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TH Köln
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Summary
This document likely contains a lecture or seminar script on philosophy, specifically concerning self and world relations. It outlines various perspectives and provides example analyses of text, emphasizing different points of view such as aesthetic, practical, and scientific interpretations for different situations. It analyzes underlying principles of thought and how various approaches to understanding oneself and the world manifest in thought and action.
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III. Thesen 1. Es gibt mehrere Dimensionen von Selbst- und Weltverhältnissen Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es verschie- dene Weisen des Selbst- und Weltverhältnisses gibt. Damit ist nicht allein gemeint, dass jeder einzelne Mensch auf eine je individuelle Weise zu sich selbst...
III. Thesen 1. Es gibt mehrere Dimensionen von Selbst- und Weltverhältnissen Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es verschie- dene Weisen des Selbst- und Weltverhältnisses gibt. Damit ist nicht allein gemeint, dass jeder einzelne Mensch auf eine je individuelle Weise zu sich selbst und zu seiner Welt eine Beziehung aufbaut und diese Beziehung idealerweise als „Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wech- selwirkung“ (von Humboldt 1903, 283) bringt. Dies soll nicht in Abrede gestellt werden. Vielmehr geht es darum, dass es grund- sätzlich – wenn man so will gerade nicht-individuelle – Formen gibt, in denen Menschen dies tun. Nehmen wir als Beispiel diese wenigen nun gelesenen Zeilen. Ich kann sie zunächst daraufhin betrachten, wie sie mir im Alltag, d. h. in meinem ganz pragmati- schen Fortkommen weiterhelfen (vgl. Wienbruch 1993, 109). Sind sie also zweckmäßig, um konkret anstehende Aufgaben zu erfül- len, Widrigkeiten für mein Wohlergehen zu verhindern oder ent- sprechende Vorsorge zu betreiben? Bin ich so zu diesen Sätzen ein- gestellt, erlebe und handle ich alltäglich. Für das konkrete Beispiel hieße das: muss ich mir diese Sätze aufschreiben oder merken, um eine Prüfung zu bestehen, die ich nicht als wissenschaftliche Her- ausforderung sehe, sondern lediglich als Widerstand bei meinem Versuch, mich erfolgreich zu behaupten? Mich selbst erfahre ich in dieser alltäglichen Einstellung als Sorgenden, Bewältigenden. Ganz anders lese ich diese Zeilen in einer ästhetischen Ein- stellung. Mir fallen dann einerseits die großen Worte wie »Weise«, 51 Bildung und Alltäglichkeit »Welt«, »Mensch« und »Beziehung« auf, die merklich dicht aufeinander folgen. Hat hier also jemand verdichtet, gedichtet? Lohnt sich das nochmalige Lesen mit Blick auf die Präzision der Komposition, die Klanglichkeit, den Rhythmus und die daraus möglicherweise folgende Bedeutungshaftigkeit, die mir auch etwas Unaussprechliches über mich selbst sagt (vgl. Wienbruch 1993, 109)? Nein. Sofort werde ich gebremst, wenn ich diese »dass«-Konstruktionen drei Mal hintereinander lese. Sie sind weder stimmig noch erscheinen sie als absichtsvoll unstimmig, sondern zeigen bloß, dass hier jemand nicht in ästhetischer Ein- stellung, nicht als Künstler oder Künstlerin formuliert hat. Das alles habe ich in der ästhetischen Einstellung erfahren, indem ich auf die Wirkung des Textes auf mich geblickt und dafür meinen Sinn für Geschmack ins Spiel gebracht habe. Nützlichkeit für mich war hier gerade ausgeblendet. Nicht nur der Text war etwas ganz anderes für mich, sondern auch ich selbst war jemand an- deres – ein anderes Wesen, das auf eine andere Bedeutungsebene der Welt zugreifen konnte, wenn sich diese auch in diesem Fall beim zweiten Blick wieder verschloss. Noch einmal ganz anders erscheinen mir die Zeilen, wenn es mir um die Prüfung von deren Geltungsansprüchen geht (vgl. Rickert 1999, 14). Ich sehe nun nicht mehr, ob sie mehr oder we- niger ästhetisch stimmig formuliert sind, sondern bloß, welche Aussagen auf welcher Grundlage gemacht werden und wodurch sich die Aussagen und deren Grundlagen möglicherweise als un- gültig erweisen könnten. Ich fühle mich herausgefordert durch die starken Formulierungen wie „es (…) gibt“, „jeder einzelne Mensch“, „fraglos der Fall“, „grundsätzlich (…) gibt“. Können der- art apodiktische, d. h. keinen Widerspruch zulassende, sich nicht relativierende und nicht limitierende Aussagen stimmen? Sehr unwahrscheinlich. Wenn ich beispielsweise „jeder“ lese, brauche ich nur einen einzigen widersprechenden Einzelfall zu finden, 52 III. Thesen der die Aussage ungültig werden lässt (vgl. Popper 1976, 8ff.). Außerdem: was soll hier „grundsätzlich“ heißen? Auf wel- che Grundsätze wird hier verwiesen? Weshalb werden sie nicht genannt? Mein Versuch, diese Aussagen kritisch zu prüfen, wenn möglich zu widerlegen, wird nicht zuletzt von der Idee angetrieben, dass ein Scheitern der Prüfung zugleich die vor- läufige Bewährung der Aussagen bedeutet, sodass so etwas wie »Wahrheit« zumindest in der Form von aktueller und vorläufiger Gültigkeit erreicht werden kann. Diese sind nur drei von mehreren möglichen Weisen, die we- nigen Zeilen zu lesen. Neben Alltag, Kunst und Wissenschaft sind noch Religion, Ökonomie, Wirtschaft, Technik und vielleicht Spiel (s. Kapitel VI i. d. Bd.) als solche Dimensionen vorstell- bar. Eine Liste ließe sich allerdings kaum begründen und daher auch nicht abschließen. Es gibt allerdings verschiedene Versuche, diese Weisen gesellschaftstheoretisch als Funktionssysteme (vgl. Luhmann/Schorr 1988, 24–29; Luhmann 2002a, 13f.), kultur- theoretisch als symbolische Formen (vgl. Cassirer 1923), philo- sophisch als Vollzugsweisen des Bewußtseins (vgl. Wienbruch 1993, 108f.) oder praxistheoretisch als Felder (vgl. Bourdieu 2006) zu beschreiben. Was hat dies aber mit Pädagogik und Bildung zu tun? Wenn wir davon ausgehen, dass die Welt und man selbst multidimensional werden kann, ergibt sich als wesentliche pädagogische Aufgabe, Zugänge zu diesen Dimen- sionen zu zeigen bzw. zu öffnen. Es ist schließlich durchaus denkbar, dass ein Mensch aufwächst und sein Leben lebt, ohne jemals in der oben skizzierten Weise ästhetisch, wissenschaftlich oder auch religiös seine Welt und darin sich selbst erschlossen zu haben. Es wäre möglich, dass er sein Leben in einer alltäglichen, technischen (vgl. Heidegger 1956, 55f.) oder verwalteten/ver- waltenden (vgl. Adorno/Horkheimer/Kogon 1987) Einstellung verbringt und die Bedeutungsschichten, die den ihn umgebenden 53 Bildung und Alltäglichkeit Dingen und Beziehungen zukommen könnten, niemals ent- stehen lässt. Dieser Mensch würde zu sich selbst auch nur ein ein- dimensionales Verhältnis (vgl. Marcuse 1970) aufbauen können. »Funktionieren« würde er wohl schon, man könnte sogar sagen: gerade besonders gut! Allerdings wäre dieser Mensch Bildungs- prozessen kaum zugänglich. Er würde sich für Neues, für Irri- tierendes, für Fremdes nur dann interessieren, wenn es ihm in seinem alltäglichen Bewandniszusammenhängen nützlich wäre, kann aber vom Standpunkt der Nützlichkeit gerade das noch nicht Nützliche nicht erkennen. Auseinandersetzungen, die ihn selbst infrage stellen, aus der Bahn werfen und neu zu sich stellen lassen würden, wären im Alltag unsinnig, würden aus dem Alltag hinausführen. Dies zu tun, ist vielleicht die entscheidende päda- gogische Tätigkeit, zumindest, wenn man an Bildungsprozesse denkt und nicht allein an Erziehung oder Betreuung. 2. Begreifen ist Formen Man könnte zunächst meinen, man werde in eine Welt hineinge- boren, die weitgehend so ist, wie sie ist, auch wenn sie anders sein könnte. Sie ist kontingent d. h. nicht notwendig, aber möglich (vgl. Luhmann 1987, 152) und dabei zugleich auf konkrete Weise wirklich. Der Begriff dafür ist „Faktizität“ (Sartre 1994, 846ff.). Wenn wir an den jungen Menschen denken als „den Neuen und Fremden, der in eine schon bestehende Welt hinein- geboren wurde, die er nicht kennt“ (Arendt 1994, 269), ergibt sich die Aufgabe nicht nur des Lernens, sondern auch des Lehrens durch die, die schon etwas wissen über diese Welt. Dem scheint schwerlich etwas entgegenzusetzen zu sein. Da die Welt hochkomplex ist, bin ich als Kind darauf angewiesen, dass sie mir nach und nach, altersangemessen und möglichst einigermaßen systematisiert vermittelt wird. 54 III. Thesen Die professionelle Beschreibung dafür liegt in den »Bildungs- bereichen« der Bildungspläne der Länder vor. Trotz der Plausi- bilität, die dieser Herangehensweise zukommt, wollen wir mit dem Konzept der Bildungszugänge einen ganz anderen Weg einschlagen. Der zugrunde liegende Gedanke ist, dass es nicht 55 Bildung und Alltäglichkeit schon mathematische, musikalische, wissenschaftliche, spiele- rische oder sprachliche Gegenstände oder Sachverhalte »gibt«, die man mir als Kind vorsetzen könnte, sodass ich sie mir dann mit mehr oder weniger Hilfestellung aneigne. Vielmehr wird ein Gegenstand nur dann wissenschaftlich, wenn ich ihn auf eine ganz bestimmte Weise symbolisch auffasse und dabei zu- gleich hervorbringe. Die Scheinalternative von bloß passivem oder zumindest rezeptivem Auffassen auf der einen Seite und rein aktivem (aus dem Nichts) Hervorbringen will Cassirer mit dem Begriff des Symbols überwinden. Die Metapher des Greifens könnte hier einen unmittelbaren Verständniszugang öffnen. Stellen wir uns vor, wir seien an einem Strand. Greifen können wir zum Beispiel Muscheln, mittelgroße Steine oder angeschwemmtes Holz. In diesen Fällen gehen wir davon aus, etwas zu greifen, das unabhängig von unserem Zugriff ist und sich in diesem Greifen nicht verändert. Dies ist wohl das alltäg- liche Verständnis von einem zeichenhaften Verstehen der Welt durch Sprache. Die Dinge werden durch Zeichen benannt, man könnte sagen: etikettiert, werden durch diese Bezeichnung aber in keiner Weise verändert. Die Bezeichnung bleibt dem Bezeich- neten äußerlich und ist im Grunde sogar beliebig bzw. arbiträr (vgl. de Saussure 1967). Beim Sand verhält es sich aber ganz anders. Greifen wir Sand aus dem Sandstrand heraus, bilden wir zugleich eine Form, die es zuvor nicht gab. Unser Greifen ist Formen. Dies ist der Modus des Greifens, der eine Analogie zu unserem bewussten Erleben erlaubt. An besonderen Beispielen wird das sofort klar: Die Ge- stalten, die ich in Wolken, im Sternenhimmel, im Feuer oder auf einer schlecht gewischten Tafel wahrzunehmen meine, gewinnen ihre Form offenbar erst durch meine Blickweise. Wer würde aber sagen, sie seien allein durch meinen Blick hervorgebracht? Es gäbe dann keine Möglichkeit, andere Menschen darauf aufmerksam 56 III. Thesen zu machen und sie zu bitten, diese Formen zu sehen zu versuchen. Aber auch die vielen Gegenstände, die ich in meinem Zimmer zu sehen meine, verdanken sich meiner Selektionsleistung und im übrigen auch meiner Vorstellungskraft. Die eng aneinander stehenden Bücher in Regal sind für mich einzelne Gegenstände, für eine Katze oder ein kleines Kind vermutlich nicht. Entweder sie werden gar nicht erst aus dem Wahrnehmungsfeld isoliert, bleiben also immer nur Hintergrund, oder sie werden anders gruppiert – z. B. als ein Regalbrett, als ein großer Gegenstand, oder ich sehe nur die eine Seite, vielleicht nur die eine Zeile, die ich lese und konstruiere das Buch, das jemand anders gerade sieht, überhaupt nicht als Objekt. Zudem sehe ich ohnehin nur eine, vielleicht zwei Flächen des Buches und erbringe die kog- nitive Leistung möglicherweise gar nicht, mir die anderen Flä- chen vorzustellen, die überhaupt erst einen dreidimensionalen 57 Bildung und Alltäglichkeit Gegenstand konstituieren (vgl. Husserl 1995, 112). Cas- sirer steht jedenfalls in einer erkenntnistheoretischen Tradition, die sich an der Frage abgemüht hat, was an dem Gegenstand, den ich zu sehen meine, auf meine Leistung zurückzuführen ist und was die Materialität des Phänomens selbst dazu beiträgt (vgl. Bösch 2002). Die konstruktivistische Lösung, einfach von einer Herstellung zu sprechen, ist dem Problem ganz sicher nicht an- gemessen. Cassirers Begriff der symbolischen Form soll gerade diese Aporie überbrücken: Der Gegenstand, den ich sehe, ist weder bloß konstruiert, noch ist er einfach da. Wie die Form, die entsteht, wenn ich in den Sand hineingreife, forme ich den Gegenstand. Dies tue ich zum einen individuell, nutze dabei aber zugleich kulturelle also überindividuelle und in gewissem Maße überzeitlich vorhandene, also kulturelle Griffweisen (Spra- chen, symbolische Formen) und erzeuge ein Symbol, das andere Menschen durch seine prägnante Formung (vgl. Cassirer 2011; Shi 2016) dazu aufruft, es als Symbol einer symbolischen Form aufzufassen, z. B. also als ein Werk der Kunst, als ein Text der Wissenschaft, als eine Ikone der Religion oder als ein Modell oder Gerät der Technik. Von der Metapher zu einer erkenntnistheoretischen Argu- mentation kommen wir, wenn wir die Zeitlichkeit des Wahr- nehmens und Denkens bzw. aller geistigen Leistungen berück- sichtigen. Wilhelm von Humboldt hat das in aller Knappheit vorgeführt, man kann vielleicht sogar sagen: bewiesen. Er argu- mentiert, dass jedes Denken ein zeitlicher Vorgang ist, der aus mehreren Elementen besteht. Will ich einen Gedanken fassen, muss ich den Anfang des Gedankens festhalten können, um ihn überhaupt zu Ende führen zu können. Daher, so Humboldt, ist Denken sprachlich. Erst die Sprache ermöglicht dieses Fest- halten. Im Sprechen materialisiere (versinnliche, vergegenständ- liche, verräumliche) ich das Denken und ermögliche es dadurch 58 III. Thesen überhaupt erst. Ansonsten bliebe mir lediglich ein traumartiges Dahinfließen flüchtiger Bilder: 5. Kein Denken, auch das reinste nicht, kann anders, als mit Hülfe der allgemeinen Formen unsrer Sinnlichkeit geschehen; nur in ihnen kön- nen wir es auffassen und gleichsam festhalten. 6. Die sinnliche Beziehung der Einheiten nun, zu welchen gewissen Portionen des Denkens vereinigt werden, um als Theile andern Theilen eines grösseren Ganzen, als Objecte dem Subjecte gegenübergestellt zu werden, heisst im weitesten Verstande des Worts: Sprache. 7. Die Sprache beginnt daher unmittelbar und sogleich mit dem ers- ten Act der Reflexion, und so wie der Mensch aus der Dumpfheit der Begierde, in welcher das Subject das Object verschlingt, zum Selbst- bewusstseyn erwacht, so ist auch das Wort da – gleichsam der erste Anstoss, den sich der Mensch selbst giebt, plötzlich still zu stehen, sich umzusehen und zu orientieren (Humboldt 1908, 581f.). Cassirer macht dann später deutlich, dass nicht nur die Sprache eine Versinnlichung oder Materialisierung des Denkens (oder anderer kognitiver Leistungen) ermöglicht, sondern auch die Kunst, die Religion, die Wissenschaft usw. Zunächst habe ich also sinnliche Eindrücke, die in ihrer Fülle und Vergänglichkeit unfassbar sind. Wahrnehmung wird daraus, indem ich Formen, Gestalten, Strukturen zu fassen kriege. Wie tue ich das? Ich muss sozusagen Zugreifen, wobei dieses Greifen erst die Formen formt – wie wir das an dem Sandbeispiel gesehen haben. Hier sei noch einmal daran erinnert, dass ich nicht nur eine, sondern mehrere Griffweisen (symbolische Formen) zur Verfügung habe, mit denen ich Formen forme, die mit den jeweils anderen Griff- weisen nicht formbar, nicht einmal auffassbar sind. Anders ge- sagt – so ja der vorausgegangene Abschnitt: „Es gibt mehrere Dimensionen von Selbst- und Weltverhältnissen“. 59 Bildung und Alltäglichkeit 3. Symbolische Formen entstehen in symbolischen Formen durch symbolische Formung Was unter einer symbolischen Form zu verstehen ist, versucht Cassirer in und außerhalb seines dreibändigen Hauptwerks Philosophie der symbolischen Formen, das er zwischen 1923 und 1929 veröffentlicht hat, an vielen Stellen auf verschiedene Weise zu erläutern. Besonders oft wird in der Forschung auf folgende von Cassirer schon etwa zwei Jahre zuvor vorgelegte Definition verwiesen: Unter einer »symbolischen Form« soll jede Energie des Geistes ver- standen werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinne tritt uns die Sprache, tritt uns die my- thisch-religiöse Welt und die Kunst als je eine besondere symbolische Form entgegen. Denn in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt (Cassirer 1965[1921/1922], 175). Tatsächlich lässt sich aus diesem kurzen Abschnitt ganz Wesent- liches herauslesen. Man könnte sogar fast sagen, dass er in diesen wenigen Zeilen seine Philosophie der symbolischen Formen ab- steckt. Zunächst fällt auf, dass auf drei verschiedenen Ebenen von symbolischer Form gesprochen wird, zugleich aber auch die Beziehungen dieser Ebenen zueinander erläutert werden. Wenn Cassirer, erstens, von einer „Energie des Geistes“ spricht, bezieht er sich auf Wilhelm von Humboldts Definition der Sprache, die für ihn wesentlich „kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia)“ ist (Humboldt 1907, 46). Humboldt greift dabei wie- derum auf die antike philosophische Unterscheidung zurück, die im Lateinischen mit actus und potentia bezeichnet wird. Es geht also darum, dass Sprache – und das bezieht Cassirer auf alle an- 60 III. Thesen deren symbolischen Formen, also beispielsweise auch auf Kunst, Religion und Erkenntnis – nicht als abstrakte Gegenstände zu denken sind. Wenn man im Alltag davon ausgeht, die Sprache sei »da« und könne und müsse erlernt werden, setzt man eine Abstraktion (also einen latenten Pseudogegenstand) an die Stelle des Konkret-Wirklichen. Humboldt und Cassirer hingegen, und darin ist ihnen übrigens die moderne Sprachwissenschaft weit- gehend gefolgt, sehen Sprache bzw. Kunst, Religion oder Wis- senschaft als das, was man durch eine bestimmte Tätigkeitsform entstehen lässt. Das dann solcherart Entstandene ist mithin in gewisser Weise sekundär. Der Akt erzeugt die Potenz; im und durch das Tun entsteht zuallererst ein Möglichkeitsraum. Das Sprechen bringt die Sprache hervor. Im Falle der Kunst lässt sich das gut nachvollziehen: der erste Roman bringt erst das Medium der Romane hervor; der erste Punksong das Genre des Punk etc. Natürlicherweise muss man davon ausgehen, dass es ein Medium schon gibt, auf das die Form zugreift. Für den Fall der Kunst begründet Luhmann die umgekehrte These, nach der sich die Form das Medium erst schafft, in dem sie sich ausdrückt (vgl. Luhmann 2001a, 202f.). Wir werden allerdings sehen, dass die drei Ebenen nicht in dieser hier anklingenden Weise zu trennen sind, so dass man überhaupt erst sagen könnte, eine Ebene bringe die andere hervor. Mit der Tätigkeit geht nämlich notwendig – damit sind wir bei der zweiten Ebene – eine Materialisierung oder Versinnlichung ein- her. Es wird nämlich, wie Cassirer oben formuliert, „ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft“. Die »innerliche Zueignung«, d. h. die Verknüpfung und Durch- dringung eines Eindrucks mit dem materialisierenden bzw. ver- sinnlichenden Ausdruck wird ebenfalls in dem kurzen Abschnitt formuliert. Damit grenzt sich Cassirer von Zeichenvorstellungen ab, nach denen ein Zeichen für etwas ihm Äußerliches steht. Das 61 Bildung und Alltäglichkeit Symbol, wie Cassirer es versteht, ist gerade kein Wegweiser, der auf etwas zeigt und dabei eine bloß arbiträre (vgl. de Saussure 1967), d. h. über eine willkürliche Konvention zustande gekommene Beziehung damit herstellt. Im letzten Abschnitt sollte deutlich werden, dass die Materialisierung im Sinne eines »Greifens« dem dadurch Ge- oder Begriffenen überhaupt erst eine Form und damit Bedeutung verleiht. Natürlich verwenden wir beim Sprechen Zeichen, d. h. in der Regel Wörter, meistens bloß zeichenhaft als Wegweiser (denotativ). Wenn wir jemanden bitten, das Fenster zu schließen, geben wir diesen Wörtern in der Regel keine bewusste Gestaltung. Wir Formen das sinnlich wahr- nehmbare Symbol nicht, um unserer individuellen Idee des Fens- ters oder Schließens eine konkrete Gestalt zu verleihen, sondern benutzen ein Wort wie ein schon vorhandenes Etikett, das hin- reichend ist, um eine Verweisung zustande kommen zu lassen. Die Alltagssprache ist im Wesentlichen in diesem Sinne pragmatisch, d. h. verwendet Sprache rein instrumentell auf vorfindliche oder imaginativ in ihrer Bedeutung vorauszusetzende Dinge bezogen. Die Sprache wird also hier nicht individuell geprägt, und die Hörenden achten nicht auf Nuancen der Artikulation, des Klan- ges oder des Stils. Pointiert könnte man sagen: im Alltag spricht man nicht als Individuum, sondern »Man« spricht (Heidegger 2001, 167ff.). Wenn ich allerdings beispielsweise prüfe, wie sich eine alltägliche Aussage zu dem wissenschaftlichen Stand ver- hält, kommen die beiden Ebenen unmittelbar zusammen: Ich trete in den »geistigen« Tätigkeitsmodus ein, den Cassirer Erkennt- nis nennt und tue dies, indem ich wissenschaftlich formuliere, d. h. Zeichen in eine spezifisch wissenschaftliche Form bringe. Aber auch die bislang nicht genannte dritte Ebene ist schon im Spiel: der »wissenschaftliche Stand« und die Methoden der Prü- fung einer Aussage liegen in der von Cassirer oben genannten uns schon gegenübertretenden Welt bzw. symbolischen Form 62 III. Thesen schon vor. Ich bin nicht der erste, der in einer Erkenntnistätigkeit (Ebene 1) eine wissenschaftliche Formulierung niederschreibt (Ebene 2), sondern ich ich tue dies in einer Welt, die schon durch die Tätigkeiten und deren symbolische, d. h. für mich wahrnehm- bare Hervorbringungen geprägt ist. Diese schon vorliegenden Symbole und Praktiken machen es erheblich wahrscheinlicher, dass ich überhaupt erst den wissenschaftlichen Tätigkeitsmodus entdecke. Hier ist allerdings ein Missverständnis naheliegend: Wissenschaftliche Praktiken und Symbole liegen nämlich genau genommen gerade nicht schon vor. Sie sind darauf angewiesen, im Tätigkeitsmodus der Erkenntnis aufgefasst, d. h. in ihrer wissen- schaftlichen symbolischen Formung verstanden zu werden, was wiederum nur gelingt, wenn dieses Verstehen sich selbst mate- rialisiert, also symbolische Formen (formulierte Gedanken etc.) hervorbringt. Mathematische oder chemische Formeln sind für ein kleines Kind keine wissenschaftlichen symbolischen Formen. Aber auch sakrale Gegenstände und Praktiken oder Kunstwerke (Ebene 2) zeigen sich als solche nur, wenn ich eine entsprechende gläubige, also auf Transzendenz oder das Sakrale gerichtete Ein- stellung einnehme (Ebene 1), was mir wiederum kaum gelingen kann, wenn ich nicht schon auf eine gewisse Vertrautheit mit reli- giösen Welten und deren schon vorliegenden Symbolen im Sinne einer kulturellen Welt der Religion (Ebene 3) zurückgreifen kann. 4. Transformatorische Bildungsprozesse finden in symbolischen Formen statt Wenn ich eine Erfahrung mit der Welt mache, etwas wahrnehme, handle oder kommuniziere, gibt es verschiedene Möglichkeiten, dies pädagogisch zu deuten: Lerne ich etwas? Findet ein Bildungs- prozess statt, entwickele ich mich? Nach dem Selbstbildungsan- satz beginnt Bildung nicht nur „mit der Geburt“ (Schäfer 2003), 63 Bildung und Alltäglichkeit sondern findet immer und überall statt. Es gilt geradezu als Kern kindheitspädagogischer Professionalität, diese Bildungsprozesse selbst in den – um es etwas polemisch zu sagen: banalsten Akti- vitäten und Situationen »aufzuspüren« und durch die gekonnte »Aufführung« von Beobachtung Bildungsprozesse als Gegen- stand (über deren »Realität« jenseits dieser Aufführungen nichts gesagt werden kann) zu konstituieren (vgl. Schulz 2013). Welche Begriffe von Bildung und Lernen liegen hier zugrunde? Wenn wir an die verschiedenen Bildungsbegriffe denken, die in der Pädagogik aktuell und in deren Geschichte kursieren, kann man zu dem Schluss kommen, es gebe keinen klaren Begriff von Bildung, es gebe viele Begriffe und jeder und jede habe eine Mei- nung dazu. Ein Bildungsbegriff ist allerdings nicht ein mehr oder weniger passendes oder zutreffendes Etikett für einen vermeint- lichen Gegenstand »Bildung«. Vielmehr wird ein Bildungsver- ständnis durch die Begriffsbildung erst konturiert. Man muss also fragen, um welche Unterscheidung es dabei geht. Wir möchten das erst einmal am Begriff der Erziehung vorführen. Heute wird Erziehung, einer Formulierung von Niklas Luhmann folgend von Sozialisation unterschieden. Das unterscheidende Kriterium, die spezifische Differenz, ist hierbei die „Absicht zu erziehen“ (Luh- mann 2002a, 58). Während also bei der Sozialisation Menschen durchaus in verschiedener Weise aufeinander einzuwirken ver- suchen, liegt nur bei der Erziehung der Fall vor, dass jemand für sich dabei eine »gute Absicht« im Hinblick auf die Person des Anderen in Anspruch nimmt. Der Erziehungsbegriff wird hier also sehr klar definiert, indem er von Sozialisation unterschieden wird und zugleich das Kriterium des Unterschieds benannt wird. Wovon wollen wir Bildung unterscheiden? Hier gibt es ver- schiedene Möglichkeiten und damit: verschiedene Bildungs- begriffe, die deswegen noch lange nicht unpräzise oder relativ werden müssen. Ganz einfach und klassisch könnte man Bildung 64 III. Thesen von Erziehung unterscheiden. Eine Begriffsbildung ist nur sinn- voll, wenn sie zwei naheliegende Begriffe unterscheidet. Wenn ich also Bildung von Erziehung unterscheide unterstelle ich zu- nächst eine gemeinsame Domäne, d. h. einen abstrakteren Be- reich, innerhalb dessen sich beide befinden und durch Hinzu- ziehung einer spezifischen Differenz unterschieden werden können. Diese Domäne könnte das Ziel sein, „den Menschen als gesellschaftliches Wesen mit einer inneren, frei akzeptierten Form auszustatten, die zugleich eine Garantie dafür schafft, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse eine humane Ausrichtung gewinnen“ (Luhmann 2002a, 18). Im Hinblick auf dieses ge- meinsame Ziel lässt sich Erziehung und Bildung differenzieren, nämlich mit der spezifischen Differenz in der Sozialdimension. Während Erziehung diese Zielsetzung in einer asymmetrischen Beziehung (früher sagte man: Erzieher – Zögling) verfolgt, wird Bildung primär selbstbezüglich gedacht. Natürlich können (wir haben oben in Auseinandersetzung mit Hegel gesehen: müssen) sich Bildungsprozesse sozial, d. h. in Interaktion und Kommu- nikation mit Anderen vollziehen – die eigentlich »bildsame« Aktivität ist allerdings dann die selbstbezügliche Eigenaktivität des Subjekts. Diese Unterscheidung lässt sich zuspitzen, wenn man die erzieherische Sozialform in ihrer Machtasymmetrie und dem damit einhergehenden Zwang gegen die Freiheitlichkeit der Selbstbildung positioniert. Auch wenn jeder Bildungsbegriff die eigene Unterscheidung zum Erziehungsbegriff angeben können muss, scheint uns der Bildungsbegriff, der diese zur konstitutiven Differenz macht, nämlich der Selbstbildungsbegriff, vergleichs- weise wenig leistungsfähig. Besser gesagt: er ist weder theoretisch noch praktisch prägnant, bringt kaum weitere relevante Unter- scheidungen ins Spiel, lässt wenige Analysen zu etc. Dass Bildung sich ereigne, wenn auf Erziehung verzichtet werde, ist eine Be- hauptung, die sich vor allem deswegen aufrechterhalten lässt, da 65 Bildung und Alltäglichkeit Bildung im Unterschied zu Erziehung nicht in Interaktion sicht- bar wird. Jede noch so banale Aktion, jede Sinneswahrnehmung des Kindes – kann man dann sagen – wird zu einem Bildungs- moment solange erzieherische Intervention nicht erfolgt. Im Übrigen sollte es der Anspruch jedes Bildungsbegriffs sein, die jeweils anderen Bildungsbegriffe abbilden zu können, d. h. ihnen einen Platz im eigenen Begriffsinventar zuweisen zu können. Der sogenannte transformatorische Bildungsbegriff, der Bildung von Lernen unterscheidet, könnte dieses Potenzial haben. Die Stärke des hier vorgestellten transformatorischen Bildungsbegriff ist, dass er seine Außenseite, nämlich Lernen, nicht im Dunkeln lässt oder zur eigenen Aufwertung verzerrt. Dies könnte man nämlich vom Selbstbildungsbegriff sagen, dessen Glanz durch den Schatten- wurf auf den Erziehungsbegriff erkauft wird, der dadurch als reine Negativprojektion verwendet wird. Auch der Kompetenz- und der Ausbildungsbegriff muss nicht selten in dieser Weise herhalten. Wenn sich der transformatorische Bildungsbegriff von Lernen abgrenzt und dadurch definiert, dann also nicht, indem Lernen abgewertet wird. Der transformatorische Bildungsbegriff, der von Kokemohr entworfen wurde und an dem v. a. Marotzki und Koller weitergearbeitet haben, betrachtet Bildungsprozesse als eine be- sondere Klasse von Lernprozessen, die sich paradoxerweise bzw. dialektisch von Lernprozessen unterscheiden, d. h. abheben: Den Ausgangspunkt von Kokemohrs Überlegungen stellt die Unter- scheidung zwischen Lern- und Bildungsprozessen dar (vgl. etwa Koke- mohr 1992). In informationstheoretischer Terminologie formuliert lässt sich Lernen demzufolge als Prozess der Aufnahme, Aneignung und Ver- arbeitung neuer Informationen verstehen, bei dem jedoch der Rahmen, innerhalb dessen die Informationsverarbeitung erfolgt, selber unange- tastet bleibt. Bildungsprozesse sind in dieser Perspektive dagegen als Lernprozesse höherer Ordnung zu verstehen, bei denen nicht nur neue Informationen angeeignet werden, sondern auch der Modus der Infor- mationsverarbeitung sich grundlegend ändert (…) (Koller 2011, 15f.). 66 III. Thesen Wenn man von einem informationstheoretischen Lernbegriff spricht, liegt diesem konstitutiv die Unterscheidung von Informa- tion und Redundanz zugrunde – das ist oben mit „neuer Infor- mation“ gemeint. Danach ist nicht jede Erfahrung, nicht jedes Erleben oder Handeln zugleich ein Lernen. Information ist „a dif- ference which makes a difference“ (Bateson 1972, 315). Was das be- deutet, lässt sich nun in Abhebung der anderen Begriffe darstellen. Redundanzerfahrung, Lernen, subsumtionsresistente Erfahrung, transformatorische Bildung Redundanzerfahrungen sind Erfahrungen, die nicht einmal eine Assimilation im Sinne einer „integration of any sort of reality into a structure“ (Piaget 1964, 185) erfordern. Es geht um Bewusst- seinsakte, die zwar eine Erfahrung herstellen, indem sie etwas als gegenständlich setzen, dabei aber keine Reibungen und Irri- tationen verarbeiten. In jeder gegebenen Situation nehmen wir ein große Zahl an Gegenständen wahr, die wir allerdings weder als solche bewusst voneinander abheben müssen noch zu irgend etwas in Beziehung setzen. Die Stühle in einem Seminarraum nehme ich auf diese Weise wahr. Die Auffassung dieser Stühle erfordert keine nennenswerte Assimilationsleistung, es sei denn, man sucht nach einer Sitzgelegenheit, findet keinen freien Stuhl und ist genötigt, Gegenstände, die nicht auf den ersten Blick als Stühle im Wahrnehmungsfeld auftauchen, als Sitzgelegenheiten zu kategorisieren. Hierbei kommen Reibungen, Irritationen, Am- bivalenzen ins Spiel – eine Assimilation (Angleichungsbemühung von etwas in ein Schema, eine Kategorie, eine »Schublade«) des Gegenstands in die Kategorie Stuhl, bzw. Sitzgelegenheit kann dabei als Lernprozess verstanden werden. Dass man sich z. B. auf einen bestimmten Tisch am Raumende gut setzen kann, kann man beim nächsten Mal nicht mehr »lernen«. Die Information ist redundant geworden – sie macht keinen Unterschied mehr. 67 Bildung und Alltäglichkeit Sie »ist« noch ein Unterschied, wenn ich z. B. den Tisch von an- dere Tischen, auf die ich mich wegen ihrer Rollen nicht so gut setzen kann, unterscheide. Aber diese Folge-Unterscheidung der Unterscheidung ist »alt« – macht also keinen Unterschied im informationstheoretischen Sinne mehr. Damit wir uns in unserer Lebenswelt bewegen können, müssen wir im Grunde Lernprozesse weitgehend ausschalten. Wir sind darauf angewiesen, fast alle Unterscheidungen einfach hinzunehmen oder auszublenden, da wir nur hoch selektiv sehr wenige Unterscheidungen einen Unterschied machen lassen können. Denn das heißt: sie informativ werden zu lassen und zuzulassen, dass wir uns auf sie einstellen und daran arbeiten, sie in unsere Strukturen (Schemata, Begriffe, Haltungen, Wissens- bestände, Weltbilder etc.) einzubauen (das entspricht Assimila- tion im Piaget’schen Sinne). Nun kann es aber passieren, dass diese Assimilationsleistung nicht gelingt. Man kann dann mit Kokemohr von widerständigen oder subsumtionsresistenten Er- fahrungen sprechen (vgl. Kokemohr 2007, 21). Hier wird man mit Neuem konfrontiert, das sich nicht assimilieren lässt, das also auf irgendeine Weise den eigenen Erfahrungsstrukturen so fremd ist, dass es sich nicht verstehen oder zuordnen lässt. Möglich sind dann ein völliges Ausblenden (Ignorieren, Verdrängen, Nicht- Wahrnehmen) oder eine Assimilation von Teilaspekten. Diese Möglichkeiten sind aus einer ökonomischen Perspektive sinn- voll, wenn nicht sogar geboten. In alltäglichen Zusammenhängen ist es kaum denkbar, sich auf widerständige Erfahrungen anders einzulassen. Dies würde nicht nur Zeit in Anspruch nehmen, sondern ein Heraustreten aus eben diesen Zusammenhängen er- fordern, bzw. auslösen. Der Mensch, der eine alltägliche Haltung zur Welt einnimmt, „hat sich und das, was ihn umgibt, soweit zu erkennen, als er es für nötig hält, um sich möglichst störungsfrei zurechtzufinden“ (Wienbruch 1993, 114). Optimal sind hierbei 68 III. Thesen Redundanzerfahrungen. Lernen, weil aufwändig und die all- täglichen Abläufe störend, wird wenn möglich vermieden und widerständige Erfahrungen, die nicht einmal durch Lernen be- wältigt werden können, kommen im Alltag gar nicht in Betracht. Gleichwohl gibt es die stets unwahrscheinliche Möglichkeit, sich auf widerständige Erfahrungen so einzulassen, dass man Irrita- tionen sozusagen internalisiert. Man hinterfragt sich, lotet sich selbst aus und ändert sich sogar bei der Suche nach einem Ver- ständnis dessen, was einem widerfahren ist: In früheren Arbeiten (vgl. Kokemohr 1989; Prawda/Kokemohr 1989; Kokemohr 2000) habe ich vorgeschlagen, Bildung als Prozess aufzu- fassen und als Prozess der Be- oder Verarbeitung solcher Erfahrungen zu untersuchen, die der Subsumtion unter Figuren eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs widerstehen. Der Vorschlag lässt sich auch so formulieren, dass Bildung der Prozess der Bezugnahme auf Fremdes jenseits der Ordnung ist, in deren Denk- und Redefiguren mir meine »Welt« je gegeben ist. Widerständige Erfahrungen können in Texten, Bildern oder anderen Formen auftreten. Von Bildung zu sprechen sehe ich dann als gerechtfertigt an, wenn der Prozess der Be- oder Verarbeitung subsumtionsresistenter Erfahrung eine Veränderung von grundlegenden Figuren meines je gegebenen Welt- und Selbstentwurfs einschließt. Weil aber stets nahe liegt, dass eingelebte Figuren durch Abdunkelung, Abwehr, Negation, Diffamierung oder Umdeutung textuell-symbolischer oder bildhaft-imaginärer Einbrüche aufrecht erhalten werden, ist mit diesem Bildungsbegriff vorausgesetzt, dass nicht jede subsumtionsresistente Erfahrung in einen Bildungsprozess mündet (Kokemohr 2007, 21). Im Zusammenhang mit dem Begriff der Bildungszugänge ist es nun wesentlich, dem Hinweis darauf nachzugehen, dass wider- ständige Erfahrungen in verschiedenen Formen auftreten. Der Begriff des Bildungszugangs arbeitet heraus, dass diesen Formen auch subjektive Zugangsweisen entsprechen. Eine Formulierung ist, dass Bildungsprozesse in verschiedenen Medien stattfinden, eine andere, dass es verschiedene symbolische Formen der Selbst- und Welterschließung gibt. 69 Bildung und Alltäglichkeit Strukturmomente transformatorischer Bildungsprozesse Ein transformatorischer Bildungsprozess weist unter Berück- sichtung seiner Medialität bzw. seiner symbolischen Form also folgende Strukturmomente auf: (1) Irritation: Was eine Irritation ist, lässt sich nur nachträglich (rekursiv) in einem Erfahrungsprozess nachvollziehen. Zunächst muss etwas aus einem »Rauschen«, aus einem »Welthintergrund« heraus Gestalt annehmen. Man richtet seine Aufmerksamkeit auf etwas, das zwar als ein Etwas erkennbar ist, d. h. dem man Aufmerk- samkeit widmet und eine Gegenständlichkeit verleiht, das aber nicht als bestimmtes Etwas (ein Dieses oder Jenes) aufgefasst werden kann. Man weiß nicht, »was es ist«, geht aber davon aus, dass es »etwas ist«. Wenn wir wahrnehmen, bleibt allerdings das allermeiste Hintergrund, wird also nicht gegenständlich, nicht thematisch, fällt nicht auf, zieht keine Aufmerksamkeit auf sich. Tritt etwas aus diesem Hintergrund heraus – man sollte vielleicht sagen: lasse ich etwas durch meine Aufmerksamkeit und struk- turierende Auffassung (Apperzeption) aus dem Hintergrund heraustreten – kann ich es entweder a) als Bestimmtes (wieder)erkennen (= Redundanzerfahrung) [Bsp.: Ich erkenne die Wörter der mir vertrauten Sprache im Alltag, ohne durch dieses Wiedererkennen etwas zu lernen oder deren Bedeutung zu verändern; genauso verhält es sich mit den mich umgebenden Alltagsgegenständen], b) als neues Element einer schon mir bekannten Kategorie auf- nehmen (= Lernen/Information) [Bsp.: Ich sehe zum ersten Mal eine bestimmte Tierart, deren Zuordnung zu Tieren im Allgemeinen oder einer bestimmten 70 III. Thesen Gattung im Besonderen mir gelingt und mich daher nicht irritiert. Allerdings wäre auch die Einführung einer neuen Gattung oder Kategorie welcher Form auch immer in mein Repertoire bzw. meine Taxonomie ein solches Lernen, selbst wenn ich dadurch bestimmte Konzepte verändere oder er- weitere. Zu einer Neuformierung meines Selbst- und Welt- verständnisses, d. h. einer Neupositionierung meines In- der-Welt-Seins und dessen Auffassungsweisen führt dieses Lernen nur in Ausnahmefällen], c) verdrängen, ausblenden, ignorieren [Bsp.: In einem politischen Gespräch werde ich mit einer Per- spektive konfrontiert, die mit meinem Weltbild inkompatibel ist, die ich aber in diesem Moment nicht widerlegen kann bzw. die mir sogar plausibel erscheint, ohne dass ich eine mir plausiblere Alternative bieten kann. Ich denke nicht weiter darüber nach, prüfe es nicht und bleibe bei meiner ursprüng- lichen Sichtweise als sei nichts geschehen], d) als potentielle Information ansehen, die ich noch nicht ver- arbeiten kann (Irritation). Eine Irritation erfordert also die Aufrechterhaltung scheiternder Verstehensversuche aufgrund der Unterstellung, etwas Nicht-Verstandenes sei prinzipiell ver- stehbar und verstehenswert. [Bsp.: In dem oben genannten Gespräch entschließe ich mich, weiter darüber nachzudenken, zu recherchieren und weitere Gespräche zu führen, weil ich herausfinden will, was an der neuen oder meiner alten Sichtweise – die schließ- lich nicht zusammen passen – nicht stimmt. Ich habe »den Fehler« noch nicht entdeckt, also noch nicht »gelernt«. Möglicherweise endet diese Auseinandersetzung mit einem Lernen, indem mir z. B. der Fehler in der mich irritierenden Argumentation klar wird. Möglicherweise erkenne ich aber 71 Bildung und Alltäglichkeit auch, dass ich meine Sicht auf die Welt und mich selbst nicht aufrecht erhalten kann, mich also ändern muss. Bis dahin bin und bleibe ich irritiert …]. (2) Aktuelles Selbst- und Weltverhältnis Was irritiert, kann nur in Relation zu dem System, das eine Er- fahrung macht, bestimmt werden. Nichts ist an sich irritativ. Will man die Irritation als möglichen Ausgangspunkt von Bildungs- prozessen anderer Menschen nachvollziehen und ggf. didaktisch gestalten oder wahrscheinlicher machen, muss man etwas über die Situation dieser Menschen wissen. Nach Sartre besteht die Si- tuation in einem Verhältnis von Faktizität und Freiheit (vgl. Sartre 1994, 833ff.). Mit Faktizität ist alles gemeint, das zugleich nicht-notwendig, d. h. kontingent ist und wirklich; alles, was an- ders sein könnte, aber (genau und konkret) so ist, wie es ist. Ich hätte an einem anderen Ort, als Kind anderer Eltern, mit einem anderen Körper, in einer anderen historischen Situation aufwach- sen können. In jedem Fall hätte aber jede dieser Bestimmtheiten oder Gegebenheiten, die ich mir nicht aussuchen konnte, ganz konkret sein müssen. Niemand wird also an »irgendeinem« Ort zu »irgendeiner« Zeit geboren, sondern an genau einem Ort zu einer exakten Zeit, ohne dass er oder sie einen Grund dafür ange- ben könnte. Jeder Moment ist voll von derartigen Faktizitäten, die meine Handlungs- und Wahlmöglichkeiten scheinbar begrenzen aber zugleich auch öffnen. Eine Situation verstehe ich, wenn ich ermessen kann, was als faktisch gegeben meiner Freiheit gegen- übersteht. Sartre macht aber deutlich, dass es sich bei dem Verhält- nis aus Faktizität und Freiheit nicht um einen objektiven Sachver- halt handelt. Ganz im Gegenteil »wähle« ich nach Sartre, wie ich mich zu meiner eigenen Freiheit und zum Gegebenen verhalte. Der Mensch wird „nicht in eine unveränderliche Bestimmung hi- neingeboren, sondern verhält sich zu seinem Sein, indem er sich 72 III. Thesen wählt; er existiert als »Entwurf« seiner selbst“ (Dikovich 2011, 248). So kann ich mich als jemand wählen, die oder der Widrig- keiten beklagt, überwindet, abbaut oder vermeidet. Sartre bring das Beispiel einer Wanderung mit Freunden, bei der er selbst die vermutlich von allen geteilte Müdigkeit in anderer, nämlich un- erträglicher Weise erlebt. Er führt dies auf ein je individuelles Ver- hältnis zum eigenen Körper zurück (vgl. Sartre 1994, 793ff.). Dieses Verhältnis ist für ihn die Manifestation vieler Handlungen bzw. Handlungsentscheidungen, die letztlich aus einer initialen Wahl seiner selbst hervorgehen. Er hat sich durch seine Handlun- gen als jemand entworfen, der keine Freude bei der Überwindung körperlicher Grenzen erlebt und keinen diesbezüglichen Ehrgeiz empfindet. Entscheidend ist nun, dass ein »Durchhalten« bei der Wanderung zwar möglich wäre, aber in Konflikt mit dieser Urwahl geriete und erfordern würde, „die organische Totalität der Entwürfe, die ich bin, spürbar zu modifizieren“ (ebd., 787). Wahlen dieser grundsätzlichen Art, die im Grunde ja so etwas wie eine Persönlichkeit oder einen Charakter bestimmen, trifft man natürlich nicht täglich. Man hat sich immer schon gewählt und kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt aus dieser Wahl aussteigen, in eine andere Richtung gehen und dadurch alle vergangenen Fakti- zitäten bzw. mein Verhältnis zu diesen, das diese ja erst bestimmt, »nichten«. Diese Urwahlen könnte man als Transformationen im Sinne der transformatorischen Bildungstheorie verstehen, hätte dann aber für einen besonders hochschwelligen Begriff optiert. Bildung wäre dann etwas, das sich nur sehr selten ereignet. (3) Katalytisches Moment Weshalb lässt man sich in manchen Momenten auf Irritationen ein? Dies heißt ja – wie gesehen – eine Aufrechterhaltung min- destens zeitweise scheiternder Verstehensversuche. Wie kommt es zu Momenten, in denen man Irritationen nicht externalisiert, 73 Bildung und Alltäglichkeit sondern internalisiert? Das heißt, man sieht das Irritierende nicht allein als ein Neues bzw. Ungewöhnliches und als solches Begrenztes, sondern ganz im Gegenteil als Hinweis darauf, dass sich in der Richtung der Irritation grundsätzlich Anderes und neue Bedeutungsschichten der Welt erschließen lassen könnten. Dies war bislang nicht sozusagen objektiv verborgen, sondern subjektiv: man hat bestimmte Dimensionen der Welt nicht betre- ten und die nur darin möglichen Bedeutungen und Erfahrungen nicht gemacht. Solche Entdeckungen oder Umwendungen sind in den Alltag nicht integrierbar und es ist aus der alltäglichen Logik heraus nicht klar, ob sie sich lohnen oder vielmehr (zu) riskant sind. Es spricht also vieles dagegen, sich Irritationen auf diese Weise zuzuwenden. Wahrscheinlicher wird das Sich-Ein- lassen oft durch Faktoren oder Kontexte, die mit dem, worum es geht, gar nichts zu tun haben. Unter einem Katalysator bzw. einem katalytischen Moment versteht man etwas, das einen Pro- zess wahrscheinlicher macht oder beschleunigt, ohne in diesem Prozess selbst mitzuwirken bzw. in ihm verändert zu werden. Typische Beispiele wären eine bestimmte Atmosphäre oder die Nähe zu Ereignissen, die staunen lassen und somit aus dem Alltag herausreißen. In unserem Petrarca-Beispiel war das wohl die kör- perliche Anstrengung des Bergaufstiegs und der dann besonders intensiv erlebte Ausblick. Es können auch Zufälligkeiten sein, die von den Personen als Zeichen oder Fügungen interpretiert wer- den. In jedem Fall ist von katalytischen Momenten zu sprechen, wenn die Irritations- und Verarbeitungsbereitschaft einer Person durch äußere Faktoren erhöht wird; Faktoren also, die weder mit der Irritation selbst oder der Art von deren Verarbeitung zusammenhängen. Da katalytische Momente auch in der Form vorausgegangener dramatischer oder katastrophaler Ereignisse bestehen können, kommt es leicht zur (Fehl)Deutung dieser als Ursache der Irritation oder des damit beginnenden transforma- 74 III. Thesen torischen Bildungsprozesses. Katalytische Momente sind sicher- lich nicht immer auszuweisen – wenn, dann allerdings niemals in der Form von verursachenden Faktoren. Der Begriff des Kata- lytischen Moments kommt übrigens in der transformatorischen Bildungstheorie nicht explizit vor, scheint aber unseres Erachtens zu deren Verständnis hilfreich, wenn nicht sogar notwendig. (4) Formen der Verarbeitung Kommt es also, nicht zuletzt aufgrund des katalytischen Mo- ments, zu einer Auseinandersetzung mit einer Irritation, die nicht in Lernen überführt werden kann, wird man aus dem Alltag herausgerissen. Der alltägliche Zugang zu der Erfahrung, der diese in ihrer Nützlichkeit und Bewandtnis für das eigene Fortkommen erschließt, weicht anderen Zugängen, die andere Bedeutungsebenen des Erfahrenen aufmachen. Im Hinblick auf erkenntnismäßige, ästhetische und religiöse Zugänge wird das so- fort ersichtlich. Jedes beliebige Ereignis, d. h. jede Erfahrung lässt sich auf diese und andere Weisen deuten. Es gibt also nicht schon religiöse, wissenschaftliche oder künstlerische Gegenstände oder Erfahrungen, die dann entsprechend in diesen Modi aufgefasst werden. Unter symbolischen Formen sind eben Zugangsweisen, bzw. Weisen der Welterschließung und des In-der-Welt-Seins zu verstehen, die der Welt eine je eigene Dimension verleihen, d. h. eine Bedeutungsschicht, die potentiell jederzeit an jeder Erfah- rung »aufgemacht« werden kann: Es ist ein gemeinsames Charakteristikum aller symbolischen Formen, daß sie auf jeden beliebigen Gegenstand angewendet werden können (Krois 1988, 49). Durch diese Einschränkung gelingt es Krois, eine sinnvolle De- finition der symbolischen Formen zu benennen, nach der „etwa »das Mineralogische« oder »das Arabische« keine symboli- 75 Bildung und Alltäglichkeit schen Formen [sind], wohl aber »Wissenschaft« oder »Sitte und Recht«“ (ebd., 19), da es „keine mineralogische Interpretation von allem (…), wohl aber eine irgendwie geartete wissenschaft- liche“ (ebd., 19) geben könne. Ein scheinbar religiöses Ereignis wie eine Predigt wird unter einer wissenschaftlichen Betrachtung zu einem Untersuchungs- gegenstand und unter ästhetischer Betrachtung vielleicht zu einer Performance. Jedenfalls ist es ein Missverständnis, wenn man eine Irritation schon für eine religiöse, wissenschaftliche oder künstlerische Erfahrung hält – sie wird dies erst, wenn man sie auf diese Weisen verarbeitet. Wenn ich beispielsweise von einer Musik aus der Bahn geworfen werde, könnte ich diesen Sachverhalt wissenschaftlich ergründen oder darin das Werk des Heiligen Geistes erkennen (man denke an Kleists Heilige Cäcilie) und muss nicht unbedingt selbst zu einer künstlerischen Ver- arbeitung dieser Irritation übergehen. Die Theorie der symbo- lischen Form macht deutlich, dass eine bedeutungserzeugende Auseinandersetzung stets darauf angewiesen ist, die eigenen Ver- stehensprozesse auszudrücken, ihnen also eine Form zu geben, die die Bedeutung erst prägt und realisiert. Wenn wir den Ver- arbeitungsprozess der irritativen Erfahrung verstehen wollen, müssen wir die Eigenarten der symbolischen Formen heraus- arbeiten. Es besteht nicht unbedingt ein Zusammenhang – auf jeden Fall kein kausaler – aus der Irritation und der Form der Verarbeitung. Gleichwohl wird rückwirkend die Bedeutung der Irritation durch die symbolische Formung, d. h. Verarbeitungs- weise hergestellt. Pädagogisch entscheidend ist nun, dass wir die Differenziertheit von Ausdrucks- und Verstehensmöglichkeiten in und durch symbolische Form(ung) in den Blick nehmen. Während ich eine Erfahrung beispielsweise in der Alltagssprache nur ganz grob ausdrücken und damit auch mir aneignen kann, bietet das wissenschaftliche Denken, die künstlerische Praxis und 76 III. Thesen die religiöse Erfahrung nicht zuletzt durch das schon kulturell errungene Reservoir an Symbolen (die ich gleichwohl nicht ein- fach instrumentell verwende, sondern interpretiere, mithin ver- ändere) derart feine Unterscheidungsmöglichkeiten an, dass es mir gelingen kann, mich von anderen Menschen (und mir selbst, wie wir im Kapitel II gesehen haben) in ihnen zu unterscheiden und somit zu einem Individuum zu werden. 77