu fassen und © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 7 von Springer Nature 2024 T. Storck, Psychoanalyse und Film, essentials, https://doi.org/10.1007/978-3-662-68613-3_2 8 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … Moss zu schützen. Der Film endet damit, dass Chigurh die Witwe von Moss tötet, danach aber durch einen Autounfall selbst schwer verletzt wird. Bell berichtet in der letzten Einstellung seiner Frau von einem Traum, in dem er seinem Vater gefolgt sei, der eine leuchtende Fackel getragen habe und voran gegangen sei. Dem Film umgibt eine Gewalt und Schwere, auch das Narrativ mündet ja in eine Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit, der Killer hat kein Motiv, es gibt kein Entkommen, allenfalls den Zufall. Der Bezug zur Altersdepression findet sich zwar auch im bloßen Fakt von Bells bevorstehender Pensionierung und seinen Äußerungen darüber, dass die Welt nicht mehr so ist wie früher und wie er sie kennengelernt hat und verstehen kann, ebenso wie natürlich im Film-Titel. Das Entscheidende dürfte aber die Stimmung der Unentrinnbarkeit sein, die der Film vermittelt, sowie die schwer aushaltbare Gewalt, die sich auch in der Filmwirkung vermittelt – zum Beispiel, wenn zu Beginn des Films aus der Vogelperspektive extensiv gezeigt wird, wie der zwischenzeitlich inhaftierte Chigurh einen Polizis- ten mit seinen Handschellen-Ketten erwürgt. Der Film vermittelt uns, wie sich eine Altersdepression anfühlt und welche unaushaltbaren Gefühle sich auch in der therapeutischen Arbeit mit an Altersdepression leidenden Menschen vermit- telt: Unverständnis, Unausweichlichkeit, Gewaltvolles. Es ist also nicht Bell, der uns zeigt, wie eine Altersdepression aussieht, sondern die Wirkung des Films insgesamt. Wie lässt sich dies nun methodisch rekonstruieren? 2.1 Skizze der Methodologie der Psychoanalyse Die Psychoanalyse gilt seit Sigmund Freud als Wissenschaft vom Unbewussten (vgl. zum Weiteren auch z. B. Storck 2018a, 2019a, 2024a). Ein spezifischer Beitrag Freuds liegt dabei darin, dynamisch Unbewusstes zu beschreiben, das heißt, Aspekte unseres Erlebens, die dem Bewusstsein als solche unzugänglich sind, weil sie mit unlustvollen Affekten (Angst, Scham, Schuldgefühle) verbun- den sind. 2.1.1 Psychische Konflikte Auf dynamische Weise ist etwas dann deshalb unbewusst, weil es zugleich mit unseren Wünschen zu tun hat. Diese führen jedoch in einen psychischen Konflikt: Sie sind mit lustvollen Gefühlen verbunden (es sind ja unsere Wünsche), aber 2.1 Skizze der Methodologie der Psychoanalyse 9 zugleich mit unlustvollen (etwas an unseren Wünschen ängstigt uns oder ist uns peinlich). Dieser psychische Konflikt, dass wir uns in unserem Erleben und Handeln ein- erseits gern mit etwas beschäftigen möchten, andererseits aber auch nicht, wird zu bewältigen versucht, indem die psychische Abwehr einsetzt. Am einfachsten lässt sich das am Beispiel der Verdrängung, dem wichtigsten unter den psychischen Abwehrmechanismen, beschreiben: Freuds Modell ist nahezu physikalisch. Wenn etwas mehr Unlust als Lust hervorzurufen droht, wird es vom bewussten Erleben ferngehalten, aus diesem herausgedrängt und unbewusst „gemacht“. Verdrängung ist dabei kein einmaliger, punktueller Vorgang, denn das aus dem Bewusstsein Ausgeschlossene drängt, weil es eben auch mit lustvollen Gefühlen verbunden ist, zurück ins bewusste Erleben. So entsteht ein Dynamismus aus verdrängenden und drängenden Kräften. Die Abwehr muss also permanent aufgewendet werden bzw. wird der Abwehrvorgang der Verdrängung durch weitere Abwehrmechanismen ergänzt, die hinzutreten. Ein Beispiel dafür kann die Verschiebung sein: Wir verschieben einen Wunsch (zum Beispiel einen aggressiven Wunsch, den wir gegenüber einer geliebten Person erleben) auf eine andere Person oder Situation (zum Beispiel unseren Chef). Auf diese Weise wird er etwas weniger ängstigend oder schuldbehaftet, sodass er, in dieser entstellten Form, ins bewusste Erleben eintreten kann. Das heißt aber auch, etwas an unserem psychischen Erleben ist uns unzugänglich, aber entfaltet trotzdem bzw. gerade erst recht seine Wirkung. Deshalb spricht man in der Psychoanalyse vom dynamisch Unbewussten und deshalb spricht Freud (1917) davon, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus sei. Psychische Konflikte führen in solche Arten von sogenannten Ersatzbildun- gen. Das ist für sich genommen kein Anzeichen von psychischer Erkrankung. Diese und die Symptome, in denen sie bestehen, bemessen sich daran, welche „Lösungen“ für psychische Konflikte gefunden werden können: Sind diese mit psychischem Leidensdruck verbunden und/oder schränken sie das Erleben oder Handeln von Betroffenen ein? Auch beispielsweise ein Zwangssymptom kann als ein Lösungsversuch verstanden werden, ein Symptom ist es, weil diese beste ver- fügbare Lösung für einen psychischen Konflikt dysfunktional ist, also das Erleben und Handeln einschränkt. 10 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … 2.1.2 Struktur der Psyche Neben Konflikten, die psychisch bewältigt werden müssen und es im Fall einer Symptombildung nicht können, lassen sich noch andere Aspekte des Psychis- chen beschreiben, die mit Gesundheit oder Krankheit zu tun haben. Man spricht von strukturellen Aspekten der Persönlichkeit, wenn es darum geht, auf welche psychischen „Fähigkeiten“ jemand zugreifen kann, zum Beispiel die Regulierung intensiver Affekte oder die Fähigkeit, zwischen Selbst und Anderem unterschei- den zu können. Auch hier lassen sich Belastungen beschreiben, die mit der Entwicklung von Symptomen zu tun haben, zum Beispiel Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle oder der Regulierung des Selbstwerts. 2.1.3 Das Unbewusste verstehen durch die Betrachtung von Übertragung und Gegenübertragung Eine wichtige Frage in der klinischen Arbeit der Psychoanalyse betrifft nun die Zugangsmöglichkeit zu dynamisch unbewussten Aspekten des Erlebens. Sie lassen sich ja nicht einfach erfragen (auch nicht in ihrem Einfluss auf die Symp- tome einer Erkrankung), denn die Abwehr sorgt dafür, dass sie in ihrer Bedeutung unbewusst sind und bleiben. Psychoanalyse besteht nicht darin, Patientinnen und Patienten deren Unbe- wusstes zu erläutern oder deren unbewusste Motive. Die Arbeit mit Unbewusstem besteht weder in einem schlichten „Raten“ noch darin, aus einer Expertenposi- tion überindividuelle Wahrheiten zu konstatieren. Der Zugang zum dynamisch Unbewussten wird gefunden, indem zum Gegenstand der Arbeit wird, was sich in der analytisch-therapeutischen Beziehung zeigt. Das führt zur Betrachtung der Methode der Psychoanalyse. Der Zugang zu dynamisch Unbewussten wird über die Beziehung gefunden. Dazu sind die Begriffe Übertragung und Gegenübertragung entscheidend (Storck 2020a, 2024b). Eine konzeptuelle Voraussetzung dafür besteht im Begriff des „Objekts“, wie die Psychoanalyse ihn verwendet. Terminologisch stammt das aus der psycho- analytischen Triebtheorie, in der das Triebobjekt dasjenige ist, das psychisch „besetzt“ ist, das heißt, auf das sich (Trieb-) Wünsche unterschiedlicher Art richten. Wenn also vom „Objekt“ die Rede ist, geht es in der Regel um die Vorstellung anderer Personen (deren psychische Repräsentanz), zu der wir uns in Beziehung erleben. 2.1 Skizze der Methodologie der Psychoanalyse 11 Psychoanalytisch geht man davon aus, dass die Persönlichkeit aus Beziehungsvorstellungen „zusammengesetzt“ ist, die die Folge von Interak- tionserfahrungen mit anderen sind, welche gleichwohl „angereichert“ wer- den durch Fantasien, Sehnsüchte etc. Interaktionen schlagen sich nieder in Beziehungsvorstellungen (Was erwarten wir von anderen? Wie sehen wir uns selbst in Beziehung zu Anderen?) und diese färben wiederum die Art und Weise, wie wir in neue Interaktionen eintreten oder wie wir über Beziehungen denken. Ständig aktualisiert sich etwas von unseren Beziehungsvorstellungen in unserem Erleben und Verhalten. Darin besteht die Grundidee der Übertragung: Freud (1900) formuliert zunächst am Beispiel des Traums, wie sich aktuelle Eindrücke (sogenannte Tages- reste) dazu eignen, dass sich im Traum unbewusste Konflikte an diese „anheften“ und ihre Intensität auf sie „übertragen“. Damit ist gemeint, dass Aktuelles so etwas wie die Kostümierung oder Bebilderung mancher unserer wichtigen, aber vielleicht auch problematischen Seiten der Innenwelt ist. Wenig später nutzte Freud (1905) diesen Gedanken auch für ein Modell des klinischen Arbeitens. Die Beziehung, die in der Therapie angeboten wird, eignet sich dazu, in ihr und mit ihr verinnerlichte Beziehungsmuster zu wieder- holen, in Szene zu setzen. Das passiert zwar in allen anderen menschlichen Beziehungen auch, aber das Setting und die Haltung einer psychoanalytischen Behandlungsstunde eignet sich dazu, diese Prozesse zu intensivieren und somit genauer unter die Lupe zu nehmen. In Freuds Augen war das zunächst ein Hin- dernis für die Therapie, er erkannte aber auch den Charakter der Übertragung als ein „mächtiges Hilfsmittel“ (a. a. O., S. 281) für das Verstehen und Verän- dern: Denn auf diese Weise zeigen sich unbewusste Konflikte oder unbewusste Aspekte des Erlebens von Selbst und Anderen und der Beziehung zu diesen – in der Therapie-Beziehung. Die Übertragung ist etwas Allgemeines. Dass sich diese Phänomene zeigen, hat damit zu tun, dass vorangegangene Beziehungen immer die aktuellen färben (sie determinieren sie nicht, aber wir sind eben immer auch das Resultat unserer Erfahrungen). Das heißt also auch, dass sie aufseiten der Analytikerinnen und Analytiker ebenso auftauchen. Man spricht dann von der „Eigenübertragung“ der Analytikerinnen und Analytiker. Davon ist konzeptuell die „Gegenübertragung“ zu unterscheiden, worunter man die emotionale „Antwort“ des Analytikers oder der Analytikerin auf die Übertragung versteht. Diese bzw. dieser nimmt eine Haltung ein, die man „Bereitschaft zur Rol- lenübernahme“ nennt (Sandler 1976), sie stellen sich also dafür zur Verfügung, dass mit ihnen etwas vom inneren Drama des Patienten oder der Patientin wieder aufgeführt werden kann, und so verstanden und verändert werden kann. 12 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … Das Verhältnis von Übertragung und Gegenübertragung sollte man sich dabei nicht so linear vorstellen, wie es klingen mag. Es ist eher irreführend anzunehmen, dass zuerst die Übertragung da wäre und die Gegenübertragung dann nur reaktiv darauf folgen würde. Aus diesem Grund spricht man vom szenischen Verstehen. 2.1.4 Szenisches Verstehen Argelander (1967) oder Lorenzer (1970) haben herausgestellt, dass neben „ob- jektiven“ und „subjektiven“ Daten auch „szenische“ Daten in einer analytischen Behandlungsstunde übermittelt werden. Mit szenischen Daten ist das gemeint, was sich in der Szene zwischen Analytiker:in und Patient:in zeigt, zum Beispiel eine interpersonelle Atmosphäre von Konkurrenzkampf, Allianz, Misstrauen o. ä. Szenische Daten werden szenisch verstanden, was Folgendes bedeutet: Mit Lorenzer kann man davon ausgehen, dass Patient:innen auf verschiedene Arten Szenen in eine Stunde einbringen. Manches sind Szenen aus der Biografie, manches sind Szenen aus der aktuellen Lebensrealität. Manches ist aber auch die Szene, die mit dem Analytiker oder der Analytikerin gerade entsteht. Szenen sind immer besondere, spezifische. Es wird ferner davon ausgegangen, dass gerade im Fall einer psychischen Erkrankung, die das Erleben und Handeln einschränkt, diesen Szenen (oder vielen von ihnen) eine gemeinsame „Situation“ (so Lorenzer) zugrunde liegt, ein situatives Grundgerüst, also etwas, das dafür verantwortlich ist, dass einzelne, partikulare Szenen ihre spezifische Form annehmen. Während Szenen spezifisch sind, ist eine Situation das abstrakt Allgemeine in unterschiedlichen Szenen. Da unter den vielen verschiedenen Szenen nun auch solche sind, die mit dem Analytiker oder der Analytikerin entstehen, kann ein Zugang zu dynamisch Unbe- wusstem gefunden werden: Als Analytiker beobachte ich meine Eindrücke zur Szene zwischen mir und meinem Patienten oder meiner Patientin. Und ich gehe davon aus, dass es Anderen vermutlich oft ähnlich geht wie mir mit ihm oder ihr und auch ihm oder ihr mit Anderen so ähnlich geht wie mit mir. Die aktuelle Szene aus Übertragung und Gegenübertragung wird also zum Ausgangspunkt genommen, mittels szenischen Verstehens eine Idee dazu zu entwickeln, was die situative Struktur dieser und anderer Szenen sein könnte. 2.1 Skizze der Methodologie der Psychoanalyse 13 2.1.5 Deutung Auf diese Weise wird eine Verstehenshypothese gebildet, eine Interpretation. Diese kann Einzug in verschiedene Formen therapeutischer Intervention erhal- ten. Die wichtigste unter diesen ist die Deutung, die in der Regel dynamisch Unbewusstes ansprechen soll (Storck 2022a). Zwischen Interpretation und Deutung wird in der Psychoanalyse meist unter- schieden. Eine Interpretation bringt etwas zusammen, versucht, eine Bedeutung einzusetzen, die verständlich macht, wie etwas entstanden ist. Eine Deutung im analytischen Sinn ist in der Tat „analytisch“, d. h. zerlegend. Sie versucht, die Entstehungsbedingungen aufzulösen (also das Zustandekommen eines Symp- toms), indem sie es in seine Einzelteile zergliedert. Sie fügt also nicht zusammen, sondern stellt etwas dar, auf das mit neuer Einsicht geantwortet werden kann. Eine Interpretation muss nicht verbalisiert werden; unter einer Deutung ver- steht man immer die Verbalisierung bzw. Äußerung (die auch nicht-wörtlich erfolgen kann). Das Entscheidende an ihr ist ihre Wirkung auf den Prozess, also die Frage danach, was auf sie folgt. Darin bemisst sich ihr Wert bzw. kann man sagen, dass sie sich dadurch als „valide“ erweist. Für sich genommen ist es nicht entscheidend, ob ein Patient oder eine Patientin auf die Deutung mit „ja“ oder „nein“ antwortet, sondern wichtig ist, ob auf eine Deutung mit neuen Einfällen oder der Zugänglichkeit zu zuvor unzugänglichen Affekten geantwortet werden kann. Der analytische Prozess hat dann mit einem Durcharbeiten unbewusster Kon- flikte oder beeinträchtigter struktureller psychischer Fähigkeiten zu tun. Was ebenfalls durchgearbeitet wird, sind (Behandlungs-) Widerstände, also Hemm- nisse gegenüber Veränderungsprozessen, die entstehen, weil die bestverfügbare „Lösung“, in der Symptome bestehen, noch nicht aufgegeben werden kann. Das Durcharbeiten von Konflikten und Beziehungsmustern findet angesichts von Übertragung und Gegenübertragung statt, auf diese Weise wird eine „ko- rrigierende emotionale Erfahrung“ in der Therapie-Beziehung gemacht: Verän- derung geschieht durch Einsichtnahme in unbewusste Bedeutungen und dadurch, dass aus Wiederholungen im Erleben und Gestalten von Beziehungen neue Auswege gefunden werden können. 14 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … 2.1.6 Psychoanalytische Haltung Für all das bedarf es einer bestimmten Haltung. Diese ist beschrieben wor- den über die psychoanalytische „Grundregel“ der gleichschwebenden Aufmerk- samkeit. Damit ist gemeint, dass der Analytiker oder die Analytikerin sich ohne eine Vorab-Priorisierung (z. B. besonders dann aufmerksam zuzuhören, wenn es um die Mutterbeziehung geht…) dem widmen soll, was von Patient:innen-Seite berichtet wird. Was im einzelnen Fall von besonderer Bedeutung ist, steht nicht immer schon fest. Diese Haltung ist nicht schlicht eine rational geleitete, sondern geht einher mit dem Bereitstellen einer emotionalen Resonanz für das, was in den Berichten mitschwingt, aber vielleicht (noch) nicht in Worte gefasst werden kann. Daher ist die psychoanalytische Haltung des Zuhörens und Sich-Einschwingens als „Rever- ie“ beschrieben worden (manchmal übersetzt als „träumerisches Ahnungsvermö- gen“) (vgl. z. B. Bion 1970). Reverie bedeutet, sich davon erreichen zu lassen, was patient:innen-seitig emotional-atmosphärisch in die Stunde eingebracht wird – was auch heißt, sich erschüttern lassen zu können, eigene Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten (zum Beispiel theoretischer Art) zurückzustellen. Bion hat dies auf die, manchmal etwas absolut klingende, Formel „no memory, no desire, no understanding“ gebracht, womit gemeint ist, sich nicht von dem, was man schon weiß, oder vom dem, was man wissen will, leiten zu lassen, sondern sich unmittelbar von dem erreichen lassen zu können, was einem begegnet. Das verweist zugleich auf eine Zweiseitigkeit psychoanalytischen Verstehens: Zum einen geht es um das szenische Verstehen, das Einsetzen von Bedeutungen und ein gewisses Voranschreiten in einem Prozess des Erlangens von Einsicht. Zum anderen aber geht es auch um eine Suspension des bisher Gewussten und Verstandenen, um eine unmittelbare emotionale Erfahrung und Begegnung. Zum Kern des psychoanalytischen Standardverfahrens kann also zusammenge- fasst werden: Es geht darum, sich über eine Reflexion des Beziehungsgeschehens (das verstanden wird als eine Aktualisierung verinnerlichter Muster) in der Therapie Einsicht in unbewusste konflikthafte Bedeutungen zu verschaffen. Etwas am Konflikt- und Beziehungsgeschehen wird durchgearbeitet, dazu dienen Deutungen, sodass Verstehen und Veränderung möglich werden. 2.2 Methodische Probleme und Lösungsversuche der Filmpsychoanalyse 15 2.2 Methodische Probleme und Lösungsversuche der Filmpsychoanalyse Wie bereits erwähnt kann es in einem Transfer bzw. einer Anwendung der Psychoanalyse auf andere Bereiche als das Behandlungszimmer und klinische Prozesse von Verstehen und Veränderung nur um den Transfer der Methode, nicht um einen Transfer der Theorie gehen. Das ist in der Geschichte der sogenannten Angewandten Psychoanalyse nicht immer so klar gewesen. Auch Versuche Freuds, psychoanalytisch etwas über Kunst (v. a. Literatur) zu sagen, wirken etwas ungelenk und theoriegeleitet. Eine Ausnahme stellt Freuds (1914) Untersuchung der Statue des Moses von Michelangelo in Rom dar. Hier vollzieht Freud einen Untersuchungsprozesse, nutzt die Wirkung der Statue auf ihn für das Entwickeln einer Verstehensidee. Für den Transfer der in Abschn. 2.1 geschilderten Methode ergeben sich allerdings einige sehr grundlegende Probleme. Drei davon greife ich hier heraus und zentriere sie dabei bereits gesondert auf den Bereich Film: Kann man eine Entsprechung für Übertragungsprozesse auf der Ebene eines Films finden? Kann man die emotionale Antwort eines oder einer psychoanalytisch Inter- pretierenden auf den Film als Gegenübertragung bezeichnen? Kann es eine Entsprechung der Deutung geben, wenn das Gegenüber sich dadurch nicht verändert? Bevor ich auf diese problematischen Fragen eingehe, kann einiges methodisch Unproblematisches festgehalten werden: Die psychoanalytische Haltung, wie sie außerhalb des Behandlungszimmers eingenommen werden kann, lässt sich rela- tiv leicht beschreiben: Auch gegenüber einem Film kann einer Vorgabe gefolgt werden, Vorwissen zu suspendieren und sich einer unmittelbaren Seherfahrung auszusetzen. Das eigene Erleben gegenüber einem Film wahrzunehmen, dem kann leicht gefolgt werden. Dazu ist es nötig, die psychoanalytischen Grundregeln beide auf die filmpsy- choanalytisch interpretierende Person zu beziehen. Unter den psychoanalytischen Grundregeln versteht man klinisch die gleichschwebende Aufmerksamkeit des Analytikers oder der Analytiker sowie die freie Assoziation des Patienten oder der Patienten (d. h.: das Äußern der freien Einfälle ohne Vorauswahl). Beides gilt in der filmpsychoanalytischen Herangehensweise für denjenigen oder diejenige, die sich dem Film methodisch nähert: Aus einer Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit lässt man die eigenen freien Einfälle/Assoziationen zum Film 16 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … gelten, schenkt diesen Beachtung. Auf der Ebene dieser Haltung ist ein Transfer aus dem Behandlungszimmer gut zu vollziehen. 2.2.1 Übertragung und Film Ein wichtiger Teil psychoanalytischen Verstehens hat nun allerdings mit der „Beziehungsgeschichte“ des Gegenübers, also v. a. eines Patienten oder einer Patientin, zu tun. Dass sich etwas (Unbewusstes) in der Therapie-Beziehung in Szene setzt, aktualisiert, ist entscheidend für Verstehensversuche und - möglichkeiten. Der Gedanke dabei lautet, wie dargestellt: Beziehungserfahrungen schlagen sich in Beziehungsvorstellung nieder, einige davon sind unbewusst und insbesondere diese geben dem Geschehen in der Therapie-Beziehung eine Form und einen Inhalt. Das ist es ja, was das Übertragungskonzept auf den Begriff bringt. Was passiert nun, wenn man es mit einem Film als Gegenüber zu tun hat? Ein Film ist kein menschliches Gegenüber mit einer psychischen Entwick- lungsgeschichte. Der Film hat keine „signifikanten Anderen“, keine primären Bezugspersonen gehabt, er ist nicht das Kind anderer Menschen und seine „Persönlichkeit“ ist nicht aus seinen Beziehungsvorstellungen zusammenge- setzt. Demzufolge könnte man nicht sagen, dass er unbewusste problematische Beziehungserfahrungen aktualisiert, wenn er in neue Beziehungen eintritt. Nun könnte man einwenden, dass das zu konkretistisch gedacht ist: Der Film ist doch etwas, das seine Beziehung zu seinen kreativen „Elternfiguren“ abbildet. Ist nicht ein Regisseur oder eine Regisseurin die „primäre Bezugsperson“ eines Films? Oder ein Drehbuchautor, eine Drehbuchautorin? Erstens kann dagegen wiederum eingewendet werden, dass nicht jeder Film das Produkt nur einer Person ist – in aller Regel wirken sehr viele Menschen kreativ daran mit, dass ein Film seine jeweilige Form und Wirkung hat, selbst noch im sogenannten Autorenkino kommt die Leistung der Schauspielerinnen und Schauspieler hinzu, die Kunst des Kinematografen oder der Kinematografin u. a. Die Beziehung zu wem sollte es dann sein, die den Film zu dem werden lässt, was er beziehungslogisch ist? Und zweitens kann eingewendet werden, dass es trotzdem allem doch ein Unterschied ist, ob wir einen Menschen und seine Beziehungsbiografie betrachten oder einen Film und den Einfluss kreativer Menschen auf ihn im Entste- hungsprozess. Würde man davon sprechen, dass ein Film durch den Einfluss eines gewaltvollen Regisseurs traumatisiert worden ist? Das wäre gegenüber traumatisierten Menschen doch eher zynisch. 2.2 Methodische Probleme und Lösungsversuche der Filmpsychoanalyse 17 Es zeigt sich also: Davon zu sprechen, dass ein Film Übertragungen auf Zuschauer:innen entwickelt, die das Resultat seiner eigenen Beziehungserfahrun- gen sind, ist konzeptuell und methodisch nicht ganz stimmig. Aber: Der Film hat eine Struktur, die Wirkungen erzielt. Es ist also methodisch gesehen eher ein Problem der Terminologie als der Anwendbarkeit. Auch der Struktur des Films gegenüber kann eine psychoanalytische Erkenntnishaltung eingenommen werden, die es erlaubt, etwas über manifeste und latente Bedeutungen zu sagen – nur eben stärker von der Wirkung auf die Betrachtenden ausgehend als von der Entwick- lungsgeschichte des Films her gedacht. Der Film überträgt nicht, aber er wirkt auf uns und dies durchaus beziehungshaft. 2.2.2 Gegenübertragung und Film Das zweite oben genannte Problem betrifft die Frage, ob die eigene emotionale Reaktion oder sich einstellende Fantasien angesichts eines Films als Gegenüber- tragung bezeichnet werden kann. Zunächst einmal ist das mit dem ersten Problem verbunden. Wenn man die Struktur des Films und die daraus erwachsene Wirkung nicht als Übertragung verstehen kann, dann kann auch die Antwort auf ihn nicht als Gegenübertragung bezeichnet werden. Beides ist ja miteinander verbunden, ruft einander wechselseitig hervor. Eine mögliche Antwort auf dieses Problem kann darin liegen, dann statt dessen von einer „Eigenübertragung“ der interpretierenden Person auf den Film zu sprechen: Ich erlebe einen Film und seine Figuren vor dem Hintergrund meiner eigenen Beziehungserfahrungen und das leitet meine Identifizierungen mit Norman Bates, dem Joker oder Erin Brockovich. Natürlich passiert das. Aber Filmwirkung geht darüber hinaus, dass wir let- ztlich nur angesichts des Films auf unsere eigene Innenwelt antworten (es wirft allerdings die Frage der erforderlichen Selbsterfahrung als Voraussetzung für eine methodisch geleitete Filminterpretation auf). Daher muss das Problem der Gegenübertragung noch auf eine andere Weise adressiert werden. Filme entfalten eine Wirkung, aufgrund ihrer Struktur (Nar- rativ, Figuren und ihre Konstellation, filmische Einstellungen und Perspektive, Musik, Farbgebung, des Schnitts u. v. m.). Diese Wirkung ist nicht beliebig und bleibt auch nicht auf das Narrativ beschränkt. Dass in einem Film der Protago- nist ohne Mutter aufwächst, sagt uns noch nicht viel darüber, wie der Film auf uns wirkt, seine Wirkung beschränkt sich nicht darauf, dass wir gemäß unserer eigenen Mutter-Beziehung emotional auf ihn reagieren. 18 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … Das heißt, die Wirkung des Films entfaltet sich „auf“ uns, wir antworten mit Emotionen, Einfällen, Fantasien usw. auf ihn. Diese müssen nun nicht „Ge- genübertragung“ genannt werden, um zu kennzeichnen, dass sie filmspezifisch (und nicht interpret:innen-spezifisch) sind, oder um sie zum Ausgangspunkt einer psychoanalytischen Interpretation zu machen. Wir können das tun, weil unsere emotionale Antwort auf den Film eine besondere ist. Eine Begegnung mit einem Film (wie mit Kunstwerken über- haupt) kann als eine quasi-intersubjektive Begegnung verstanden werden, insofern sie so erlebt wird, als ob wir es darin mit einem subjektiven Gegenüber zu tun hätten, der absichtsvoll etwas mit uns „anstellt“, also zum Beispiel uns provoziert, anrührt, abstößt u. a. Verschiedentlich ist vom Kunstwerk als einem Quasi-Subjekt gesprochen werden (im Anschluss an Hegel z. B.: Bergande 2007; vgl. psychoanalytisch auch: Soldt 2009; Soldt & Storck 2008) bzw. als einer Quasi-Person (Schneider 2008). Das eröffnet methodische Möglichkeiten für die Psychoanalyse. Die „willful suspension of disbelief“ (Coleridge) der Filmpsy- choanalyse besteht darin, die eigene emotionale Reaktion daraufhin zu befragen, durch welche Art von Beziehung zu welcher Art von Gegenüber sie hervorgerufen wird (vgl. a. Storck 2020b). Ich werde weiter unten darauf im Hinblick auf die Frage „Mit welcher Art von Objekt habe ich es in der Begegnung mit diesem Film zu tun?“ zurückkommen. Ein Beispiel für den Umgang mit diesen ersten beiden Problembereichen (Bildet ein Film Übertragungen aus? Ist unsere emotionale Antwort auf ihn eine Gegenübertragung?) lässt sich in Michael Hanekes Film Funny Games (1997/ 2007) finden. Im Film begleiten wir eine Kleinfamilie (Mutter, Vater und etwa 12jähriger Sohn) in ihr Sommer-/Ferienhaus. Dort klingeln nach kurzer Zeit zwei junge Männer aus der Nachbarschaft an der Haustür, um sich Eier zu leihen. Bald wird daraus eine Szenenabfolge aus Gewalt, Gefangenhalten und Folter. Die bei- den jungen Männer quälen die Familienmitglieder, die nicht entkommen können. Selbst noch, als es gelingt, einen der Folterer zu erschießen, spult der andere den Film(!) zurück und verhindert so die Tat. Am Ende werden alle Mitglieder der Familie getötet sein. Der Film ist quälend, nahezu unaushaltbar anzusehen. Zum einen, weil die Familie so sehr ausgeliefert ist und wir in teils sehr langen Szenen daran teil- haben. Es gibt kein Entkommen und mehr und mehr schwindet die Hoffnung. Zum anderen, und das ist vielleicht der noch entscheidendere Punkt für die quä- lerische Wirkung, werden wir aber auch auf ungekannte Weise in eine weitere identifikatorische Position gedrängt, nämlich in die der Killer. Diese sind eigen- schaftslos, ihr Handeln folgt keinem erkennbaren Motiv, sie sind wir eine weiße Wand. Und zugleich werden wir hineingezogen, etwa wenn uns einer der Killer, 2.2 Methodische Probleme und Lösungsversuche der Filmpsychoanalyse 19 mit direktem Blick in die Kamera (also in einem Durchbrechen der vierten Wand) anspricht und fragt, was er als nächstes tun solle. Wir bekommen einen Spiegel vorgehalten, sind mit einer Identifizierung konfrontiert, die wir nicht wollten, gegen die wir uns aber auch nicht wehren können. Zum einen entfaltet Funny Games also in dieser Weise eine Wirkung auf uns, gegen die wir uns nicht wehren können (es hat nichts mit unserer Eigenübertragung zu tun bzw. allen- falls nachrangig), zum anderen erleben wir intensive Gefühle. Und wir haben es mit einem quälenden Objekt zu tun, der Film quält uns doppelt: in unserer Identifizierung mit der Familie und der erlittenen Gewalt, aber auch in unserer Identifizierung mit der ausgeübten Gewalt auf der anderen Seite. 2.2.3 Deutung und Film Ich hatte als ein drittes Problem des Methodentransfers oben angeführt, dass fraglich ist, ob die psychoanalytische Arbeit an und mit einem Film sin- nvollerweise als Deutungsarbeit bezeichnet werden kann. Oben hat sich gezeigt: Deutungen sollten prozessual verstanden werden, sie bestimmen sich in ihrer Triftigkeit oder Validität über ihre Wirkung auf den weiteren Prozess – was nicht zuletzt bedeutet: An einer Deutung ist entscheidend, was im Anschluss daran anders werden kann. Psychoanalytisches Arbeiten bedeutet, dass sich jemand – zum Beispiel im Verhältnis zu unbewussten Aspekten des Erlebens – verändert. Einsicht ist möglich, Strukturen haben sich verändert usw. Passiert das nun auch mit einem Film, den ich interpretiere und psychoana- lytisch betrachte? Zunächst einmal: Selbstverständlich nicht. Der Film (wenn man darunter nicht nur das Drehbuch oder die Besetzung versteht und die konkrete Realisierung eines Films davon trennt, was in der Regel, anders als im Theater, ja auch nicht geschieht) bleibt derselbe, egal wer ihn wie interpretiert. Meine Deutung ist ihm egal, er wird dadurch nicht einsichtsreicher oder verändert seine Struktur. Auch hier kann man zunächst einmal einwenden: Aber meine auf die eigene Deutung folgende erneute Seherfahrung wird nicht dieselbe sein. Der Film wird seine Wirkung auf mich anders entfalten, vielleicht wird es sogar eine andere sein, wenn ich ihn wiederholt ansehe. Das ist aber einerseits eine Trivialität: Zum einen sehe ich einen Film anders, wenn ich weiß, wie er ausgeht und aussieht. Zum anderen färben natürlich meine eigenen Gefühle und Ideen zu einem Film eine weitere Sichtung. 20 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … Weiterführend ist es hier allerdings, die Unterscheidung zwischen Interpreta- tion und Deutung aufzunehmen (vgl. a. Storck 2017a, 2018b). Die Interpretation ist das Ergebnis eines (szenisch ausgerichteten) Verstehensprozesses, sie kann innerlich oder privat bleiben. Die Deutung ist die Verbalisierung von etwas, das dem Ziel einer Wirkung auf den Prozess, das Offenlegen von Mechanismen der Entstehung eines Phänomens, und sie wird jemandem entgegengehalten, der sich dadurch verändert. Jede methodisch getragene Verstehensidee, die ich zu einem Film und seiner Bedeutung entwickele, kann als Interpretation bezeichnet werden. Sie wird dann zu einer Deutung, wenn ich sie „ausspreche“, sie jemandem entgegenhalte, der darauf reagiert. Für die Angewandte (Film-) Psychoanalyse ist dieser „jemand“ dann aber eben weder ein Individuum, noch der Film, sondern eine soziale Gruppe (z. B. Kinobe- sucher:innen in Deutschland). Während in der klinischen Psychoanalyse einem Individuum eine Deutung gegeben wird, die auf dessen (individuelles) Unbe- wusstes wirken soll, dann ist es in der Angewandten Psychoanalyse eine soziale Gruppe, der eine Deutung gegeben wird, die auf gesellschaftlich Unbewusstes wirkt. 2.2.4 Individuelles und Soziales Dazu ist ein kurzer Exkurs erforderlich. Anwendungen der Psychoanalyse jenseits des Behandlungszimmers oder der Psychologie des Individuums stehen vor dem Problem, dass das Begriffsgefüge der Psychoanalyse sich in weitem Teilen auf Individuen bezieht. Das zeigt sich in Freuds Kulturtheorie, in der die Stärken eben nicht darin liegen, von einem Über-Ich der Gesellschaft o. ä. zu sprechen, sondern darin zu beschreiben, wie Soziales auf das Individuum wirkt (und umgekehrt). Besonders stark zeigt sich diese Schwierigkeit bei der Frage des Verhältnisses von Gesellschaft und Unbewusstem. „Die“ Gesellschaft hat kein Unbewusstes, denn sie ist kein Individuum, kein Subjekt mit einer Beziehungsgeschichte, mit Wünschen, die in Konflikte führen und verdrängt werden. Aber sie wird von Individuen (und Institutionen) gebildet, sie ist ja keine statische Größe, in die sich Einzelne schlicht hineinbegeben würden. Und sie wirkt auf die Individuen und dies in überindividueller Weise. Anders gesagt: Psychische Konflikte, Abwehrmechanismen und Unbewusstes sind Wege, ein Individuum zu beschreiben. Was in Konflikte führt und Abwehr mobilisiert, kann aber von verschiedenen Individuen geteilt werden bzw. auf diese in einer Weise wirken, dass dieselben individuellen Prozesse eintreten und sich dieselben Folgen 2.3 Gängige methodische Vorgehensweisen 21 im Hinblick auf das Verhältnis von bewusst und unbewusst ergeben. Daher kann man sagen: „gesellschaftlich unbewusst“ sind diejenigen Aspekte des individu- ellen Lebens, die für alle Mitglieder einer sozialen Gruppe aufgrund derselben Wirkungen unbewusst sind (bzw. werden) (vgl. a. Erdheim 2013). Ein Beispiel dafür ist die von Alexander und Margarete Mitscherlich (1968) in ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ beschriebene Schuld- und Trauer- Abwehr der deutschen Bevölkerung nach Ende des zweiten Weltkriegs und dem Niedergang von Nazi-Deutschland. „Gesellschaftlich unbewusst“ war die Funktion des Aufschwungs, des „Wirtschaftswunders“ in seiner Bedeutung für abgewehrter Schuld angesichts deutscher Massenvernichtung, Kriegsführung etc. (durch ein immerhin demokratisch gewähltes und nicht gestürztes Regime). Hier ist nicht „der“ Gesellschaft etwas unbewusst, aber den Mitgliedern der Gesellschaft aufgrund derselben Wirkungen und Dynamiken. Filme als kulturelle Produkte (und das gilt dann für „Paw Patrol“ ebenso wie für den Arthousefilm) bilden etwas von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab, vermittelt über diejenigen, die an ihm mitwirken, aber natürlich auch über eine „Film-Szene“, in der etwas zum Ausdruck gebracht wird und etwas anderes nicht. In ihnen bildet sich etwas im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ab. An dieser Stelle ist entscheidend: Eine filmpsychoanalytische Interpretation wird dann zur Deutung, wenn sie der Gesellschaft bzw. einer sozialen Gruppe, die einen Teil davon bildet und repräsentiert, gegenüber geäußert wird – in einem Vortrag, einer Publikation o. ä. Erst dann kann sie wirken und potenziell ihrem verändernden, emanzipatorischen Charakter gerecht werden. Ich werde auf diese Frage im Hinblick auf „Welches sind mögliche latente Strukturen in einem Film?“ zurückkommen. 2.3 Gängige methodische Vorgehensweisen Ich werde nun zunächst eine Einordnung in drei psychoanalytische Zugangsweisen zu Filmen vornehmen. Dabei wird sich der wirkungsbezogene Ansatz als am besten geeignet herausstellen und ich werde daher in einem nächsten Schritt einige gängige Vorgehensweisen in der psychoanalytischen, wirkungsbezogenen Betrachtung von Filmen vorstellen. Nicht alle folgende den bisher erörterten Lösungen für auftretende methodische Probleme in derselben Weise wie von mir vorgeschlagen. Im Durchgang durch sie erhält der daran anschließend vorgestellte eigene Ansatz allerdings weiteren Input und ist dadurch in weiten Teilen beeinflusst. 22 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … Ich werde zunächst als einen allgemeinen Rahmen der Filmpsychoanalyse den Bereich der Gesellschafts- bzw. Ideologiekritik vorstellen (Lorenzer, Žižek, Schmitt). Danach werde ich einige der genauer ausformulierten filmpsycho- analytischen Zugänge (McGowan, Zeul, Schneider, Zwiebel, Hamburger und König) skizzieren sowie den interdisziplinären Charakter der Filmpsychoanalyse herausstellen, indem ich einige filmwissenschaftliche bzw. für sich genommen bereits stärker interdisziplinäre Zugänge ein (Blothner, Stiglegger) einbeziehe. Schließlich werde ich auf einige weitere Hinweise aus psychoanalytischer Richtung (Reiche, Danckwardt, Soldt) eingehen. 2.3.1 Drei psychoanalytische Zugangswege zum Film Wie auch Schneider (2008) zusammenträgt, lassen sich drei Gruppen psychoan- alytischer Zugänge zu Filmen unterscheiden: 1. Die Betrachtung der Regisseur:innen- bzw. Autor:innen-Persönlichkeit durch eine Analyse des Films 2. Die Analyse der Psychologie einzelner Figuren in einem Film 3. Die Wirkungsanalyse im Hinblick auf die Rezipierenden Der erste Zugang versucht sich daran, anlässlich eines Films etwas über die Motive des Regisseurs oder der Regisseurin auszusagen. Dieses Vorgehen setzt notwendigerweise darauf, den Film im Wesentlichen als das Werk einer Person zu betrachten. Ein eher unrühmliches Modell dafür findet sich in Freuds (1928) Überlegungen zu Dostojewskij und dem Motiv der Vatertötung. Nur: Was ist beispielsweise über Alfred Hitchcock als Person angesichts seines Films Die Vögel (1963) anderes zu sagen, als dass er sich ein Szenario erdacht hat, in dem die Ankunft einer jungen Frau und deren Flirt mit einem ortsansässi- gen jungen Mann mit enger Mutterbeziehung dazu führt, dass unerklärlicherweise Vögel alle Menschen attackieren? Anlässlich des Films lässt sich nichts über Hitchcock sagen, als dass dieses Thema und seine Inszenierung ihn offenbar ausreichend stark interessiert hat. Und selbst wenn man hinzuzieht, dass auch der Protagonist in Psycho (1960) eine besondere Beziehung zu seiner Mutter hat, kann nurmehr gesagt werden, dass oft Mütter eine Rolle in Hitchcock-Filmen spielen. Um psycho- analytisch Aussagen über Regisseur:innen und deren Persönlichkeit zu tätigen, müsste man sie befragen. Die Methode der Psychoanalyse kommt dann zum Tra- gen, wenn man in eine Beziehung zu seinem Untersuchungsgegenstand tritt. Eine 2.3 Gängige methodische Vorgehensweisen 23 Einschränkung kann allerdings gemacht werden: Filmpsychoanalyse ist interdiszi- plinär. Von Seiten der filmwissenschaftlichen Perspektive können Informationen über Regisseur:innen und deren Werk oder Biografie natürlich einbezogen wer- den, dann aber wird der psychoanalytische Zugang bereits erweitert. Weiter unten werde ich auf eine Folgerung daraus eingehen. Der zweite Zugang versucht sich an der Figurenpsychologie. Das kann in illustrativer Absicht geschehen. Der zweite Fall liegt vor, wenn Filme und Fig- uren etwa dazu genutzt werden, anschaulich zu machen, worin es beispielsweise bei einer Schizophrenie-Erkrankung geht, d. h. „wie jemand dann ist“. Wir kön- nen den Protagonisten in Das weiße Rauschen (2001; Regie: Hans Weingartner) betrachten und bekommen einen Eindruck von paranoiden Ängsten. Viele Sam- melbände, zum Beispiel Möller und Döring (2010), nutzten dies. Eingeschränkt ist zu sagen, dass es sich dabei dann oft nicht um einen in engerem Sinn methodischen Zugang handelt, es wird filmpsychoanalytisch nichts Neues her- ausgefunden, sondern ein Teil des Films, meist stark am Narrativ orientiert, zur Veranschaulichung von etwas genutzt, was außerhalb des Films liegt. Der figurenpsychologische Zugang kann aber auch methodisch erfolgen. Das beziehungshafte Moment der psychoanalytischen Methode kann hier prinzipiell einbezogen werden, denn natürlich können wir uns vorstellen, wir würden, sagen wir mal, dem Protagonisten aus Todd Phillips Film Joker (2019) begegnen und können unsere emotionale Reaktion auf diese Vorstellung beobachten oder fragen, welche Art von Szene sich zwischen uns und ihm herstellt. Nur: Hier ist der Joker ein Element eines filmischen Zusammenhangs. Man kann ihn nicht herauslösen aus Einstellungen, Szenen (und damit Beziehungen zu anderen Figuren) und wir können über ihn schlicht nur wissen, was der Film uns zeigt, also was Teil der filmischen, nicht der individuellen Inszenierung ist. Wir sind nicht Teil des Films und stehen dem Joker als Figur gegenüber, sondern das ist nur für Joker als Film, also als Gesamtkunstwerk der Fall. Unsere Beziehung zum Joker als Figur ist davon geprägt, welche andere Figuren uns wie gezeigt werden, wie Szenen gestaltet sind usw. Methodisch geleitet können wir also gar nicht der einzelnen Figur gegenüber stehen und unsere Beziehung zu ihm reflektieren, sondern es kann nur der Film unser Gegenüber sein, nur zu ihm stehen wir in Beziehung. Der dritte Zugang schließlich ist die Wirkungsanalyse. Methodisch konse- quent wird hier auf psychoanalytische Weise der Film als Gegenüber verstanden, zwischen ihm und uns entstehen Szenen, die von emotionalen Wirkungen und Einfällen geprägt sind. Die quasi-intersubjektive Beziehung ist die zwischen uns und dem Film. Und dann ist es eben auch nicht die einzelne Figur, die uns berührt oder ängstigt, sondern der Film, der es tut, u. U. vermittels der Art und Weise, wie 24 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … eine Figur gezeigt wird oder handelt. Der Film kann dann noch anders als über die Figuren allein (oder isoliert) eine beziehungshafte Wirkung erzielen – zum Beispiel dann, wenn uns die filmische Struktur von Alain Resnais‘ Hiroshima, mon amour (1959) etwas von der traumatischen Wirkung vermittelt, die mit dem zweiten Weltkrieg bzw. dem Abwurf einer Atombombe verbunden ist. Mehr noch als über die (traumatisierte) weibliche Hauptfigur zeigt dieser Film uns dies vermittels seiner zerrissenen, desorientierenden Struktur. Der wirkungsanalytische Ansatz wird in methodisch geleiteter Filmpsycho- analyse heutzutage am häufigsten eingesetzt. Er lässt sich zudem am besten mit filmwissenschaftlichen Aspekten der Filmbetrachtung verbinden. Das lässt sich an einem weiteren Beispiel gut zeigen. Sebastian Schippers Film Victoria (2015) hat vor allen Dingen dadurch eine hohe Aufmerksamkeit erhalten, dass er ohne Schnitte auskommt. Es ist ein 140-minütiger Film, der quasi „in Echtzeit“ gespielt und gedreht wird. Die junge Spanierin Victoria tritt im nächtlichen Berlin auf vier junge Män- ner: Sonne, Boxer, Fuß und Blinker. Nach einiger Zeit stellt sich heraus, dass Boxer während eines zurückliegenden Gefängnisaufenthaltes einen Deal einge- gangen ist, in dem er nun seinen Teil ableisten muss: einen Bankraub. Da Fuß zu betrunken ist, fragen die anderen Victoria, ob sie sie begleitet, weil vier Perso- nen nachgefragt worden sind. Der Bankraub findet statt, mit Victoria als Fahrerin des Fluchtautos. Allerdings werden sie von der Polizei entdeckt und verfolgt, bei einer Schießerei werden Boxer und Blinker angeschossen, Sonne und Victoria fliehen in ein Hotel, aber es stellt sich heraus, dass auch Sonne eine Schussver- letzung erlitten hat, an der er schnell verstirbt. Victoria geht am Ende mit dem erbeuteten Geld in einer Plastiktüte die Straße hinunter. Der Film entwickelt eine besondere Wirkung. Das Fehlen von Schnitten führt dramaturgisch dazu, dass viel improvisiert werden muss: zum einen, weil zwis- chendurch nicht ins Dialog-Drehbuch gesehen werden kann, zum anderen, weil Zeit eben durch Unterhaltungen überbrückt werden muss (zum Beispiel während einer Autofahrt). Das Fehlen von filmischen Schnitten führt aber auch zu einer enormen Span- nungshaftigkeit: Die emotionale Intensität des Films wird nicht portioniert, wir erhalten quasi die komplette Ladung und sind viel näher dran an den Figuren und Geschehnissen als sonst. Wir sind die Kamera, ohne Distanz und Mod- erierung einer solchen Identifizierung, die sonst geschehen würde, wenn im Film ein Sprung entsteht, den es so ja nicht geben könnte, wenn wir am Geschehen direkt teilnehmen könnten. Die Wirkung von Victoria ist also weniger deshalb heftig, weil das Narrativ intensiv ist (einen Banküberfall und eine Verfolgungs- jagd – das gab es ja auch vorher schon) oder weil wir mit Victoria mitfiebern, die 2.3 Gängige methodische Vorgehensweisen 25 unerwartet in etwas hineingezogen wird. Sondern sie ist heftig, weil wir in Iden- tifizierung mit der Kamera mit dabei sind – die Distanzierungsmöglichkeit, die wir in anderen Filmen dadurch haben, dass es einen Szenenwechsel gibt, den wir nicht selbst durch die Veränderung der Blickrichtung oder eine andere Bewegung vollziehen, wird uns genommen. Ich komme nun im Weiteren zur Vorstellung spezifischer Ansätze, bei denen der wirkungsbezogene Ansatz im Zentrum steht. 2.3.2 Die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft: A. Lorenzer Die Streaming-Serie The Deuce (2017–2020; showrunners: David Simon & George Pelecanos) porträtiert die 42th Street in New York City zwischen 1971 und 1984 (vgl. a. Storck 2020b). Es geht um den Wandel von Sexualität als „Ware“ in Gestalt der Prostitution auf der Straße und in „Massage Salons“ sowie das Aufkommen des (legalisierten) Pornofilms. Zugleich geht es um den Wandel der Gegend rund um den Times Square im Hinblick auf das, was man einige Jahrzehnte später als Gentrifizierung bezeichnen wird. Anders gesagt: Es geht immer auch um (Handlungs-) Macht. Die Serie, erdacht u. a. von David Simon (schon für The Wire hochgelobt für eine filmische Form der Analyse mikrogesellschaftlicher Strukturen), erzählt anhand von mit großer Tiefe versehenen Charakteren eine Geschichte von Unausweichlichkeit: Immer wieder sehen wir Treppen, Aufgänge, Aufzüge und immer wieder verlassen Figuren New York City, aber alle kehren zurück, letztlich gelingt kein wirklicher Auf- oder Ausstieg: „They can never go home“, sagt eine der Nebenfiguren lapidar über die Versuche einzelner Zugezogener, NYC wieder zu verlassen. Der Wandel ist einer der Strukturen, nicht der Figuren. Wir sind als Zuschauer:innen weitgehend „drin“ im Mikrokosmos. Zwar ist leicht erkennbar, dass es z. B. um den Vietnamkrieg geht, um die (Il-) Legalität von Homosexu- alität, um HIV und anderes, aber wir sehen das aus der Perspektive der Figuren. Und aus dieser gibt es immer wieder auch Anflüge einer Logik von „die da oben“, mehr als ein Mal als „the money people“ bezeichnet, vor allem verkörpert in New York Citys Bürgermeister Ed Koch, der den Times Square „sauber“ halten will (um Immobilieninvestoren oder Touristen anzuziehen). In einer psychoanalytischen Interpretation lässt sich zeigen, inwiefern ein „die da oben“ ein vermeintlicher Ausweg sein kann, mit der Macht- oder Aussicht- slosigkeit umzugehen. Auch wenn es ohne Zweifel Machtdynamiken und auch 26 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … individuellen Machtmissbrauch gibt, fungiert die je individuell gefundene Erk- lärung, diese oder jene „money person“ steuere gesellschaftliche Entwicklungen, als eine Art von Verschleierung gesellschaftlicher Mechanismen. Der Psychoanalytiker und Soziologe Alfred Lorenzer (während der letzten Jahre wegen seiner erst sehr spät bekannt gewordenen NSDAP-Mitgliedschaft als junger Mann in Misskredit geraten) entwirft eine „materialistische Sozial- isationstheorie“ (Lorenzer 1972), in der er die Entwicklungspsychologie der Psychoanalyse in gesellschaftliche Verhältnisse einbettet. Er formuliert ferner die Methodologie der Psychoanalyse als szenisches Verstehen (1970), was es ihm auch ermöglicht, in einem Transfer der klinischen Methode der Psychoanalyse eine „tiefenhermeneutische Kulturanalyse“ zu formulieren (1986). In diesem Ansatz ist die Annahme entscheidend, dass Individuum und Gesellschaft in einem grundlegenden Spannungsverhältnis stehen. Im Einklang mit Freud kann man sagen, dass gesellschaftliche Verhältnisse notwendiger- weise zu einem individuellen Triebverzicht führen, zu Abwehr- bzw. Verdrän- gungsprozessen. Während diese bei Freud allerdings noch im Wesentlichen darüber begründet werden, dass die Sozialität des Menschen seiner Triebnatur zuwider läuft (egoistische Wünsche müssen manchmal den „Umweg“ über die Kollaboration nehmen, um verwirklicht werden zu können), sind sie bei Lorenzer deshalb unausweichlich, weil gesellschaftliche Verhältnisse Macht ausüben – gesellschaftlich wird zum Beispiel vorgegeben, was als tolerabel und was als verpönt gilt, welche Rolle und Funktion vom Individuum erwartet, diesem aufoktroyiert werden. Individuelle und gesellschaftliche Interessen sind in diesem Sinn nicht diesel- ben. Da Individuum und Gesellschaft qua individueller Sozialisation nun aber einander nie komplett gegenüberstehen können, gibt es ein nicht-identisches Moment in der Subjektivität, Entfremdung kann immer auch als Teil des Indi- viduums gedacht werden, ist nicht nur ein Merkmal seines Verhältnisses zur Gesellschaft. Kunstwerke, aber auch religiöse oder andere rituelle Praktiken zeigen etwas davon. Am Beispiel Film gesprochen: Er ist das Erzeugnis sozialisierter Personen, trägt also die Spuren von deren Nicht-Identität in sich, und ist selbst ein Kultur- produkt, das heißt eingebunden in widersprüchliche Strukturen von Freiheit und Repression. Daraus lässt sich mit Lorenzer folgern, dass Filme in ihrer Struktur, ihrer Mach-Art, den Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft in sich tragen. In ihrer Wirkung auf Rezipierende entfaltet sich etwas davon und zwar in Gestalt sogenannter „Irritationen“. Etwas an der filmischen Wirkung reißt uns aus 2.3 Gängige methodische Vorgehensweisen 27 der gleichschwebend aufmerksamen Betrachtung heraus, weil es besonders affek- tiv verdichtet, besonders unverständlich oder eben anderweitig irritierend ist. Dies ist jeweils ein Hinweis auf eine Differenz bzw. Nicht-Identität von manifester und latenter Bedeutung. In der von Lorenzer begründeten methodischen Vorgehensweise einer tiefen- hermeneutischen Kulturanalyse geht es dann darum, in einer Interpretations- gruppe Irritationen und probeweise Bedeutungen zu finden. Das Ergebnis eines solchen Vorgehens ist eine Einsicht in das, was gesellschaftlich-kulturell aus dem Kanon bewusster, anerkannter Bedeutungen ausgeschlossen bleiben muss. Daher kann das Vorgehen als Praxis der Kulturkritik angesehen werden. 2.3.3 Film und Ideologiekritik: S. Žižek, W. M. Schmitt Der Psychoanalytiker und Philosoph Slavoj Žižek geht in seiner Betrachtung von Politik, Gesellschaft und Kultur von einer Verwendung der Hegel‘schen Philoso- phie und der strukturalen Psychoanalyse Lacans aus. Bei ihm ist eine bestimmte Konzeption von Ideologie zentral, in welcher angenommen wird, dass Ideolo- gien (hier am ehesten zu verstehen als: (verdeckte) Überzeugungen und Werte auf einer überindividuellen Ebene) nur dann produziert werden können, wenn es zugleich auch einen Rest, ein Nicht-Identisches darin gibt, durch das sie gestützt und getragen werden und deren Wirkung sie aber selbst verschleiern. Im Film The pervert’s guide to ideology aus dem Jahr 2012 erläutert Žižek sein Verständnis von Ideologie am Beispiel des Films Sie leben (1988; Regie: John Carpenter). Darin findet der Protagonist John einen Karton mit Brillen, die, wenn man sie trägt, es erlauben, „hinter die Fassade“ zu blicken, d. h. zu erkennen, welche Menschen Außerirdische sind und v. a. auch die ver- stecken Botschaften in Werbetafeln oder Illustrierten zu erkennen (nämlich z. B. „Gehorche“, „Schlaf weiter“, „Denk nicht nach“). Das ist auf einer ersten Ebene ein Bild für das Wirken von Ideologie: Es gibt einen Subtext, eine unterschwellige Wirkung, die uns manipuliert, uns bestimmte Einigungen aufnötigt, die wir nicht erkennen, während sie auf uns wirken und wir uns auf sie einlassen. Sie leben thematisiert also Ideologie und Ideologiekritik (am Beispiel des Widerstands gegen eine Alien-Invasion). Eine ideologiekritische Betrachtung des Films müsste nun darüber aber natürlich hinausgehen, denn im Film ist das Thema der Manipulation durch unterschwellige Botschaften ja Teil des mani- festen Narrativs. Welches versteckte Einigungsangebot macht Sie leben denn 28 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … seinerseits? Was wird verschleiert? Möglicherweise die Lust an der Unterwer- fung, die Sehnsucht nach einfachen Botschaften und einem Sich-Überlassen? In Žižeks Sicht: Wir lieben unsere Ideologien, insbesondere die unerkannten. Für Žižek bedeutet ideologiekritische Filmbetrachtung, „das anfänglich Ver- traute des Gegenstands zu verfremden“ (1992, S. 12). Damit ist gemeint, dass ein Film daraufhin befragt wird, was er „produziert“. Žižek greift dabei auf Konzepte Lacans zurück, insbesondere das Sinthom oder den Stepppunkt/Polsterstich. Beide Konzepte setzen sich damit auseinander, wann etwas eingefügt wird, um eine Struktur zu halten (ein Sinthom ist die Bezeichnung für eine Struktur, welche die falsch miteinander verknüpften borromäischen Ringe stützt, mithilfe derer Lacan sich Subjektivität vorstellt) bzw. eine Begrenzung (des Gleitens des Signifikanten) einzuführen. Filmpsychoanalytisch bedeutet das, diejenigen Momente bzw. Elemente eines Films besonders zu beachten, in den etwas zusammenläuft oder sich wieder- holt. Žižek spricht mit Lacan davon, dass hier etwas „vernäht“ ist. Das können wiederkehrende Motive eines Regisseurs sein (bei Lacan oft am Beispiel von Hitchcock demonstriert), aber auch wiederkehrende Motive innerhalb eines Films. Žižek (1992b, S. 124) spricht davon, dass es darum gehe, „einen bestimmten Kern des Genießens [zu fixieren]“. Žižeks Anliegen, das Vertraute zu verfremden, zeigt sich etwa in seiner Inter- pretation einer der zentralen Szenen in Blue Velvet (1986; Regie: David Lynch). Der Protagonist Jeffrey muss sich in einem Schrank verstecken und sieht dann mit an, wie Frank gegenüber Dorothy verbal ausfällig wird und sie verge- waltigt. Dabei atmet Frank durch einen Inhalator etwas ein und pendelt zwischen Gewalt und kleinkindhaft wirkendem Verhalten. Manifest ist Jeffrey verängstigt und abgestoßen. Irritierend ist, dass Frank sich in der sexualisierten Interaktion mit Dorothy als Kleinkind inszeniert und so spricht. Žižeks Interpretation ist die einer beobachteten Urszene im Freud’schen Sinn, aber mit vermischten identifikatorischen Positionen: Jeffrey beobachtet den elter- lichen Koitus, ist davon erregt, aber auch verwirrt: Ist es ein Gewaltakt oder ein lustvoller Akt, dem er beiwohnt? Franks kindliche Sprache markiert Jeffreys Identifizierung mit ihm – sich als Kind der Mutter zu nähern ist verwoben damit, sich als Mann der Mutter/einer Frau zu nähern. Es ist also eine radikal subjek- tiv inszenierte Beobachtung: Jeffrey erlebt die Szene als einen Gewaltakt (wie in einer kindlichen Lesart des körperlichen Geschehens in sexuellen Akt), zugleich mischt sich seine Identifizierung in das hinein, wie er Frank als handelnde Person erlebt (als gewaltvoll handelnder Mann). Ein weiteres Beispiel ist Žižeks These zu Titanic (1997; Regie: James Cameron), dass hier der Eisberg der eigentliche „Held“ des Films ist. Der Eisberg 2.3 Gängige methodische Vorgehensweisen 29 macht die Liebesgeschichte zwischen Jack und Rose zu einer ewigen – und unam- bivalenten. Žižek weist daraufhin, dass die Kollision der Titanic mit dem Eisberg unmittelbar dann erfolgt, nachdem Jack und Rose miteinander geschlafen haben und nun Pläne schmieden, im Anschluss an die Ankunft in New York zusam- men von Bord zu gehen und ein gemeinsames Leben zu führen. Der Eisberg verhindert das – und, so Žižeks These, „bewahrt“ Jack und Rose davor, dass ihre Liebe in den Alltag übergeht, samt Konflikten, Streit oder unsicherer finanzieller Zukunft. Die Romanze wird so verewigt und nur so kann Rose davon zehren und im hohen Alter darauf zurückblicken. Der Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt widmet sich in einem Podcast und Youtube-Kanal ebenfalls der Betrachtung von Filmen unter einer ideologiekritis- chen Perspektive (vgl. a. Schmitt 2023). Ideologiekritik am und mit einem Film bedeutet im Wesentlichen die (psy- choanalytische) Entbergung dessen, was ein Film uns „nebenbei“ glauben lassen möchte. Gemeint sind damit vorausgesetzte oder den Film, seine Handlung und Inszenierung tragende Elemente – zum Beispiel die Figur, dass das Happy End eines Disney-Prinzessinnen-Films mit einer (heterosexuellen) Heirat zu enden hat. Das tut es natürlich längst nicht mehr, war aber lange Zeit ein leitendes Moment. Heute liegt das Ergebnis einer Ideologiekritik von Mainstream-Filmen womöglich eher im unhinterfragt oder unproblematisiert vorausgesetzten Liberalismus: Die (mitgeführte) Botschaft des Films ist dann doch allzu oft die, dass die Freiheit, seine individuellen Möglichkeiten ergreifen zu können, das Happy End ist. Das ist der Zustand, der erreicht oder wieder hergestellt werden soll. Aus diesem Grund eignen sich gerade sogenannte Mainstreamfilme für eine ideologiekritis- che Betrachtung, denn gerade in diesen können die vermeintlichen Lösungen für gesellschaftliche Widersprüche, Spannungszustände oder deren auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen gefunden werden. Ideologiekritik im Film bedeutet also, etwas darüber zu sage, welche unaus- gesprochene Einigung der Film uns auferlegt: Woran sollen wir „glauben“, wenn wir uns auf den Film einlassen? Es geht um die Auseinandersetzung damit, was in einem Film, so „nebenbei“, mittransportiert wird, was also als „Nebenbotschaft“ im Narrativ mit „durchrutscht“. Beispielsweise kann sich das darin zeigen, was als Happy End präsentiert wird: Ist es die Wiederherstellung einer etablierten Struktur? Eine Heirat der Protagonisten oder eine Versöhnung? Der Tod von Störenfrieden? Deshalb ist für diese Art von Filmkritik gerade der „Mainstream“ interes- sant. Dann kann man darüber nachdenken, wie militaristisch ein Kinderfilm wie Planes (2013; Regie: Klay Hall) daherkommt, wie unverhohlen es eigentlich ein Werbefilm für das (US-) Militär wird, indem die Geschichte einer wehrhaften 30 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … und aufrechten Flieger-Ausbildung erzählt wird. Oder es lässt sich fragen, mit Schmitt, ob Barbie (2023; Regie: Greta Gerwig) es nicht verpasst, den ganzen Schritt einer Kritik der Geschlechterverhältnisse zu gehen, wenn am Ende des Films doch wieder nurmehr die neoliberale Botschaft gesendet wird: „Sei ein mutiges Mädchen, das an sich glaubt, dann kannst du alles erreichen und die Welt gestalten.“ Denn: Am individuellen Mut des Mädchens bzw. der Frau hat es doch nie (oder selten) gehapert! – sondern an den strukturellen Möglichkeiten, das Gleiche tun und wollen zu können wie der Junge bzw. der Mann. 2.3.4 Weitere filmpsychoanalytische Methoden: T. McGowan, M. Zeul, G. Schneider, R. Zwiebel, A. Hamburger, H. König Ein weiterer prominenter Vertreter zeitgenössischer psychoanalytischer Filmkritik unter dem Einfluss Lacans ist Todd McGowan. Er versteht Filme als Ausdruck unseres unbewussten Begehrens – Filme „lure and arouse“ dieses Begehren: „One interprets the formal structure to show how the films speaks to the desire of the spectator and what the film reveals about this desire“ (2015, S. 11). Anders als in einer am Lacan’schen Imaginären orientierte Filmkritik (in der spiegelnde Blick-Beziehungen zentral sind), stellt McGowan das Reale ins Zentrum. Filme erwecken unser unbewusstes Begehren, weil wir nicht alles sehen. Für ihn ist die „[f]ilm’s ability to facilitate an encounter with the real“ (2007, S. 17) zentral. Es ist also weniger das Angebot von Identifizierungspositionen das Entschei- dende, sondern das Verschleiern des Realen bei gleichzeitigem Hinweis darauf, dass es da etwas gibt, was verschleiert wird – und das wir sehen wollen. Im Englischen ist die Übersetzung „screen memory“ (Deckerinnerung) hier sehr hilfreich. Auf der Leinwand (screen) wird uns etwas präsentiert, das dazu da ist, etwas anderes zu überdecken (to screen). Es zeigt und verbirgt zugleich. Das ist es, was uns an Filme fesselt. MacGowan vergleicht Film und Traum. Nun kann zwischen beiden der Unterschied gerade darin gesehen werden, dass – im Freud’schen Sinn – der Traum eine Wunscherfüllung ist, der Film hingegen eine Begehrensproduktion. Aber er kann ähnlich wie der Traum dekonstruiert werden, indem man diejenigen Mechanismen „rückgängig“ macht bzw. offenlegt, die ihn zu dem haben werden lassen, als der er uns erscheint. Mechthild Zeul (2007) stellt in ihrem Ansatz das regressionsfördernde Setting Kino in den Mittelpunkt. Noch stärker als in anderen filmpsychoanalytischen Ansätzen spielt hier also die Räumlichkeit, in der ein Film rezipiert wird, eine 2.3 Gängige methodische Vorgehensweisen 31 Rolle – die Dunkelheit, die große Leinwand, die Polstersessel, die soziale Situa- tion. Dabei ist auch für sie die Analogie zum Traum zentral – die Leinwand stellt eine ähnliche Art der Bebilderung zur Verfügung wie es die Traumleinwand tut. Was im Ansatz Lorenzers die „Irritationen“ sind, begreift Zeul in Antwort auf das Konzept der „now moments“ (Stern 2004), plötzliche Reaktionen auf das Filmmaterial, die als Momente der Begegnung weitergeführt werden können (also eine Art des – unter Umständen spannungsreichen – Einschwingens in einem emotionalen Kontakt). Die Beachtung dieser (regressiv bestimmen) Reaktionen versteht Zeul als etwas, das eine Selbstanalyse in Gang setzt, welche die (dann auch methodische) Grundlage für eine Filminterpretation bietet. Gerhard Schneider (2008) begreift in seinem Ansatz den Film als Quasi- Person und begreift entgegen manchen anderen Kennzeichnungen, welche der Metapher folgen, Filme würden psychoanalytisch „auf die Couch“ gelegt, den Regisseur als (Visuo-) Psychoanalytiker. Sein Werk, der Film als kulturelles Symptom, sei es, der zum einen ins Bewusstsein gehoben werde. Ferner kann zum anderen aber auch davon die Rede sein, dass der Film die Betrachten- den insofern analysiert, als deren unbewusste Struktur qua Rezeption zugänglich werde. Ralf Zwiebel (2014) geht für die Filmpsychoanalyse vom klinischen Vorgehen aus. Für dieses setzt sich ein psychoanalytisches Arbeitsmodell aus biperson- alen, bipolaren und bifokalen Elementen zusammen. Das bedeutet, dass erstens um das Beziehungshafte und das Angebot einer Beziehung geht (bipersonal), dass der Analytiker oder die Analytikerin zweitens zwischen einem persönlichen und einem technischen Pol oszilliere und dass drittens sowohl eine „Nachsicht“ (des eigenen Involviertseins) als auch eine „Fernsicht“ (einer Betrachtung der Beziehung „von außen“) eine Rolle spielt. Das transferiert Zwiebel auf die Filmpsychoanalyse: Es geht um einen Dialog mit dem Film und den Filmschaf- fenden (inklusive des eigenen Dialogs mit der eigenen Theorie), weiter um ein sowohl persönliches als auch „technisches“, d. h. methodisch geschultes Sich- Einlassen, und schließlich um die Wechselbeziehung zwischen einer immersiven und einer betrachtenden Sicht. Methodisch ist dabei wichtig, dass eine psychoan- alytische „Sensibilität für Brüche“ (2014, S. 17) wichtig ist, was ebenso wie die kontinuierliche Selbstbeobachtung die filmpsychoanalytische Deutung vor der Beliebigkeit oder „Wildheit“ schützt. Mahler-Bungers und Zwiebel (2007) arbeiten dabei auch den Dreischritt aus Einstellung (Wie wird etwas filmisch gezeigt?), Darstellung (Was wird filmisch gezeigt) und Vorstellung (die Kino- Situation und die je eigenen Projektionen und Vorstellungen angesichts des Films) heraus. Zwiebel (2019) versteht den Film und die Filmerfahrung als Ermöglichung, „ungeträumte“ Träume weiterzuträumen. Damit ist im Anschluss 32 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … an Bion gemeint, dass die „Beschäftigung mit Filmen ein Medium für die Fortset- zung der unendlichen Selbstanalyse“ sei (2019, S. 131). Das Kino sowie (ideell) der Film sind ein „simulierte[r] Ort der emotionalen Turbulenz“ (a. a. O., S. 132), ermöglichen also die Auseinandersetzung mit etwas, das seitens der Filmschaf- fenden als Bebilderung des bisher Unzugänglichen im Rahmen eines scheren Orts möglich gemacht wird: ein „mentale[r] Verdauungsprozess“ (a. a. O., S. 144). Andreas Hamburger (2018) spricht sich ebenfalls für eine „reflexive, rela- tionale Filmpsychoanalyse“ aus. In seinem umfassend angelegten methodischen Entwurf lehnt er sich an das von Lorenzer beschriebene szenische Verstehen an, indem er meint: „Letztlich ist nur die Bewegung im Zuschauer das selbstan- alytisch zugängliche Material, von dem aus eine Psychoanalyse des Films als Kunstwerk begründet möglich ist.“ (a. a. O., S. 65). Darin gehe es um ein Oszil- lieren „zwischen Reflexion und Teilhabe“, die persönliche Eindrücke entstehen lässt, diese aber auch dem Material prüfend rückvermittelt. Hamburger spricht sich zudem deutlich gegen eine Figurenpsychoanalyse aus, denn, so sein Hinweis, einzelne Bestandteile eines Films sind so gemacht, in Einstellungen montiert und dienen innerhalb des Gesamtkunstwerks einem Zweck. Auch sei die Methode zu transferieren, nicht die Theorie, schon gar nicht die klinische. Und schließlich verändere sich durch die filmpsychoanalytische Betrachtung der Zuschauer, nicht der Film. Als Schritte der Filmanalyse in seinem Verständnis benennt Hamburger (vorrangig für das Arbeiten in einer Gruppe): 1. Auswahl eines Films (bzw. von diesem ausgewählt zu werden!) 2. Sichtungen 3. Wiederholte selbstanalytische Arbeit mit dem Film (als ein Gruppenprozess) 4. Durcharbeiten (auch der divergierenden Lesarten) 5. Arbeit mit dem Publikum, d. h. eine Veröffentlichung Hannes König (2022) greift auf Freuds Kennzeichnung der Psychoanalyse als eine Theorie des Psychischen, eine Erkenntnismethode und ein Behandlungsver- fahren zurück, die er um die Funktion einer Gesellschafts- bzw. Ideologiekritik ergänzt. Alle vier Perspektiven könnten auch jeweils das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Film betreffen: 1. Psychoanalytische Theorie kann helfen einen Film zu verstehen, wie auch der Film dabei helfen kann, psychoanalytische Theorie zu verstehen (man denke beispielsweise an Wo die wilden Kerle wohnen [2009; Regie: Spike Jonze] der sich als ein Zugangsweg zu Melanie Kleins und Susan Isaacs Konzept der unbewussten Phantasie eignet); 2.3 Gängige methodische Vorgehensweisen 33 2. Ein psychoanalytischer Zugang zum Film kann über die szenischen Verwick- lungen, die sich einstellen, erfolgen und zu Erkenntnissen/Interpretationen führen; 3. Filme können eine quasi-therapeutische Wirkung haben und/oder als Thema in Therapien eingebracht werden, von beiden Beteiligten; 4. Filme thematisieren Gesellschaftliches und sind selbst etwas Gesellschaftliches – die Auseinandersetzung mit ihnen kann uns etwas über die Zeiten sagen, in denen wir leben und wodurch sie bestimmt sind. In allen vier Perspektiven, die König beschreibt, bleibt die emotionale Begegnung mit einem Film und dessen Wirkung auf uns der entscheidende Ankerpunkt einer psychoanalytischen Interpretation. 2.3.5 Die Brücke zur Filmwissenschaft: D. Blothner, M. Stiglegger Dirk Blothner (1999) vertritt den Ansatz einer morphologischen Wirkungsanalyse (im Anschluss an Wilhelm Salber). Er definiert dazu: „Morphologische Psycholo- gie erklärt Filmwirkung nicht von der sichtbaren Geschichte her, sondern sieht sie als einen psychischen Prozess von Gestaltung und Umgestaltung, der sich zwischen Zuschauer und Leinwand ereignet.“ (a. a. O., S. 17). Es gibt dabei „Auffächerung, Differenzierung und Zentrierung, […] Wendungen, Zuspitzun- gen und mitreißende[.] Drehungen“ (a. a. O., S. 17 f.). Filme seien anziehend, weil in diesem Medium „bedeutsame Verwandlungen zu aktuellen Ereignissen“ werden können (a. a. O., S. 18.). Diesen Verwandlungserlebnissen werde in einer morphologischen Filmanalyse nachgespürt. Vor dem Hintergrund in einer beschreibend-rekonstruierenden Zugangsweise werde „die unbewußte Konstruk- tion des mit ihm [dem Film; TS] gegebenen Wirkungsprozesses“ in den Blick genommen (a. a. O.). So eröffnen sich Einblicke in die „Verwandlungen, die die Zuschauer auf ihrem Stuhl erleben“ (a. a. O.). In einem Vorgehen folgt er der Reihenfolge: Schriftliches Festhalten der spontanen Eindrücke, Anfertigung eines Sequenzprotokolls, Formulierung einer Fragestellung, Rekonstruktion einer filmischen „Figuration“, also einer These zum Film (Blothner 2014). Marcus Stiglegger (2023) untersucht in seiner Seduktionstheorie die Frage danach, was der Film in uns erweckt, unter einer anderen Perspektive. Aber auch er geht davon aus, dass der Film etwas produziert bzw. dass zwischen Film und Betrachter ein Raum der Verführung/Seduktion entsteht. 34 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … Grundlegend versteht er die Seduktion durch einen Film auf drei Ebenen: Der Film verführt uns zum Sehen; der Film verführt uns dazu, bestimmte Botschaften anzunehmen (z. B. im Propagandafilm, aber natürlich auch in subtilerer Weise); und der Film verführt „zu einem verdeckten Ziel“, er hat „spezifische Begehrensstrukturen […], die Schlüsse auf ideologische Subtexte zulassen“ (a. a. O., S. 4). Verführen kann der Film dabei auf der Ebene der Performanz, der Narration oder einer ethischen Ebene. Besondere Momente in der Rezeption eines Films sind solche der Verstörung; dann nämlich, wenn der Film sich nicht einfach „anschauen“ lässt, sondern „die Erfüllung des Begehrens […] inszenatorisch verweigert“ oder „einen Blick auf den Betrachter zurückwirft“ (a. a. O., S. 8). Im ersten Fall zeigt der Film uns, dass er uns etwas vorenthält bzw. vor uns verbirgt. Im zweiten Fall zeigt der Film, dass wir auch angeschaut, durchleuchtet werden. Für Stigleggers seduktionstheoretischen Ansatz ist nun gerade diese „Lücke zwischen Film und Betrachter“ entscheidend, denn dort „spielt sich jener kom- plexe Prozess ab, den wir […] als Seduktion begreifen“ (a. a. O., S. 9; Hervorh. aufgeh. TS). Der Film verführt uns dazu, angesichts seiner Struktur etwas von unseren Begehren zu spüren oder gar erweckt zu bekommen. Eine entsprechende Betrachtung des Films und seiner Rezeption legt also auch hier Begehrensstrukturen frei. 2.3.6 Weitere Aspekte einer filmpsychoanalytischen Betrachtung Einige weitere Hinweise, wenn auch nicht unbedingt aus einem dezidiert ausfor- mulierten methodischen filmpsychoanalytischen Programm (sondern aus allge- meineren Überlegungen zur kunstästhetischen Erfahrung) können herangezogen werden. Reiche (2001) unterstreicht, dass man in der Psychoanalyse der ästhetischen Erfahrung nicht von Gegenübertragungen sprechen sollte (vgl. a. Zwiebel und Mahler-Bungers 2007), ferner, dass eine Analyse des ästhetischen Mediums nicht übergangen werden darf. Danckwardt (2017) betont die Bedeutung von Prozessidentifizierungen und Prozessprojektionen für eine Konzeption ästhetischer Erfahrung allgemein sowie damit auch in der Rezeption von Filmen. Was in der Wirkung von Kunst auf uns geschieht, ist aus seiner Sicht nicht einfach der Umgang mit unterschiedlichen Identifizierungsangeboten (im Sinne personaler oder statischer Identifizierungen 2.4 Weitere methodische Probleme und Lösungen 35 mit Eigenschaften), sondern es geht um Identifizierungen mit Prozessen. Ein- facher gesagt: Uns wird in einem Film eben nicht das Angebot gemacht, uns mit einer Figur oder einem abstrakten Element eines Films zu identifizieren, sondern mit Beziehungen, Verhältnissen oder Prozessen. Ein Beispiel dafür kann sein, uns mit dem Verhältnis von Farbe und Leinwand in einem Gemälde zu identifizieren, oder eben, wenn wir einen Film betrachten, mit dem Verhältnis einer Figur zu anderen Figuren oder zu filmischen Elementen des Films, etwa dem Schnitt. Oben habe ich bereits Hiroshima, mon amour angeführt: Eine Prozessidentifizierung könnte beispielsweise in der Teilhabe damit gesehen werden, wie die weibliche Hauptfigur zu den Einstellungen und Schnitten des Films in Beziehung steht (nämlich desorientiert, zerrissen). Soldt (2009) begreift ästhetische Erfahrungen über eine Konzeption von Bild- beziehungen. In seinem Ansatz ist entscheidend, dass eine Subjektivierung des Kunstwerks als Gegenüber geschieht. Es erhält in unserer ästhetischen Rezep- tion ein Eigenleben und kann fantasiert werden als ein absichtsvoll agierendes Gegenüber, das etwas mit uns anstellt. 2.4 Weitere methodische Probleme und Lösungen Neben den drei bereits erwähnten eher größeren und allgemeinen methodischen Fragen (in Bezug auf Übertragung, Gegenübertragung und Deutung) ergeben sich einige weitere, auf die ich in diesem Kapitel genauer eingehe. 2.4.1 Wissen um „Kontexte“ Zunächst kann problematisiert werden, wie nun in einer psychoanalytischen Vorgehensweise mit dem umgegangen werden sollte, was jenseits des Films in engeren Sinn bekannt ist. Der Anspruch, insofern gleichschwebend aufmerksam an einen Film heranzutreten, kann ja in den seltensten Fällen wirklich eingelöst werden: Wir werden etwas über den Film und seine Rezeption wissen bzw. uns Bilder davon machen, bevor wir im Kino (oder anderswo) Platz nehmen. David Lynchs Film The Straight Story (1999) handelt davon, dass der 73jährige Alvin Straight sich auf seinen Aufsitz-Rasenmäher setzt, um knapp 400 km weit zu seinem kranken Bruder zu fahren, mit dem er zerstritten ist. In langsamer Erzählung und in weiten Landschaftsbildern erzählt der Film vom Weg, den Alvin zurücklegt. Am Ende kommt er an. 36 2 Die Methode der Psychoanalyse und ihr Transfer … Der Film bricht auf ungewöhnliche Weise mit Erwartungen und zwar mit solchen, die mit David Lynch als Regisseur zu tun haben, der zuvor mit Twin Peaks (1990–91; 1992) oder Lost Highway (1997) ungleich rätselhafter und obskurer erzählt hatte und auch mit Blue Velvet (1986) oder Wild at Heart (1989) deutlich mehr Gewalt inszeniert hatte. Dass er diesen Film nun The Straight Story nennt, bezeichnet nicht nur den Weg, den Alvin zurücklegt oder dessen Namen, sondern selbstreferentiell auch die Art des filmischen Erzäh- lens: Alvin fährt los, am Ende kommt er an. Ein Weg von A nach B. Die Wirkung des Films, eine eher geruhsame Erzählung über Verbundenheit und Versöhnung, kann nicht davon getrennt werden, was man über Lynch und seine Filme vorher weiß (vgl. a. Storck 2019b). Einen Film von David Lynch etwa sehen wir nicht unvoreingenommen, jen- seits unseres Wissens über andere Filme des Regisseurs und unserer Erwartung an einen weiteren, oder jenseits der Rezeption dieser Person oder ihres Auftretens. Dasselbe gilt natürlich für Schauspieler:innen ebenso wie für die Filmkritik oder sonstige mediale Rezeption eines Films. Solche „Hintergrundinformationen“ können natürlich auch den Kontext eines Films und seines Erscheinens betreffen oder den Bezug auf reale Ereignisse und Personen. Wir können Oppenheimer (2023; Regie: Christopher Nolan) nicht ansehen, ohne zu wissen, dass es diese Person gab und dass sein Wirken dazu beigetragen hat, dass Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki fielen. Die methodische Lösung für den Umgang mit unterschiedlichen Arten von Kontext (Regisseur:innen-Biografie, vorangegangenes Werk [auch der Schaus- pieler:innen], Erscheinungskontext, Bezug zu realen Ereignissen, öffentliche Wahrnehmung des Films oder der an ihm Beteiligten, Filmkritik u. a.) kann darin bestehen, die Informationen, die über den Film als für sich stehendes Kunstwerk hinausgehenden Aspekte als eigene Assoziationen zu begreifen (statt als objektive Informationen, die Teil des Werks wären). Das ruht zum einen auf der methodischen Forderung, für einen filmpsychoanalytischen Zugang nicht aktiv Hintergrundinformationen zu recherchieren (jeden

Use Quizgecko on...
Browser
Browser