STEOP: Grundlagen sozialwissenschaftlicher Methodologie - 2. Einheit - 17.10.2024 PDF

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This document provides a lecture on social science methodology, covering historical approaches to social science research including early forms of empirical social science, social surveys, and political arithmetic.

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STEOP: Grundlagen sozialwissenschaftlicher Methodologie 2. Einheit – 17.10.2024 Historische Annäherung: Frühe Formen der empirischen Sozialwissenschaft Ass. Prof. Katharina T. Paul Institut für Politikwissenschaft Ziele der heutigen...

STEOP: Grundlagen sozialwissenschaftlicher Methodologie 2. Einheit – 17.10.2024 Historische Annäherung: Frühe Formen der empirischen Sozialwissenschaft Ass. Prof. Katharina T. Paul Institut für Politikwissenschaft Ziele der heutigen Einheit Verständnis der Entstehung und Entwicklung der empirischen Sozialwissenschaften im historischen Kontext Überblick zur Auswahl von Daten und Quellen in der frühen Sozialwissenschaft Einblicke in die Funktion bestimmter methodologischer Entscheidungen Rückblick: Bemühung zur Verwissenschaftlichung “So besteht der wahre posi0ve Geist darin zu sehen um vorauszusehen, zu erforschen was ist, um daraus auf Grund des allgemeinen Lehrsatzes von der Unwandelbarkeit der Naturgesetze —das zu erschließen, was sein wird.” (Comte A., Rede über den Geist des Positivismus) Methodologische Grundfragen in der empirischen SOWI Wie können wir ein möglichst getreues und kompleFes Bild der sozialen Wirklichkeit erreichen und wiedergeben? Inwiefern können wir die soziale Wirklichkeit erklären und Entwicklungen vorhersagen? Welches Material steht mir dabei zur Verfügung? Welches brauche ich dazu? Wie kommen wir zu Daten und was mache ich damit? NB: Empirisch = auf Basis von Beobachtung und/oder Messung von Phänomenen, zu denen Forschende Zugang haben oder finden Comte‘s Gesetz der drei Stadien a) theologisches Zeitalter b) metaphysisches Zeitalter c) positives/wissenschaftliches Zeitalter Die Soziologie soll auf Beobachtung, Experiment und vergleichender Methode basieren (savoir) Forschung kann als Grundlage für eine „wissenschaftliche Politik“ dienen (pouvoir) Erkenntnisse zu Ursache/Wirkung sollen Vorhersagen, Gesetzesmäßigkeiten ermöglichen (prévoir) Funktion der Sozialwissenschaften Beschreiben Erklären Vorhersagen Intervenieren Formen früher empirischer Sozialforschung 1. Zur poliJschen Verwaltung 2. Ethnographische Beschreibung und Sammeln von Ethnographica 3. Die FunkJon der SozialwissenschaNen für Sozialreformen 4. Markt- und Meinungsforschung 1. Empirische Sozialwissenschaft und politische Verwaltung Frühe Formen der empirischen Datenerhebung Frühformen in der Antike und im Mittelalter: Datensammeln primär aus herrschaftspolitischen Gründen und im Dienste der Verwaltung steuer-oder sicherheits-/ militärpolitischen Gründe, z.B. in Ägypten (Zählungen von selbständigen Haushalten 2. Jh. V. Chr.) und im Römischen Reich Staatsbeschreibungen in England 1085 (Domesday Books) (National Archives, London, UK), Mark Cartwright „Zum allgemeinen Problem wird die Übersicht über die Lebenslage sozialer Gruppen erst mit dem Niedergang der mittelalterlichen Ordnung (…) Erst der freie Markt der kapitalistischen Verkehrswirtschaft zerstört die einfache Lagerung der Gesellschaft (…) und mit dem Zusammenbruch (…) endet zunächst die Übersehbarkeit des sozialen Geschehens (…) Sie wiederherzustellen, wird Aufgabe der vielfältig sich entwickelnden Sozialwissenschaften, vor allem der Statistik und der ihr eng verbundenen Soziographie“ (Zeisel 1960: 113) Sir William Petty (1623-1687) „...anstatt nur Analogien und superlative Wörter oder intellektuelle Argumente zu benutzen, habe ich es unternommen, mich in Zahlen, Gewichten und Maßen auszudrücken...“ PoliJsche ArithmeJk in England: frühe Soziographie Untersuchungen zur Unterstützung der englischen Kolonialverwaltung in Irland (Statistik) Besiedelung als Organisationsproblem als Treiber für die Weiterentwicklung der empirischen Sozialwissenschaft Versuch der Orientierung durch Messen und Quantifizieren: Datenerhebung zu Böden, Konsum, Währung und Handel PoliJsche ArithmeJk * John Graunt (1620-1674): Auswertung von Gesetzmässigkeiten im sozialen Geschehen mittels Geburts- und Sterbematrikel (Basis für die Berechnung von Sterberaten) Studien von Privatgelehrten, zB zu Armut und Arbeitslosigkeit 18 Jh: Süßmilch (DE) Bevölkerungsstatistik à Kriminalstatistik Fazit frühe empirische (dh datenerhebende) Sozialwissenschaft als Planungswissenschaft- und instrument Methoden (à 18. JH): Zählung von Merkmalen und Ereignissen, aber keine statistischen Zusammenhänge und ohne wissenschaftlichen Anspruch Von Statistik als Staatswissenschaft zur Sozialwissenschaft Politische Arithmetik heute: was ist wissenswert? Foto: APA/Georg Hochmuth Reflexion In welchen Datenerhebungen scheinen Sie auf? Welche Aspekte Ihres Verhaltens werden statistisch festgehalten? Welche Aspekte Ihres Verhaltens werden staJsJsch festgehalten? Formen früher empirischer Sozialforschung 1. Zur politischen Verwaltung 2. Ethnographische Beschreibung und Sammeln von Ethnographica 3. Die Funktion der Sozialwissenschaften für Sozialreformen 4. Markt- und Meinungsforschung 2. Form: Empirische Sozialforschung als Beschreibung „anderer“ Kulturen Sammeln und Entdecken An0ke: erster Kulturvergleich bei Herodot, 5. Jhd.v. Chr. später Berichte der Entdeckungsreisenden, Missionare und frühen Kolonialisten Sammeln von Ethnographica zunächst unsystema0sch, später als als Grundlage wissenscha`licher Studien à Ethnologie Die Ethnologie als „Denkweise“ (Merleau- Ponty): “das Fremde” verstehen von an0ken BerichterstaFungen zu Berichten über fremde SiFen: zB Herodot (490-430 v. Ch.) als Vorreiter der ethnographischen Reisebeschreibung Beobachtung/Erfahrung und “Hören-Sagen” als vorwissenscha`liche Methode: miFelalterliche Berichte von Fabelwesen, Monstern und Kannibalen ab 1492: Erweiterung des geographischen Horizonts im Kontext der Kolonialisierung Entwicklung des ‚ethnographischen Blicks‘ “Erfahrungen macht man, „indem man in einer permanenten Bewegung Fragen formuliert, um Antworten hervorzurufen (...) Erst mittels Reflexion gerinnt die sinnliche Wahrnehmung zur Erfahrung, die nun freilich dazu führen kann, dass das Bewusstsein sein Wissen ändern muss, ‚um es dem Gegenstande gemäß zu machen‘ (Hegel)“ (…), wodurch ‚sich in der Tat auch der Gegenstand selbst‘ (ebd.) ändert (…)“ (Dammann 1991:65) Vorläufer der klassischen ethnologischen Forschung Louis-Armand de Lahontan Kolonialoffizier und Verfasser einer kritischen Ethnologie (ca 1700) - das Fremde und das Eigene: „gedoppelter Beobachtungsprozess“ Durchführung über fiktive Dialog mit dem Huronen Häuptling Adario Forderung in der frühen Ethnographie, die Perspektiven zu vertauschen (Innen- und Außenperspektiven) Vorläufer der vergleichenden und induktiven Methode Joseph-François Lafitau Jesuitenpater, Appell zur ‘wechselseiJgen Erhellung’ als „Methodologie des Fremdverstehens“ und des offenen Vergleichs Bastian‘s Bemühungen Etablierung der Ethnologie (Wien) Aufruf zu kon0nuierlichem Sammeln Theore0sche EinbeFung der Praxis des Sammelns Systema0sierung und Professionalisierung Exkurs zu Methode Gegenstand des Sammelns sind Objekte zum besseren Verständnis des Mensch- Seins Ziele: a) Musealisierung, systematische Kategorisierung b) Bewahren von Objekten schriftloser und dem Untergang geweihter Kulturen “„geduldiges Zuwarten“ als Methode: Kritik am „Induktionismus“ und an der Methode des Beschreibens anstatt systematischen Vergleichens Spannungsfelder in der Praxis des Sammelns individuelle Leidenschaft (bzw privates Sammeln) vs als kulturelle, d.h. intersubjektiv nach-vollziehbare, sinnvolle Tätigkeit Prophylaktisches Sammeln im Kontext des Kolonialismus Induktionismus (Schurtz vs Bastian), aber Vergleich als gemeinsamen Stellenwert vgl. Chevron (2006) Reflexion Was ist das Ding, das wir hier sammeln? Wie gehen wir heute mit Ethnografica-Forschung um? Welche Kriterien sind wichJg,um Qualität der heuJgen ethnologischen Forschung zu beurteilen? TIPP: Digitale Provenienzforschung https://vgprovenienzforschung.volkskundemu seum.at/de/ Was lässt sich *nicht* sammeln? zB Sensorische Eindrücke CiBzen science Forschungsprojekt NHM Berlin Citizen science Forschungsprojekt Uni Wien (-2023) Formen früher empirischer Sozialforschung 1. Zur poliJschen Verwaltung 2. Ethnographische Beschreibung und Sammeln von Ethnographica 3. Die FunkJon der SozialwissenschaNen für Sozialreformen 4. Markt- und Meinungsforschung 3. Form: Empirische Sozialforschung und Sozialreformen Exkurs zu Methoden: Moralstatistik oder Monographien? Methodenstreit um Familien im Fokus a) Moralstatistik Zum Begriff der Moralstatistik Keine Vorwegnahme einer „moralischen“ Problemstellung, aber Verwendung von „Nebenprodukten“ der Verwaltungsta0s0k zB Familien, Ehe, Schulbesuch etc ErmiFlung eines moralischen Standards in einer Gesellscha` Adolphe Quetelet (1796-1874) Präsident der statistischen Zentralkommission für Belgien Begründer der modernen Sozialstatistik Organisierte 1846 die erste Volkszählung in Belgien Hauptwerk: Soziale Physik, 1835 Aufkommen der Wahrscheinlichkeitstheorie (zB Bernoulli) Quetelets Anliegen Folgen die sozialen Handlungen der Menschen bestimmten Gesetzen? Welche Voraussagen können wir aufgrund dieser Gesetze treffen? Wissenschaftliche Bemühungen Quetelets Gleichförmigkeiten in folgenden Bereichen: Einfluss des Alters auf die Fruchtbarkeit der Ehen Einfluss von Beruf, Familienstand auf die Sterblichkeit Einfluss des Alters auf die Krea@vität von Theaterautoren Problem: reine Zusammenstellung einer Vielzahl von Daten -“Gesetz der großen Zahl“ – jedoch keine theoriegeleitete Systema@k Kritik Theorie des „homme moyen“ (der „Durchschnipsmensch“) als Referenz Vorstellung einer MoralstaJsJk (sipliche und unsipliche Beweggründe). b) Gegenposition: Monographisches Vorgehen bzw das Konzept des Inventars Frederic Le Play (1806-1882) Ingenieur & Sozialreformer/theoretiker Reisen durch Europa und Russland Berater Napoleon III Hauptwerk: Ouvriers Européens, 1855 Le Play‘s Ansatz Zweifel an der staJsJschen Darstellung gesellschaNlicher Verhältnisse: Unsichtbarkeit der Komplexität der zwischenmenschlichen Verhältnisse Forderung nach detailreichen Einzelfallbeschreibungen d.h.Monographien als neue Forschungsstrategie Entwicklung einer Typologie Methode Le Play‘s Monographien Monographien von 36 Familien Erhebungseinheit ist die Familie und nicht das einzelne Individuum Systema0sche Darstellung der Einnahmen und Ausgaben, Konsumgewohnheiten durch Interviews. Erstellung von Haushalts-inventaren durch direkte Beobachtung Inventar als „lebendiges“ Abbild des Lebens vs. „tote Sta0s0k“ Kri$k: S0chprobe unklar definiert; Fokus auf Budget, ideologische Schlussfolgerungen. Fazit: Statistische (Global)Analyse und monographische Detailanalyse (mittels Inventar) als zwei unterschiedliche, einander im Idealfall ergänzende Forschungsstrategien Herausforderung der Sozialwissenschaften: welche Daten sind wichtig, welche Merkmale gilt es zu erfassen, zu messen? Deutsche Soziographie: Verein für Sozialpolitik Frage: wie wirkt sich Großindustrie auf das Leben (physisch und psychisch) der Arbeiterschaft aus und inwiefern hängt die Entwicklung der Industrie von lokalen Gegebenheiten ab? Ausgedehnte Untersuchungen über Zeit hin weg, Lohnlisten und Personalaufzeichnungen, Befragungen Möglichst vollständige Beschreibung verschiedener Bereiche (Familie, Arbeitsleistung etc). à Verwendung subjektiver und objektive Daten? 3. Empirische Sozialforschung als Weg zu Sozialreformen 1. Sozialreportagen 2. Die social surveys 1. Sozialreportagen Beispiel: Viktor Adler „Die Lage der Ziegelarbeiter“ (1888) Viktor Adler (1852-1918) Arzt, Journalist 1889 Gründung der Arbeiter-Zeitung erster Vorsitzender der Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) Abgeordneter zum Reichsrat ab 1905 Wienerberger Ziegelwerke Viktor Adler: „Die Lage der Ziegelarbeiter (1888)“ 2. Social surveys Gründung von „statistical societies“ in den 1830er und 1840er Jahren in England als lokale Vereinigungen von Privatleuten mit bürgerlich- reformistischem Politikverständnis Einrichtung königlicher Kommissionen Sozialpolitische Enquêten bzw. Untersuchungen parlamentarischer und administrativer Einrichtungen: Recht der Parlamentsausschüsse des Unterhauses auf Einvernahme von Zeugen Fabriksinspektoren für Datenerhebung Methodische InnovaJonen des „staJsJcal movement“ Primärerhebungen, standardisierte Erhebungsinstrumente Diskussion zu Indikatoren (zB Armut als multidimensionales Konzept) Einsatz professioneller Datenermittler „Agenten“ (England) Entwicklung von Prüftechniken um die Zuverlässigkeit von Aussagen zu überprüfen (zB ‚cross-examination‘) USA: statistische surveys als Pendant zur deutschen Soziographie Formen früher empirischer Sozialforschung 1. Zur politischen Verwaltung 2. Ethnographische Beschreibung und Sammeln von Ethnographica 3. Die Funktion der Sozialwissenschaften für Sozialreformen 4. Markt- und Meinungsforschung 4. Markt- und Meinungsforschung Entwicklungen Anfang 20. Jh.: Etablierung sozialwissenschaNlicher ForschungsinsJtute, z.B. WirtschaNspsychologische Forschungsstelle in Wien (1927-1938) Versuch staJsJsche Analysen und monographische Detailanalysen zu verbinden, z.B. Marienthalstudie USA: wachsende Anzahl an (staJsJcal) surveys (zB Middletown), Themenbereiche: (Groß)Stadtleben, MigraJon, Bauern Paul Lazarsfeld Sozialpsychologie, MathemaJker Mitarbeiter am psychologischen InsJtut der Universität Wien Leiter der wirtschaNspsychologischen Forschungsstelle 1933 Vertreibung in die USA Professor an der Columbia University Zeitgenosse von Charlope & Karl Bühler (Psychologie) Lazarsfelds Anliegen für die Sozialwissenschaft Kombination objektiver Beobachtungen und introspektiver Berichte Verbindung von Statistiken und Fallstudien Wichtigkeit entwicklungsgeschichtlicher Informationen Kombination experimentell gewonnener und natürlicher Daten Methodische Entwicklungen USA: Umfrageforschung Gallup 1930er Jahre; Durchsetzung der Markt- und Meinungsforschung nach dem Zweiten Weltkrieg neue statistische Analysemodelle (Korrelationsrechnung, Signifikanztests), Durchbruch von Statistikanwendungen Stellenwert der Psychologie (zB Quasi-Experimente, Tagebücher etc) Schlussfolgerungen SozialwissenschaN ist immer ein Produkt und Projekt ihrer Zeit Entwicklung von Demographie und StaJsJk als Instrumente der poliJschen Steuerung im naJonalstaatlichen Kontext Von der poliJschen ArithmeJk über die sozialpoliJschen Anliegen des 19. Jahrhundert zur InsJtuJonalisierung an den Universitäten im 20. Jh. Methodenstreit als feature, not a bug? Referenzliteratur Adler, Victor: „Die Lage der Ziegelarbeiter“, in: Maderthaner, Wolfgang: Victor Adler. Zum 150. Geburtstag, Wien: Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, 2002, S. 7-9 Chevron, Marie-France: „Reisen und Sammeln aus wissenschaNlicher Überzeugung heute und zur Zeit von Adolf BasRan“, in: MiSeilungen der Anthropologischen GesellschaN in Wien (MAGW), Band 136/137, 2007, S. 187- 202 Dammann, Rüdiger: „Zur Geschichte des ethnographischen Blicks“, in: ders.: Die dialogische Praxis der Feldforschung, Frankfurt/M., New York: Campus, 1991, 64- 70 und 80-89 Zeisel, Hans: „Zur Geschichte der Soziographie“ in: Jahoda, Marie/Lazarsfeld, Paul F./Zeisel, Hans: Die Arbeitlosen von Marienthal, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982, S. 113-137 VIELEN DANK FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT Next week‘s episode: die Marienthal Studie

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