V_BMZ_WS2024-10-15 EthikTheorieBio_Potthast PDF
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Eberhard Karls Universität Tübingen
Thomas Potthast
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This PDF document is lecture notes on bioethics, theory and history of Biosciences for the Winter Semester of 2024/25 at University Tübingen. It contains information on topics like the scientific method, biological systems, and ethical considerations.
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Biomoleküle und Zelle (BMZ) Fachbereich Biologie, MNF Wintersemester 2024/25 Modul Bio101: Biomoleküle und Zelle Ilias-Portal (BMZ) Password: BdHZmW24 https://ovidius.uni-tuebingen.de/ilias3/goto.php?target=crs_4777311&clie...
Biomoleküle und Zelle (BMZ) Fachbereich Biologie, MNF Wintersemester 2024/25 Modul Bio101: Biomoleküle und Zelle Ilias-Portal (BMZ) Password: BdHZmW24 https://ovidius.uni-tuebingen.de/ilias3/goto.php?target=crs_4777311&client_id=pr02 1 Vorlesung Bio101: Biomoleküle und Zelle (BMZ) Einführende Grundlagen der Ethik, Theorie und Geschichte der Biowissenschaften Thomas Potthast [email protected] Lehrstuhl für Ethik, Theorie und Geschichte der Biowissenschaften FB Biologie, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät und: Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) [email protected], T. 07071-29 75251 VL am 15.10.2024 Ziele der heutigen Vorlesung Einblick in wissenschaftstheoretische Grundlagen der Biologie Warum Ethik, speziell Ethik in den Biowissenschaften? Verantwortung und Forschungsethik Übersicht über wichtige Themenfelder der Ethik, Theorie und Geschichte der Biowissenschaften 3| © 2024 Thomas Potthast Agenda 15.10.2024 1. Biologie und „Leben“ 2. Biologie als Naturwissenschaft: Wissenschaftstheoretische Grundlagen 3. Warum Ethik? 4. Bioethik / Ethik in den Biowissenschaften 5. Biophilosophie 6. Forschungsprogramm Ethik, Theorie und Geschichte der Biowissenschaften 7. Verantwortung 8. Ausblick auf die nächsten Vorlesungsstunden 4| © 2024 Thomas Potthast 1. Biologie und „Leben“ Biologie: Wissenschaft vom Leben Umschreibung von Leben (nach Campbell, Kap. 1): „das Phänomen…entzieht sich…einer einfachen Definition“ Wir erkennen das Leben an dem, was Lebewesen tun https://uni.de/redaktion/mensch-vs-maschine ⇒ Wir ‚wissen‘ lebensweltlich schon, was ein Lebewesen ist, bevor wir anfangen das Leben wissenschaftlich zu untersuchen ⇒ Vor-wissenschaftliche Annahmen (Axiome) als Grundlage der Wissenschaft keine ein-eindeutige Definition möglich x ist Leben (ein Lebewesen), genau dann – und nur dann – wenn Aber Achtung: nicht ein-eindeutig bedeutet nicht völlig beliebig! 5 1. Biologie und „Leben“ Biologie: Wissenschaft vom Leben Eigenschaften belebter Systeme: 1. Ordnung – strukturierter Aufbau und bestimmte Stoffkombination im Zellinnern 2. Energieumwandlung – z.B. Licht, Nahrung, Wärmeabgabe 3. Regulation und Stoffwechsel – z.B. CO2-Fixierung/O2-Abgabe bei Photosynthese 4. Reaktion auf die Umwelt – Rezeptoren, Sinneswahrnehmungen 5. Wachstum und Entwicklung – z.B. Zellvergrößerung, Zellvermehrung 6. Fortpflanzung – Zellteilung 7. Evolutive Anpassung und Veränderung – Variation & Selektion 6 1. Biologie und „Leben“ Biologie: Wissenschaft vom Leben Eigenschaften belebter Systeme: 1. Ordnung – strukturierter Aufbau und bestimmte Stoffkombination im Zellinnern 2. Energieumwandlung – z.B. Licht, Nahrung, Wärmeabgabe 3. Regulation und Stoffwechsel – z.B. CO2-Fixierung/O2-Abgabe bei Photosynthese 4. Reaktion auf die Umwelt – Rezeptoren, Sinneswahrnehmungen 5. Wachstum und Entwicklung – z.B. Zellvergrößerung, Zellvermehrung 6. Fortpflanzung – Zellteilung 7. Evolutive Anpassung und Veränderung – Variation & Selektion Alle uns bekannten Lebewesen bestehen aus Zellen und haben DNA/RNA: ⇒ Ist der Aufbau aus Zellen und DNA/RNA zur Vererbung a) eine notwendige b) eine hinreichende Bedingung für Leben? ⇒ Bitte diskutieren Sie 2 min mit Ihrer Nachbarin/Ihrem Nachbarn 7 2. Biologie als Naturwissenschaft 2.1 Biologie als empirische (Natur-)Wissenschaft basiert auf Beobachtung auf experimenteller Erfassung Daten können quantitativ (Messwerte) oder qualitativ (Beschreibungen) sein 8 2.2 Was ist Erkenntnis? Zentrale Frage: Wie gelangen wir zu Wissen bzw. Erkenntnissen über uns Menschen und die Welt? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit etwas als Erkenntnis gelten kann? Zwei mögliche Quellen der Erkenntnis (abendländische Philosophie-Tradition): Erkenntnis aus Erfahrung (Empirismus) Erkenntnis aus dem Verstand (Rationalismus) => heute oftmals Mischformen, v.a. seit Immanuel Kant („Kategorien der Erfahrung“, vgl. Kritik der reinen Vernunft) Wichtig, meist i. Ggs. zu ‚wissenschaftlichen‘ Weltanschauungen: Erkenntnis muss nicht rein „wissenschaftlich“ sein: individuelle, spirituelle, traditionelle, nicht-westliche Erkenntnis- und damit Wissensformen! 9| © 2024 Thomas Potthast 2.3 Charakteristika von Wissenschaft Idealtypische Ansprüche der Wissenschaft Objektivitäts- oder Intersubjektivitätsanspruch: Orientierung am Ideal objektiver Gültigkeit (für alle, überall) oder zumindest intersubjektiver Nachprüfbarkeit (personenunabhängig). Wissenschaft unterscheidet sich daher von bloßen subjektiven Meinungen, von Dogmen und Ideologien Revidierbarkeitsanspruch/Fallibilität: wissenschaftliches Wissen ist notwendig fallibel, es muss stets revidierbar, korrigierbar bleiben; es gibt keine ewig gültigen Wahrheiten! Erklärungs- und Verstehensanspruch: Wissenschaft ist mit einem Erklärungsanspruch verbunden: Warum ist etwas so? Darüber hinaus sollen die vielfältigen Phänomene der Natur und der kulturellen Lebenswelt als Ganze in ihrem sinnstiftenden Zusammenhang auch verstehbar werden 10 | © 2024 Thomas Potthast 2.4 Kriterien von Wissenschaftlichkeit Kriterien im Rahmen von Systematizität und methodischer Kontrollierbarkeit: (möglichst weitgehende) logische Widerspruchsfreiheit und Zirkelfreiheit Korrekte Anwendung wissenschaftlicher Methoden des Schließens (Deduktion, Induktion, Abduktion, statistisches Schließen etc.) Reliabilität (Verlässlichkeit der Aussagen) Validität (Güte der Prüfung bzw. Prüfbarkeit der Daten) Kohärenz mit bestehenden wissenschaftlichen Theorien Theoretische Fruchtbarkeit Genauigkeit und Einfachheit Prognostische Relevanz technische Herstellbarkeit und/oder gesellschaftliche Gestaltbarkeit 11 | © 2024 Thomas Potthast 2.5 Das Abgrenzungsproblem Es gibt keine ein-eindeutige Definition von Wissenschaft und keine absolute Trennung von Wissenschaft und Nichtwissenschaft. Achtung: dieses Problem besteht oft nur in einem schmalen Gebiet; die meisten Fälle sind eben doch ziemlich eindeutig! Historischer Wandel von Auffassungen zu Wissenschaft(lichkeit) allgemein oder konkreten Teilfragen, z.B.: was ist ein valides Ergebnis? Unterschiedliche Standards von Wissenschaftlichkeit in unterschiedlichen Disziplinen Meist sind nicht alle Kriterien gleichzeitig vollständig erfüllbar Geltung von Erfahrungswissen oft strittig 12 | © 2024 Thomas Potthast 2.6 Wissenschaftliche Vorgehensweise Hypothese = wohlbegründete Annahme - stützt sich auf Vorkenntnisse - erlaubt Vorhersagen, - die sich überprüfen lassen Grundidee von Karl Popper: - Hypothetico-Deduktivismus und - Falsifikationismus Ich entwickle aus meinem Wissen Hypothesen, die ich dann empirisch prüfe Ich kann nie etwas definitiv beweisen, aber Hypothesen meist gut widerlegen (falsifizieren) 13 2.4 Naturwissenschaftliche Vorgehensweise als komplexer Prozess 14 3. Warum Ethik? 3.1 Gute Wissenschaft: Verpflichtungen für alle Wissenschaftler*innen http://www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/reden_stellu ngnahmen/download/empfehlung_wiss_praxis_1310.pdf 15 | © 2024 Thomas Potthast 3. Warum Ethik? 3.2 Gesellschaftliche Verantwortung: 3.2.1 Der Befunde-Kontext fast 1 Milliarde Menschen fehlernährt: zu viel/zu wenig/Mangel bestimmter Stoffe extreme Unterschiede der Lebensbedingungen von Menschen: Rechte, Ressourcen, Finanzen… ca. 60 % der Ökosysteme weltweit degradiert oder nicht nachhaltig genutzt ca. 80 % der Fischbestände sind bedroht ca. 15.000-30.000 Arten pro Jahr sterben aus umweltbedingte Gefährdungen für Ernährung und Gesundheit von Menschen: Bodenverlust, Dürre, Pestizide, Zoonosen/Pandemien... offene Fragen zu den Folgen neuer Technologien zusätzliche erheblich verstärkende Effekte aufgrund der Klimakrise (u.a. Club of Rome 1972, Global2000 1980 [sic!], UN 2005, IPCC 2018, IPBES 2019; IPBES & IPCC 2021) 16 | © 2024 Thomas Potthast 3.2.2 Der Befunde-Werte Kontext ⇒ Bewertung der Situation als nicht angemessen/nicht nachhaltig (Bewertung; evaluatives Urteil) ⇒ Bewertung der Situation als dringend zu verbessern (Bewertung; normatives Urteil) ⇒ Handlungsaufruf/Verpflichtung zur Transformation (Norm; Präskription), z.B.: Ethik der technischen Zivilisation „Prinzip Verantwortung “ (Hans Jonas 1979) „Nachhaltige Entwicklung/Sustainable Development “ UN-Brundtland Report (WCED 1987) „Große [gesellschaftspolitische] Transformation“ (Dt. WBGU Report 2011) => Ethik nicht nur als Problemanzeige, sondern auch als 17 | © 2024 Thomas Potthast Begründung & Motivation, es besser zu machen 3.3 Die (Um)Welt verbessern – Verpflichtungen wem gegenüber? Weil wir zur Verbesserung der Lebensbedingungen uns selbst gegenüber individuell verpflichtet sind? anderen heutigen Menschen verpflichtet sind? zukünftigen Menschen verpflichtet sind? von oder vor Gott bzw. Göttern verpflichtet sind? der Natur selbst gegenüber direkt verpflichtet sind? Und was genau sollten wir tun, was nicht? ⇒ Wer nach gerechtfertigten Begründungen eines Sollens (bzw. Wertens) fragt, betreibt Ethik ⇒ Normative Ethik untersucht die Stichhaltigkeit der Gründe (= Akzeptabilität) für moralische Verpflichtungen / moralische Wertungen 18 | © 2024 Thomas Potthast 3.4 Moral und Ethik – eine Begriffsklärung Meistens im allg. Sprachgebrauch Moral = Ethik, sollte aber differenziert werden „Moral“: individuelle und/oder kollektive Vorstellungen des Guten und des richtigen Handelns; gelebte Sittlichkeit („Was um seiner selbst getan sein soll und nicht nur zu einem anderen Zweck“) „Ethik“: Reflexionstheorie der Moral; Wissenschaftliche Disziplin Grenze nicht absolut, sondern graduell, weil auch jeder und jede über Moral reflektiert! Ethiker*innen sind Experten für Moralphilosophie (und keine Moralapostel) 19 | © 2024 Thomas Potthast 4.1 Warum Bio-Ethik? Können und sollen wir Menschen uns als Produkt allein unserer Gene verstehen? Welche Art der biotechnischen Optimierung ist https://tse1.mm.bing.net/th?id=OIP.oVcok38mmy3_7Njoq6mSXgHa wünschenswert, welche nicht: Gentherapie von Krankheiten, „Designer- Dc&pid=Api Babys“, Mensch-Maschine-Hybride, Transhumanismus? Welche Rechte haben empfindungsfähige nichtmenschliche Lebewesen: was bedeutet das für Tierhaltung, Fleischkonsum, Tierexperimente…? Sind Menschen durch ihr Gehirn determiniert und gar nicht für ihr Handeln verantwortlich? Stimmt das? Was wären die Konsequenzen? Welche Gefahren bestehen durch die Nutzung der Biotechnologien in Landwirtschaft, Umwelt, Ernährung? Welche Gefahren bestehen durch Biotechnologien für Kriegsführung, Terror etc.? Dual-Use-Problematik Welche Verantwortung haben Biolog*innen https://media.gettyimages.com/photos/caucasian-woman- in alledem? -> bitte 3 min mit Nachb. diskutieren touching-robot-arm-picture- id594827903?k=6&m=594827903&s=612x612&w=0&h=K- 20 | © 2024 Thomas Potthast aO1qINVo4bqVRs9PMLZoXrfpKbPscWegfWH0qPRBY= 4.2 Besonderheiten anwendungsbezogener Ethiken Handlungsrahmen bezieht sich auf ein gesellschaftliches Problemfeld, oft mit hohem Entscheidungsdruck (Beispiele: Verlust der Biodiversität, Klimawandel, KI, High-Tech Medizin, Energieversorgung,...) Empirisches wissenschaftliches Wissen ist von besonderer Bedeutung (biowissenschaftliches, physikalisch-technisches, medizinisches, sozial- und politikwissenschaftliches Wissen) zugleich Verknüpfung des empirischen Wissens mit Bewertungs- und Normsetzungsfragen (Politik/Politische Ökonomie, Ethik, Recht) 21 | © 2024 Thomas Potthast 4.3 Interdisziplinarität der Ethik Bewertungen basieren auf umfang- und detailreichen empirischen (deskriptiven) sowie normativen (präskriptiven) Prämissen (vgl. Potthast 2010) => besondere Bedeutung der sog. „gemischten Urteile“ Anwendungsbezogene Ethik muss empirisches und normatives Wissen miteinander verbinden => Spezifischen Kontext berücksichtigen: spezifische Beurteilungen! (Projekte) Aber: muss sich zugleich stets auf allgemeine(re) Wissensbestände und ethische Prinzipien/Werte/Normen beziehen => Annahmen üb. Wirkungszusammenhänge, Statistik, Unsicherheit übergreifend Menschenwürde in der Bioethik ist dieselbe wie in der Wirtschaftsethik 22 | © 2024 Thomas Potthast 5. Biophilosophie „Leben“ – „Natur“ – „Umwelt“: scheinbar rein naturwissenschaftliche Begriffe, aber was genau bedeuten sie? Bitte notieren Sie (für sich) Ihre Ideen zu den drei Begriffen (2 min) ⇒ Grundbegriffe der Biowissenschaften genau analysieren ⇒ Was genau kann Naturwissenschaft eigentlich über „Leben“, „Natur“, „Umwelt“ aussagen – und was nicht? 23 | © 2024 Thomas Potthast 5.1 Zum Begriff „Umwelt“ 5.1.1 Doppeldeutigkeit: Lebensweltlich: Umwelt als Umwelt des – und für – Menschen Systemtheoretisch (Naturwissenschaften, Technik, Soziologie): Der Teil der Umgebung („Außen“) eines Systems, zu dem funktionale Bezüge seitens des Systems („Innen“) bestehen 24 | © 2024 Thomas Potthast 5.1.2 Erkenntnistheorie der „Umwelt“ eine weitere, und anders gelagerte, Doppeldeutigkeit: „realistisches“ Umwelt-Konzept allgemeine physische und/oder soziale Wechselwirkungen auf verschiedenen Ebenen: Individuen, Kollektive....Ökosystem „konstruktionistisches“ Umwelt-Konzept spezifische kognitive, sinnesphysiologische Erschließung, aktive Konstruktion durch einen Organismus (J.v. Uexküll 1909/1921); => jeder Organismus hat seine eigene, andere Umwelt 25 | © 2024 Thomas Potthast 5.1.3 „Umwelt“ – epistemische Dimensionen Erkenntnistheorie: Realistisch – Konstruktionistisch – Interaktion zwischen System selbst erzeugt seine \\\\\\\ System und Außen Umwelt via (systemtyp- Objekttheorie/ spezifischer) Methodologie: Signalverarbeitung Räumlich Umgebung eines Realistisch-räumliches Konstruktionistisch- Systems Umweltkonzept räumliches- (Innen-Außen) Umweltkonzept Funktional Teil/Ausschnitt der Realistisch-funktionales Konstruktionistisch- Umgebung (außen) mit Umweltkonzept funktionales funktionalen Bezügen Umweltkonzept zum System (innen) 26 | © 2024 Thomas Potthast 5.2 Wertende Dimension von „Umwelt“ Umwelt verstanden ausschließlich als Umwelt des/für Menschen: Auf Menschen fokussiertes (‚anthropozentrisches‘) Natur und Welt-Konzept Kritik an einer zu sehr menschenzentrierten Sichtweise: „Mitwelt“ als wertender Gegenbegriff, der nicht-anthropozentrisch sein will und nicht Menschen allein ins Zentrum der Betrachtung stellt 27 | © 2024 Thomas Potthast 5.3 Biophilosophie – das Beispiel „Natur“-Zugänge Ökosystem: naturwissenschaftliche Perspektive – kausale Erklärungen, Modelle, Wertneutralität Landschaft: ästhetische, hermeneutische und z.T. wertende Perspektive – Raumstruktur, Formenkombination, Kultur-Geschichte, Heimat Schutzgut: wertende und normative Perspektive – Biodiversität, Wildnis, ‚tropischer Regenwald‘, Paradies,… These: ⇒ „Natur“ bedeutet und umfasst immer eine Kombination/ Überlappung dieser Perspektiven ⇒ Natur- und Umweltschutzfragen nur interdisziplinär zu bearbeiten 28 | © 2024 Thomas Potthast 5.4 Einheit des Lebens und Vielfalt der Lebewesen „Große“ biowissenschaftliche Forschungsfragen – zugleich theoretische und naturphilosophische Reflexionsthemen sowie ethische Fragen Was macht die Einheit des Lebens aus? Was bedingt die Vielfalt der Lebewesen bzw. die Biodiversität lebender Systeme? Wie hängen diese Einheit und Vielfalt miteinander zusammen? Welche Art von (moralischen) Werten ist mit dem „Leben“ und der „Biologischen Vielfalt“ verbunden? Sind unterschiedliche Werte mit unterschiedlichen Lebensformen verbunden? 29 | © 2024 Thomas Potthast 6.1 Forschungs- und Lehrprogramm Biologie wirft ethische Fragen auf: Was kann/darf/soll/muss Wissenschaft tun: Forschungspraxis, technische Anwendungen, weltanschauliche Debatten… => Biologie in Tübingen mit bundesweitem Alleinstellungsmerkmal: Ethik, Theorie, Geschichte als fester Teil des Studienangebotes in der Biologie „Ethik“: Reflexionstheorie der Moral Ethiker*innen sind Experten für Moralphilosophie (und keine Moralapostel) Anwendungsbezogene Ethik: konkrete Gegenstände, raumzeitliche und gesellschaftliche Kontexte Kombination Empirie – Normen/Werte nötig: „gemischte Urteile“ Verbindung zu wissenschaftstheoretischen und -historischen Fragen: Methodologie und Selbstreflexion ⇒ Interdisziplinäres Forschungs- und Lehrprogramm in der Biologie 30 © 2024 Thomas Potthast 6.2 Ethik, Theorie und Geschichte der Biowissenschaften 1. Ethische Perspektiven - Bedrohung und Erhaltung der Biologischen Vielfalt im „Anthropozän“: Was soll warum erhalten werden und mit welchen Mitteln? - Strittige Techniken (Gen- und Informationstechniken; Neurotechniken; Energietechniken) Welche Anwendungen sind aus welchen Gründen zu bevorzugen? Wie sind Ziele, Mittel und Kriterien aus ethischer Perspektive zu beurteilen? - Verantwortung der Wissenschaftler*innen (auch spezifisch in/mit der Biologie) Wahrnehmung der ethischen Dimension der eigenen wissenschaftlichen Praxis 2. Wissenschaftstheoretische Fragen - Was genau erklärt die Biologie? Wann ist etwas ‚bewiesen‘: welche Validitätskriterien gelten: Stochastizität, Kausalbegriff? - Was unterscheidet die Biologie von anderen Naturwissenschaften? - Einheit des Lebens und/oder Biologische Vielfalt – Verhältnisbestimmung? - Wie viel kann die Biologie im Bereich der Kultur (nicht) erklären? 3. Historische Fragen - Wandel in den Auffassungen vom Lebensbegriff: Materialismus, Vitalismus,... - Verhältnis von Biologie/Naturwissenschaften und Politik in der Geschichte - Wandel im Experimentbegriff, Rolle der Beobachtung, Modellierung... => Enge Verbindung der drei Perspektiven 31 | © 2024 Thomas Potthast 7.1 Die Welt retten? Der global-umfassende Verantwortungsbegriff „Prinzip Verantwortung“ angesichts globaler Bedrohungen: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden (Hans Jonas 1979: 36) Wir sind als individuelle Menschen und als Menschheit verantwortlich dafür „dass eine Menschheit sei“ ⇒Verpflichtung zur Erhaltung der Welt, in der Menschen ein gutes Leben führen können ⇒Verpflichtung für Biodiversitäts-, Umwelt-, Klimaschutz [und für noch vieles mehr!] 32 | © 2024 Thomas Potthast 7.2 Warum aber soll eine Menschheit sein? Begründung bei Hans Jonas (1979) naturphilosophische und ethische Interpretation des Lebensbegriffs und der Evolution von Lebensformen bis hin zum Menschen naturphilosophische und ethische Interpretation des Verantwortungsbegriffs aus der Ur-Verantwortung von Müttern (Eltern) gegenüber ihren Kindern Eine Welt ohne Menschen ist moralisch nicht wünschenswert, weil sonst wertvolle Potenziale des Lebens/der Lebensformen verschwinden 33 | © 2024 Thomas Potthast Warum soll eine Menschheit sein? Begründung von Hans Jonas wird stark kritisiert, aber dennoch: Eine Welt mit Menschen wird einer Welt ohne sie von den Meisten moralisch vorgezogen (aus unterschiedlichen Gründen) Dann aber ergibt sich die Verpflichtung, Lebensbedingungen zu erhalten bzw. zu schaffen, die „menschengerecht“ sind ⇒naturale Basis solcher Lebensbedingungen in Gefahr ⇒(Um)Welt retten 34 | © 2024 Thomas Potthast 7.3 Verantwortung – begriffliche Analyse und Begründung Relationale Dimension Jemand ist für Etwas (eine Handlung; inkl. Unterlassung!) vor einer bestimmten Instanz mit Bezug auf bestimmte Normen und Werte prospektiv und/oder retrospektiv verantwortlich (vgl. Werner 2011) Aufgabe der Ethik: Analyse und Begründung solcher Konstellationen im jeweils speziellen Fall 35 | © 2024 Thomas Potthast Biomoleküle und Zelle (BMZ) Fachbereich Biologie, MNF Wintersemester 2024/25 Modul Bio101: Biomoleküle und Zelle Ilias-Portal (BMZ) Password: BdHZmW24 https://ovidius.uni-tuebingen.de/ilias3/goto.php?target=crs_4777311&client_id=pr02 36 Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Kontakt: Wilhelmstr. 56 (Lothar-Meyer-Bau) [email protected] T. 07071 – 297 5251 Sprechstunde n.V. per mail: online 37 | © 2024 Thomas Potthast 37 Literaturhinweise A. Übersichts- und Einführungsliteratur: „Campbell“ – Urry, Lisa A., Michael L. Cain, Steven A. Wasserman, Peter V. Minorsky, Jane B. Reece: Campbell Biologie 11., aktualisierte Auflage. Pearson, München 2019, 1824 S. Chalmers, Alan F. 2016: Wege der Wissenschaft: Einführung in die Wissenschaftstheorie. Springer, Berlin, 264 S. Düwell, Marcus 2008: Bioethik – Methoden, Theorien und Bereiche. Springer, Stuttgart, 288 S. Düwell, Marcus, Christoph Hübenthal & Micha H. Werner (Hg.) 2011: Handbuch Ethik, 3. aktualisierte Aufl., J.B. Metzler, Stuttgart, 599 S. Eser, Uta & Thomas Potthast 1999: Naturschutzethik – Eine Einführung für die Praxis, Nomos, Baden-Baden, 104 S. https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783845261447/naturschutzethik Kirchhoff, Thomas, et al. (Hg.) 2020: Naturphilosophie – Ein Lehr- und Studienbuch, 2. Aufl. UTB, Tübingen, 380 S. Köchy, Kristian 2010: Biophilosophie zur Einführung. Junius, Hamburg, 327 S. Ott, Konrad, Jan Dierks & Lieske Voget-Kleschin (Hg.) 2016: Handbuch Umweltethik. Springer(J.B. Metzler, Stuttgart, 367 S. Schülein, Johann August & Simon Reitze (2016): Wissenschaftstheorie für Einsteiger, UTB 283 S. 38 | © 2024 Thomas Potthast B. Wissenschaftstheorie (der Biologie); kl. Auswahl Götz, E., Knodel H. (1980): Erkenntnisgewinnung in der Biologie, dargestellt an der Entwicklung ihrer Grundprobleme. Stuttgart. Mahner, Martin & Mario Bunge, Mario (2000): Philosophische Grundlagen der Biologie. Berlin. Potthast, Thomas (2007): Was bedeutet „Leitwissenschaft“? Und übernehmen Biologie oder die „Lebenswissenschaften“ diese Funktion für das 21. Jahrhundert? In: Berendes, Jochen (Hg.): Autonomie durch Verantwortung. Impulse für die Ethik in den Wissenschaften. Mentis, Paderborn: S. 285-318. Potthast, Thomas (2009): Paradigm shifts vs. fashion shifts? Systems and synthetic biology as new epistemic entities in understanding and making “life”. EMBO Reports 10 (Special Issue) : S51-S54. Rosenberg, Aleaxander (1985): The structure of biological science. Cambridge University Press Speck, J. (Hrsg.) (1980): Handbuch wissenschaftstheoretischer Grundbegriffe (3 Bände). Göttingen: UTB 1980. Vollmer, Gerhard (1999): Essay: Wissenschaftstheorie und Biologie. In: Lexikon der Biologie, online: https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/wissenschaftstheorie-und-biologie/70909 Wilson, Edward O. (1998): Die Einheit des Wissens. Berlin: Siedler 39 C. Weitere in der Vorlesung zitierte Werke IPBES – Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (2019): Global Assessment Report on Biodiversity and Ecosystem Services https://www.ipbes.net/global-assessment-report-biodiversity-ecosystem-services. IPBES & IPCC – Biodiversity and Climate Change Workshop Report. Bonn & Geneva 2021 https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/2021/07/IPBES_IPCC_WR_12_2020.pdf IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change (2018): Special Report: Global Warming of 1.5 ºC. https://www.ipcc.ch/sr15/ Jonas, Hans (1979): Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technische Zivilisation. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Potthast, Thomas (2010): Epistemisch-moralische Hybride und das Problem interdisziplinärer Urteilsbildung. In: Jungert, Michael, Thomas Sukopp, Elsa Romfeld & Uwe Voigt (Hg.) Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt: 173-191. Potthast, Thomas (2015): Ethics and Sustainability Science beyond Hume, Moore and Weber - Taking Epistemic-Moral Hybrids Seriously. In: Meisch, Simon, Johannes Lundershausen, Leonie Bossert & Marcus Rockoff (eds.): Ethics of Science in the Research for Sustainable Development. Nomos, Baden-Baden: 129-152. Stern Nicholas (2006): The Stern Review on the Economics of Climate Change. HM Treasury. http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/+/http://www.hm-treasury.gov.uk/sternreview_index.htm Uexküll, Jakob von (1909/1921): Umwelt und Innenwelt der Tiere. Julius Springer, Berlin. UN – United Nations (2005): Millennium Ecosystem Assessment Synthesis Report. Washington DC UN – United Nations (2015): The Sustainable Development Goals, United Nations, Ney York 2015. https://sustainabledevelopment.un.org/sdgs UNCED – United Nations Conference on Environment and Development: Our Common Future. http://www.un-documents.net/our-common-future.pdf dt. Ausgabe = Hauff, Volker (Hrsg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Eggenkamp Verlag, Greven 1987 UNEP – United Nations Environmental Program; Heywood, V.H. (ed.) (1995): Global Biodiversity Assessment. Cambridge University Press, Cambridge. Werner, Micha H. (2011): Verantwortung. In: Düwell, Marcus, Christoph Hübenthal & Micha H. Werner (Hg.) Handbuch Ethik, 3. Aufl.. Stuttgart/Weimar, S. 541–548. 40 | © 2024 Thomas Potthast